Komplexe Abhängigkeiten machen psychisch krank

http://www.bptk.de/aktuell/einzelseite/artikel/komplexe-abh.html (2010-03-23):

23. März 2010
Komplexe Abhängigkeiten machen psychisch krank
BPtK-Studie zu psychischen Belastungen in der modernen Arbeitswelt

Metaanalysen belegen, dass Erwerbstätige bei der Kombination aus hohen Anforderungen (z. B. Zeitdruck, Komplexität der Aufgaben, Verantwortung) und geringem Einfluss auf den Arbeitsprozess überdurchschnittlich häufig psychische Erkrankungen entwickeln. Weitere Studien zeigen eine Häufung psychosomatischer Beschwerden, wenn ein gravierendes Ungleichgewicht zwischen Einsatz im Beruf (“Verausgabung”) und Entlohnung sowie Anerkennung (z. B. Gehalt, Wertschätzung der Person, Aufstiegschancen, Arbeitsplatzsicherheit) besteht. Neueste Studien weisen nach, dass eine hohe Arbeitsintensität (Zeitdruck, Störung des Arbeitsablaufs und wenig Möglichkeiten, Aufgaben an andere zu delegieren) das Risiko erhöht, an einer Depression zu erkranken.

Bildschirmarbeitsverordnung

Eine Arbeitnehmervertretung fragte eine Arbeitgeberin,

wie bei der Beurteilung der Arbeitsbedingungen bei Bildschirmarbeitsplätzen die Sicherheits- und Gesundheitsbedingungen insbesondere hinsichtlich psychischer Belastungen ermittelt und beurteilt werden, sowie welche konkreten Prozesse und Beispiele es dazu im Betrieb gibt.

Es geht längst nicht mehr nur um technische Parameter wie Bildschirmaufösingen, Bildwiederholfrequenzen, Bildschirmdiagonalen usw., sondern generell um die von Benutzerschnittstellen ausgehend auf Menschen wirkende Risiken, physische und psychische Schäden zu erleiden:

§ 3 Beurteilung der Arbeitsbedingungen:
Bei der Beurteilung der Arbeitsbedingungen nach § 5 des Arbeitsschutzgesetzes hat der Arbeitgeber bei Bildschirmarbeitsplätzen die Sicherheits- und Gesundheitsbedingungen insbesondere hinsichtlich einer möglichen Gefährdung des Sehvermögens sowie körperlicher Probleme und psychischer Belastungen zu ermitteln und zu beurteilen. 

Diese Bestimmung ermöglicht es, in Unternehmen mit Bildschirmarbeitsplätzen in einfacher Weise zu überprüfen, ob sie sich an die Regeln des Arbeitsschutzes halten. Anhand der Bildschirmarbeitsverordnung lässt sich konkret feststellen, welche Einstellung eine Arbeitgeberin zum Arbeitsschutz hat. Das betrifft nicht nur Bildschirmarbeitsplätze.
Gibt es keine Beurteilung psychischer Belastungen, begeht die Arbeitgeberin zunächst eine Ordnungswiedrigkeit. Wird in ihren Gefährdungsbeurteilungen sogar behauptet, dass die Bildschirmarbeitsverordnung eingehalten werde, obwohl es keine mitbestimmt geregelten Beurteilungen psychischer Belastungen gibt, könnte eine vorsätzliche Falschdarstellung in der Gefährdungsbeurteilung vorliegen.
Es ergäbe sich dann die Frage, wie sorgfältig die Gewerbeaufsicht Betriebe überprüft, in denen solche Falschdarstellungen in die Gefährdungsbeurteilung eingetragen werden können.
Natürlich ist es in einem solchen Fall auch möglich, dass Arbeitnehmervertretungen ihre in § 80 Abs. 1 des Betriebsverfassungsgesetzes vorgegebene Pflicht missachtet haben, darüber zu wachen, dass die zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Gesetze, Verordnungen und Unfallverhütungsvorschriften durchgeführt werden. Zudem könnte die Arbeitnehmervertretung § 89 des Betriebsverfassungsgesetzes missachtet haben.
Vor Allem hat der Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 des Betriebsverfassungsgesetzes, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht, bei Regelungen über die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie über den Gesundheitsschutz im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften oder der Unfallverhütungsvorschriften mitzubestimmen. Er darf es also nicht der Arbeitgeberin überlassen, sich schnell einmal einen Gefährdungsbeurteilungsprozess auszudenken, denn es gibt keine gesetzlichen Regelungen zur konkreten Gestaltung der Gefährdungsbeurteilung und zur Umsetzung der Bildschirmarbeitsverordnung im Betrieb.
Wie “nett” darf die Arbeitnehmervertretung sein? Weil es kein Mitbestimmungsrecht gibt, sondern eine Mitbestimmungspflicht, kann es sich die Arbeitnehmervertretung nicht entgegenkommenderweise aussuchen, ob sie fehlende oder sogar unrichtige Gefährdungsbeurteilung toleriert, sondern sie hat die Arbeitgeberin notfalls zur Pflichterfüllung zu zwingen, wenn sie im Arbeitsschutz Gefährdungen nicht oder dokumentiert oder falsche Angaben macht. Eine fehlende oder sogar nicht wahrheitsgemäße Beurteilung von Gefährdungen in der Dokumentation des Arbeitsschutzes (§ 6 des Arbeitsschutzgesetzes) erhöht selbst schon das Gefährdungsrisiko.
Also an die Arbeit, liebe Arbeitnehmervertreter!
Übrigens, nicht ernst genommen wird gerne auch der Anhang zur Bildschirmarbeitsverordnung. Auszug:

„Die Grundsätze der Ergonomie sind insbesondere auf die Verarbeitung von Informationen durch den Menschen anzuwenden.

  • Bei Entwicklung, Auswahl, Erwerb und Änderung von Software sowie bei der Gestaltung der Tätigkeit an Bildschirmgeräten hat der Arbeitgeber den folgenden Grundsätzen insbesondere im Hinblick auf die Benutzerfreundlichkeit Rechnung zu tragen:
    • Die Software muß an die auszuführende Aufgabe angepaßt sein.
    • Die Systeme müssen den Benutzern Angaben über die jeweiligen Dialogabläufe unmittelbar oder auf Verlangen machen.
    • Die Systeme müssen den Benutzern die Beeinflussung der jeweiligen Dialogabläufe ermöglichen sowie eventuelle Fehler bei der Handhabung beschreiben und deren Beseitigung mit begrenztem Arbeitsaufwand erlauben.
    • Die Software muß entsprechend den Kenntnissen und Erfahrungen der Benutzer im Hinblick auf die auszuführende Aufgabe angepaßt werden können.
  • Ohne Wissen der Benutzer darf keine Vorrichtung zur qualitativen oder quantitativen Kontrolle verwendet werden.“

Siehe auch: http://www.ergonomie-leitfaden.de/verordnung.htm
Die Wichtigkeit der Bildschirmarbeitsverordnung ist vielleicht einer der Gründe für den Versuch der “Stoiber-Kommission”, dieses wertvolle Instrument des Arbeitsschutzes auf europäischer Ebene zu schwächen.
Die Frage der Arbeitnehmervertretung an die Arbeitgeberin ganz am Anfang des Blog-Artikels ist noch offen. Was meinen Sie: Ist es möglich, dass die Arbeitgeberin keine Antwort gab, aber in der Gefährdungsbeurteilung für die Arbeitsplätze vieler Mitarbeiter behauptete, dass die Bildschirmarbeitsverordnung eingehalten werde? Lagen Belege vor, dass bei der Beurteilung der Arbeitsbedingungen bei Bildschirmarbeitsplätzen die Sicherheits- und Gesundheitsbedingungen insbesondere hinsichtlich psychischer Belastungen ermittelt und beurteilt werden, sowie konkreten Prozesse und Beispiele dazu im Betrieb dokumentiert sind? Glauben Sie, dass die Gewerbeaufsicht das geprüft hat?
 
Siehe auch:

Psychosoziale Kosten turbulenter Veränderungen


erschöpfende Belastung

Psychosoziale Kosten turbulenter Veränderungen
(2008)
Quelle der folgenden Einführung: Tom Levold, systemmagazin.de, 2009-05-20

Eine Arbeitsgruppe um Rolf Haubl vom Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt und Günter Voß von der TU Chemnitz hat im Auftrag der DGSv ausgewählte SupervisorInnen nach ihren Einschätzungen gegenwärtigen Veränderungen von Arbeitsbedingungen in Organisation befragt. SupervisorInnen werden als “kritische Zeitzeugen” angesehen, die einen berufsspezifischen privilegierten Zugang zu den “Hinterbühnen” von Organisationen haben und daher besser als viele Außenstehende organisationale Wirklichkeiten beurteilen können. Die 8-seitige Dokumentation dieser Befragung ist für 5,- € bei der kassel university press erhältlich, kann aber auch im Internet kostenlos als PDF geladen werden.
Das Fazit der Befragung: »Die befragten Supervisor/innen sind sich darin einig, dass sich zunehmend mehr Beschäftigte einer beschleunigten Dynamisierung und Ausdünnung von Orientierung gebenden Strukturen ausgesetzt erleben. Was den Beschäftigten als “Freiheit” versprochen wird, erweist sich bei genauerem Hinsehen als höchst ambivalente Selbstverantwortlichkeit.
Bei allen Unterschieden im Einzelnen entwerfen die Supervisor/innen doch ein bemerkenswert ähnliches Bild einer tief greifenden Krise: Sie stellen vor allem heraus, dass der Druck sachlich, vor allem aber ökonomisch ununterbrochen hoch effizient sein zu müssen, weithin erheblich zunimmt und die psychophysischen Kräfte vieler Beschäftigter verschleißt. Insbesondere ist es die Anforderung, kontinuierlich innovativ sein zu müssen, die schnell überfordert.
Unter diesen Bedingungen entstehen nur selten nachhaltige Problemlösungen. Oft sind im Gegenteil die Qualität und Professionalität der Arbeit gefährdet, was sich nicht wenige Beschäftigte als eigenes Versagen zuschreiben. Auffällig ist, dass angesichts des ständigen Wandels ein drängender Bedarf nach verantwortlicher und unterstützender Führung besteht, betriebliche Vorgesetzte sich dem aber oft nicht gewachsen zeigen. Sie verstehen sich primär als hart drängende Change-Agents, die den auf sie einwirkenden ökonomischen Druck nach unten weitergeben und ihre Mitarbeiter/innen mit den Folgen weitgehend allein lassen.
Dass unter all dem Kollegialität leidet und die Einzelnen in ganz neuer Quantität und Qualität ihre Arbeit als erschöpfende Belastung erleben, wundert daher nicht. Die Beschäftigten stehen vor der Aufgabe, aktiv Selbstfürsorge zu betreiben, womit aber nicht wenige von ihnen überfordert zu sein scheinen. Nicht zuletzt ist es das Verhältnis von Berufstätigkeit und Privatsphäre, das in Mitleidenschaft gezogen wird. Die modische Rede von der Work-Life-Balance zeigt das Problem zwar an, trägt aber kaum etwas zu seiner Lösung bei.

Inhalt:

Ziel und Hintergrund der Befragung
Methodische Anmerkungen
Ergebnisse
  Effizienz
  Innovation und Veränderung
  Qualität
  Professionalität
  Führung
  Kollegialität
  Belastung
  Selbstfürsorge
Fazit
Ausblick

 
Siehe auch:

XiùCai

XiùCai Nr. 78, 2006-05-18, S. 6:

Wie jedes Mal, wenn ein Bundeskanzler als Türöffner der Wirtschaft nach China reist, so rotieren auch jetzt, da Frau Merkel sich auf das große Land vorbereitet, die Flügel der verbandlichen Windmacher in Deutschland. 
Federführend ist hier der sogenannte Asien-Pazifik-Ausschuß der Deutschen Wirtschaft, resp. dessen Trägerverbände BDI, BGA, BdB, DIHK und OAV. Wenn die dortigen China-Experten fertiggekreißt haben, liegt ein Ei namens China-Petita im Nest des deutschen Regierungschefs, auch „Anliegen der deutschen Wirtschaft in der VR China“ genannt. Der Inhalt besteht einerseits aus Lobpreisungen der großen Fortschritte, die es bilateral oder wenigstens in China gegeben habe, und andererseits (größerer Teil, kommt immer nach einem „aber“) aus einer Sammlung von Beschwernissen jener Firmen, die zwar einen guten Draht zum BDI haben, aber trotz hoher Investitionen im Lande der größten Partei der Welt (70 Millionen Mitglieder) dennoch einfach nicht so zurechtkommen, wie sie mal gedacht hatten.
Die Petition wird nach Fertigformulierung ins Chinesische übertragen und bei passender Gelegenheit – Gespräch mit dem Premier oder dem Handelsminister – feierlich ihm (oder verstohlen einem seiner Bediensteten) überreicht. Bisweilen aber – Aufwand hin oder her – auch gar nicht aus der Aktentasche gezogen, je nach Atmosphäre beim Treffen. So macht “die Wirtschaft” aus einem Regierungschef-Besuch eine Bittschrift-Gesandtschaft […].
Jetzt liegt wieder so ein Gnadengesuch vor. Wir drucken es im folgenden mit leichten Kürzungen. Wir haben das Dokument des Jammers überdies Herrn Cao Weihua gezeigt, der im „think tank“ des chinesischen Handelsministers für die Koordination der Stolpersteine zuständig ist, und ihn um kurze, aber nicht unbedingt inoffizielle Kommentare zu den einzelnen Anschuldigungen gebeten, was er mit seinem ministeriellen roten Pinsel auch gemacht hat.

Leider gab es nach 2007 kein XiùCai mehr. Globalisierung bedeutet nicht nur weltweite Verteilung von Waren, sondern auch von Werten, die sich dann auch in “unsere” Arbeitsbedingungen einschleichen. Die kleine Zeitschrift half, das Land zu verstehen, das unsere Top-Manager so sehr bewundern.

Aufbewahrungspflicht für Gefährdungsanalysedokumente

https://epetitionen.bundestag.de/index.php?action=petition;sa=details;petition=10213

Petition: Betrieblicher Arbeitsschutz – Aufbewahrungspflicht für Gefährdungsanalysedokumente (Gefahrstoffverordnung) vom 22.02.2010 (Angela Vogel)
Text der Petition
Der Deutsche Bundestag möge die Bundesregierung beauftragen,
1. die Pflicht für Arbeitgeber wieder in der GefahrstoffVO zu verankern, die Dokumentation der betrieblichen Gefährdungsanalysen und der Gesundheitsschutzmaßnahmen für ihre Beschäftigten drei Jahrzehnte lang aufzubewahren;
2. gesetzlich zu regeln, die Dokumentationen auf langlebigen Datenträgern anschließend bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin für Beweissicherungszwecke und die Forschung zu archivieren
Begründung
Die vom Verordnungsgeber 2004 ausgesetzte Pflicht zur Aufbewahrung der Dokumentationen der betrieblichen Gefährdungsanalysen und Schutzmaßnahmen hat gravierende Folgen. Sie
a) verletzt die Übereinkunft Nr. 170 der ILO von 1990, die auch die Bundesrepublik Deutschland ratifiziert hat.
b) unterläuft alle staatlichen (u.a.) Kontrollen, ob die Unternehmen ihren Verpflichtungen tatsächlich nachkommen, die Gefährdungen in ihren Betrieben zu dokumentieren und ihre MitarbeiterInnen davor – oft genug auch sich selbst – angemessen zu schützen.
c) stellt Beschäftigte, die mutmaßlich arbeitsbedingt erkrankt sind, noch viel weit gehender beweislos als zuvor. ArbeitnehmerInnen können die beruflichen Ursächlichkeiten ihrer Erkrankungen/Gesundheitsschäden nicht nachweisen, weil die Dokumentationen ihrer Arbeitsplatzgefährdungen vernichtet sind. Bei Erkrankungen mit langen Latenzzeiten wie bestimmten Krebsarten ist das besonders bedrückend.
d) verletzt einmal mehr das Rechts- und Sozialstaatsprinzip. Die fehlende Aufbewahrungspflicht stellt geschädigte ArbeitnehmerInnen chancen-los, a) ihre Rechte verwirklichen (Rechtsstaatsprinzip) und b) den Schutz der (sozialstaatlichen) Gesetzlichen Unfallversicherung (Sozialstaatsprinzip) tatsächlich erhalten zu können.
e) be- und verhindert die toxikologische und fachmedizinische Forschung. Kausalitäten zwischen betrieblichen Einwirkungen und Gesundheitsschäden sind empirisch kaum mehr zu rekonstruieren. Die Datenbasis fehlt oder ist zu klein.
f) be- und verhindert die rechtliche Vorgabe der Weiterentwicklung des geltenden Berufs- und Arbeitsunfallrechts. Neue Erkenntnisse über industriell produzierte und/oder verwertete Substanzen und Zubereitungen können entweder gar nicht oder nur mit sehr viel mehr Kosten- und Zeitaufwand gewonnen werden.
g) verstärkt die Schutzverweigerungen der GUV und damit den sozialstaatlich schon zuvor kaum zu vertretenden Kostentransfer für betrieblich verursachte Gesundheitsschäden. Es werden die anderen Sozialversicherungen finanziell noch mehr belastet, d.h. vor allem die Gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung, aber auch die Kommunen und die Bundesanstalt für Arbeit im Bereich von ALG II (HARTZ IV).

Wichtig ist so eine Aufbewahrung auch wegen der möglichen Langzeitfolgen psychischer Fehlbelastungen. Was sich allerdings bei vielen Unternehmen ziemlich einfach nachweisen lässt, ist das komplette Fehlen des Einbezugs psychischer Belastungen in die Gefährdungsbeurteilung.

Wirtschafts-Burnout

http://www.oekom.de/index.php?id=736 (Pressemeldung, 2010-01-16)

ISBN 978-3-86581-191-2Wie wir den Kapitalismus zähmen
Die Systemkritik eines Top-Managers
Wie ist es möglich, dass nur wenige Monate nach dem Schock einer weltweit kollabierenden Wirtschaft die Jagd nach maßlosen Boni, unbegrenztem Wachstum und allein wirtschaftlichem Erfolg ohne Rücksicht auf Konsequenzen ungehindert fortgesetzt wird? Ein Insider, der die Schaltzentralen der Macht jahrzehntelang selbst bedient hat, stellt in „Burn out. Wie wir eine aus den Fugen geratene Wirtschaft wieder ins Lot bringen“, das am 10. März im oekom verlag erscheint, die erschütternde Diagnose: Wenn wir weiterhin dem Spiel der freien Märkte freien Lauf lassen, ist der nächste Kollaps vorprogrammiert. In seiner Systemkritik rechnet der ehemalige Wirtschaftsboss Peter H. Grassmann mit einer ausgebrannten und überhitzten globalen Marktwirtschaft ab. Doch er stellt nicht nur unser Wirtschaftssystem in Frage; er gibt auch Antworten und zeigt, wie die Kraft des Dialogs die Welt wieder in die Balance bringen kann.
„Ich gehörte zu denen, die man vor der Wut der Benachteiligten schützen musste, der keine Antwort hatte auf deren Probleme. Gab es wirklich keine?“  Mit dieser Frage beginnt Peter H. Grassmann seine ebenso selbstkritische wie aufrüttelnde Abrechnung mit einem korrupten Wirtschaftssystem, in dessen Führungsetagen er selbst jahrelang saß. Wenige Schlüsselerlebnisse brachten den Siemens-Top-Manager zum Umdenken und er erkannte die wichtigsten gesellschaftlichen und politischen Schieflagen: Die Unruhe in der Gesellschaft wächst. Die Marktwirtschaft hat bei großen gesellschaftlichen Themen versagt. Und die Antwort der Politik auf die Krise ist völlig unzureichend. Die korrigierenden Kräfte sind zu schwach, die Bemühungen der zivilgesellschaftlichen Organisationen zersplittern. Grassmann schlägt einen neuen, einen dritten Weg vor, zwischen markt-radikalem Macho-Kapitalismus und Staatsgläubigkeit – diesen Weg des gesellschaftlichen Dialogs begreift er als Modell für eine sozialere Marktwirtschaft mit mehr Gemeinsinn und Generationengerechtigkeit. In seiner Road-Map Burn out fordert er vor allem die Mitbestimmung der Zivilgesellschaft in Unternehmen und die Entwicklung eines branchenspezifisch verpflichtenden Wertekodex. Allgemeinverständlich, aber mit wirtschaftlichem Sachverstand entwirft Grassmann seine Vision von ziviler Mitbestimmung als neue gesellschaftliche Kraft mit weniger Staat und mehr Mitsprache, orientiert an den Zielen der Nachhaltigkeit und der sozialen Verantwortung. Ein Buch, das den entscheidenden Anstoß gibt für eine breite gesellschaftliche Debatte nach der Finanzkrise.
„Und genau dieses Bewusstsein, auch als Einzelner etwas tun zu können, ist der erste Schritt zu einer umfassenden Antwort: weil wir damit nicht mehr auf den Staat allein warten, sondern viel stärker auch mit unserer Kraft, der Kraft der Zivilgesellschaft, die Themen in die Hand nehmen und einen neuen Weg verstärkter Mitsprache gehen.“ (Peter H. Grassmann)
Peter H. Grassmann promovierte im Bereich Plasmaphysik am Max-Planck-Institut bei Werner Heisenberg. Er war Generaldirektor und Vorstandsmitglied für den Bereich Medizinische Technik bei der Siemens AG und als Vorstandsvorsitzender Sprecher des Vorstands bei Carl Zeiss Oberkochen und Jena. Heute ist er Vorstandsvorsitzender der Umwelt-Akademie e.V.

(Links nachträglich eingefügt)
So etwas sehe ich immer mir gemischten Gefühlen. Nach meiner Erfahrung nagten und nagen die Erkenntnisse Peter Grassmanns nicht nur an ihm, sondern auch an sehr vielen anderen “Wirtschaftsbossen” und Führungskräften. Aber solange sie im Geschäft sind, bringen sie gerade wegen dieser Erkenntnisse erst einmal für sich und ihre Familie die Schärflein in’s Trockene. Je mehr, desto besser, denn in der Zukunft wird’s eng. Dafür müssen Hoffnung versprochen und Zweifel an Wachstumsversprechen tabuisiert werden, wie sonst soll man die unverschämten Wachstumsziele der modernen Wirtschaft erreichen? Wer gut ausgesorgt hat, kann dann systemkritisch Bescheidengeit predigen.

Mit der Merkelwalze gegen Wachstumsblockaden

Hier auch einmal etwas Selbstgemachtes:

Mit der Merkelwalze gegen Wachstumsblockaden

http://www.sueddeutsche.de/politik/sozialkuerzungen-nach-der-wahl-merkel-will-bremskloetze-niederwalzen-1.779154
war der Auslöser:

Merkel will Bremsklötze “niederwalzen”
Süddeutsche Zeitung, 13.06.2005, 08:19
Arbeit und Wachstum, so die CDU-Chefin, hätten absolute Priorität – grundsätzlich müsse alles auf den Prüfstand. CSU-Kollege Stoiber kündigte sogar unverblümt tiefe Einschnitte ins Sozialsystem an, sollte die Union an die Regierung kommen. Das allerdings geht manchem in der CDU zu weit.

Sie sagte nur, grundsätzlich müsse alles auf den Prüfstand. Arbeit und Wachstum hätten absolute Priorität. Wo es Bremsklötze gebe, “da müssen wir sie niederwalzen”, sagte Merkel. …

Als ich diese Nachricht las, rumpelte die Walze sofort in meinem Kopf herum. Ich musste das Bild von Kanzlerin und Gerät einfach zu Papier bringen.

Wissenschaftler unter Druck

Statistisches Bundesamt (2009-09-01):

Von psychischen Belastungen sind die verschiedenen Berufsgruppen unterschiedlich betroffen: Wissenschaftler, die etwa 14,4% aller Erwerbstätigen ausmachen, standen am stärksten unter Zeitdruck und Arbeitsüberlastung. 17,6% von ihnen äußerten entsprechende Beschwerden. Führungskräfte – 5,5% der Erwerbstätigen – gaben in 16,9% aller Fälle Zeitdruck und Arbeitsüberlastung an. In den übrigen Berufsgruppen klagte etwa jeder neunte Befragte (10,8%) über psychische Belastungen am Arbeitsplatz.

Arbeitsunfall der Postmoderne

Seit 1996 sind psychische Belastungen als gesundheitsgefährdende Berufskrankheiten im Arbeitsschutzgesetz offiziell anerkannt. “Die Depression ist der Arbeitsunfall der Postmoderne“, formuliert plakativ Hans-Peter Unger von der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Allgemeinen Krankenhaus Hamburg-Harburg. Der Mediziner weist darauf hin, dass die Zahl der handfesten Verletzungen auch in den Industriebetrieben deutlich zurückgegangen ist. Statt dessen wachse das Risiko einer psychischen Störung.

So schrieb es Thomas Gesterkamp am 18.12.2006 in der Zeitschrift des Bundestages “Das Parlament”. Der insgesamt gute Artikel ist aber auch ein Beispiel für einen häufigen Fehler bei der Thematisierung psychischer Belastungen in den Medien. Journalisten sollten zwei Punkte beachten:

  • Psychische Belastungen sind keine Berufskrankheiten, sondern sie sind aus der Sicht des Arbeitsschutzes eine der Wirkungen, die von einem Arbeitsplatz und/oder einer Arbeitssituation ausgehen.
  • Jede Aufgabenstellung ist irgendwo auch eine psychische Belastung. Ohne psychische Belastungen gäbe es also gar keine Arbeitsplätze. Erst als Fehlbelastungen können psychische Belastungen zu Körperverletzungen führen und Krankheiten auslösen.