Schwache Erklärung der BG ETEM

http://www.bgetem.de/medien-service/jahresbericht/JB%202011/at_download/file, Jahresbericht 2011:

Psychische Faktoren am Arbeitsplatz
Aktivitäten des FG Arbeitsmedizin/Arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren
Psychische Belastungen sind in der Gefährdungsbeurteilung zu ermitteln, zu beurteilen und es ist festzulegen, ob und ggf. welche Maßnahmen abzuleiten und umzusetzen sind, um der Entstehung von negativen Folgen (,,Fehlbeanspruchungen”) vorzubeugen. Die Thematik ist seit 1974 im Arbeitsicherheitsgesetz als Aufgabe des Betriebsarztes in seinen Beratungspflichten festgeschrieben.
Dennoch wird das Thema ernsthaft und in der Breite erst in letzter Zeit vertieft. Dies kommt u. a. durch die Vereinbarung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) mit dem Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte (VDBW) ,,Bedeutung der psychischen Belastung im Betrieb” zum Ausdruck (www.vdbw.de). Dies mag neben vielen anderen Gründen auch daran gelegen haben, dass psychische Belastungen – im Unterschied zu vielen anderen Belastungen am Arbeitsplatz – nicht so einfach zu ermitteln sind.
Dazu gehören: Erfassung der Arbeitsorganisation, der Arbeitsmittel, der Arbeitsumgebung sowie die sozialen Beziehungen. Wichtig ist zudem auch die subjektive Bewertung der Arbeitssituation durch die Mitarbeiter/-innen und die Rahmenbedingungen im Betrieb. Und bei der Ableitung von Maßnahmen können gleichartige Ergebnisse, je nach Einzelfall, zu unterschiedlichen Interventionsebenen führen: Mitarbeiter/-in, Führungskraft, Arbeitsaufgabe, Arbeitsmittel, Arbeitsorganisation, Kommunikation und Schnittstellen im Betrieb etc. Neben der Gefahrenabwehr spielt auch die Stärkung gesundheitsförderlicher Ressourcen des Betriebes (,,gesunde Arbeit”) wie auch der Arbeitnehmer (,,Resilienz”) eine wichtige Rolle.
Wichtig ist, dass alle eingesetzten Instrumente und Verfahren qualitätsgesichert sind und hierbei eine Güteprüfung durchlaufen haben, die die Richtigkeit der Methode (Validität) zu Zuverlässigkeit (Reliabilität) und die Unabhängigkeit von Untersucher und Anwendungssituation (Objektivität) sicherstellt. …

(Hervorhebungen nachträglich eingefügt)
Selbst ich gehe nicht soweit, die Arbeitgeber für ihre Pflichtverletzungen bis zurück in das Jahr 1974 haftbar zu machen. Die konkretere Geschichte der Vermeidung des Einbezugs psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz beginnt später. Ab spätestens 2005 mussten die Unternehmen wissen (wenn es sie interessiert hätte), was sie taten bzw. was sie trotz Vorschrift nicht taten.
Und nun wird es peinlich: “Dennoch wird das Thema ernsthaft und in der Breite erst in letzter Zeit vertieft. … Dies mag neben vielen anderen Gründen auch daran gelegen haben, dass psychische Belastungen – im Unterschied zu vielen anderen Belastungen am Arbeitsplatz – nicht so einfach zu ermitteln sind.” Da hat sich die DB ETEM ausgerechnet eine der schwächsten Ausreden der Arbeitgeber ausgesucht. Die BG ETEM traut sich nicht, einen der Hauptgründe zu benennen: Die Berufsgenossenschaften haben kaum kontrolliert und die Unternehmen hatten kein Interesse. Die Unternehmen schaffen es, hochkomplexe Leistungs- und Verhaltensbeurteilungssysteme zu konsturieren und zu implementieren, aber die Verhältnisbeurteilung psychischer Belastung kriegen sie nicht hin. Wer glaubt denn so etwas?
Aus so vielen möglichen Quellen sucht die rücksichtsvolle BG ETEM die Vereinbarung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) mit dem Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte (VDBW) “Bedeutung der psychischen Belastung im Betrieb” (2012) aus.
Kleiner Hinweis: Sehr lesenswert ist auch “Gemeinsames Positionspapier von IG Metall und VDBW” (Mai 2009). Aber den Arbeitnehmern, die der nachhaltigen Missachtung wichtiger Arbeitsschutzregeln viele Jahre lang ausgesetzt waren, muss die BG ETEM ja nicht die goldenen Brücken bauen, ohne die man heute Arbeitgeber nicht um die entgegenkommende Einhaltung von Schutzbestimmungen bitten kann.

Bildschirmarbeit 1996

Eric Jaschke (1996): Physische und psychische Belastung durch Bildschirmarbeit. Eine kritische Analyse einschlägiger Untersuchungsergebnisse angesichts der Forderung nach Humanisierung des Arbeitslebens, München, GRIN Verlag GmbH, 29 Seiten, http://www.grin.com/de/e-book/95288/physische-und-psychische-belastung-durch-bildschirmarbeit-eine-kritische (http://dx.doi.org/10.3239/9783638079679)

3.2 Analyse psychischer Belastungen durch Bildschirmarbeit

Ein weiterer Belastungsfaktor entsteht aus der Veränderung der Zeitstrukturen sowie der Arbeitsverdichtung bzw. Arbeitsintensivierung infolge eines hohen Systemarbeitstempos. Die Arbeitenden müssen sich auf ein vom Computer produziertes Zeitverhalten einstellen; Arbeitszeitstrukturen, wie sie aus ihren eigenen Arbeitsstrategien resultieren, müssen der Computerzeit untergeordnet werden. Deutlich wird dies z. B. am Problem der System-Response-Zeiten. Längere Antwortzeiten verlangsamen zwar das Arbeitstempo, ohne jedoch zu einer Beanspruchungsverminderung zu führen. Vielmehr werden längere Pausenzeiten bei Antworten von den Benutzern als deutliche Beanspruchung empfunden; zu kurze Antwortzeiten wirken dagegen arbeitsantreibend. Darüber hinaus wird durch die Arbeitsverdichtung und Arbeitsintensivierung der Wegfall entlastender Tätigkeiten, wie bspw. die Beschaffung von Arbeitsmitteln (Aktenordner o. ä.) verursacht. Des weiteren wird der Mensch gleichzeitig mit einem möglichen Kontrollpotential konfrontiert, wodurch nicht nur Arbeitsergebnisse, sondern auch Arbeitsschritte und deren zeitliche Abfolge transparent werden. Dieses Kontrollpotential kann, unabhängig von seiner tatsächlichen Nutzung, als Disziplinierungsinstrument aufgefaßt werden und damit den subjektiven Leistungsdruck bei den Beschäftigten fördern. Die somit dauerhaft bestehende geistige Belastung in Form von ständiger Aufmerksamkeit und Konzentration beansprucht die Psyche des Menschen, und kann zu Streß führen. Dieser tritt immer dann auf, ,,wenn die Arbeitsanforderungen vom Individuum als mit seinen Fähigkeiten, Kenntnissen und Erwartungen nicht übereinstimmend erlebt werden und wenn sie keine oder nur unzureichende Möglichkeiten eröffnen, diesen Zustand des Ungleichgewichts zu beeinflussen oder ganz zu beseitigen”. …

Missachtung des Arbeitsschutzes kein Thema für Berufsgenossenschaft BGN

http://www.bgn.de/10530/38986/1

Erschöpft, gestresst, ausgebrannt
Damit es so weit nicht kommt: psychische Gesundheit der Beschäftigten fördern und stärken
von Constanze Nordbrock
Akzente 3/2012 | Magazin für Arbeitssicherheit, Gesundheitsschutz und Rehabilitation
Sich gestresst fühlen ist keine Krankheit. Dennoch können Stress und psychische Belastung die Gesundheit gefährden. Über die Hintergründe und was der Betrieb tun kann, um die psychische Gesundheit der Beschäftigten zu fördern und zu stärken. …

… Was getan werden kann
Die von Bund, Ländern und Unfallversicherungsträgern getragene Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA) legt einen Schwerpunkt auf die Thematik. So beraten Berufsgenossenschaften und staatliche Arbeitsschutzbehörden die Unternehmen, wie psychische und körperliche Gesundheit als wichtige Ressource eines gesunden Unternehmens gefördert und gestärkt werden können. Dies ist auch relevant im Hinblick auf die Folgen des demografischen Wandels und des damit verbundenen Fachkräftemangels. …

Irgendetwas stimmt hier nicht. Der offensichtlichste und klar nachweisbare Mangel ist die Missachtung des ganzheitlichen Arbeitsschutzes bei der Mehrheit der Unternehmen. Besonders hier brauchen Unternehmen eine nachhaltige Beratung durch die Berufsgenossenschaft. Darauf geht dieser BGN-Artikel nicht klar genug ein. Auch höre ich, dass Aufsichtspersonen der BGs bei Besuchen in Unternehmen selbst einfachste Checks nicht durchführen, mit denen sich der Einbezug psychischer Belastungen beispielsweise in die Gefährdungsbeurteilung überprüfen ließe. Diese intensive Unaufmerksamkeit ist schon ziemlich merkwürdig.
Interessant ist auch hier wieder die Hervorhebung von Themen wie demografischen Wandel und Fachkräftemangel. Der wirtschaftliche Nutzen des Arbeitsschutzes ist eine schöne Sache, aber Körperverletzung geht gar nicht. Trotzdem reicht es anscheinend heute nicht mehr, Arbeitgeber auf das Recht der Mitarbeiter auf körperliche Unversehrtheit (mehr oder notfalls auch weniger freundlich) hinzuweisen.”Zeitgemäßer” ist es wohl, dass Unternehmer nur mit freundlichen Bitten und wirtschaftlichen Anreizen davor abgehalten werden können, Körperverletzung zu begehen. Die ökonomische Verseuchung unseres Denkens ist eben schon ziemlich weit fortgeschritten. Schade, wenn die Berufsgenossenschaften die einfache Tatsache vergessen, dass trotz allen Schönredens im Arbeitsschutz die strenge Durchsetzung von Vorschriften immer noch das wirkungsvollste Mittel ist. Mehr als 15 Jahre Tatenlosigkeit der Mehrheit der Arbeitgeber sollten ausreichen, hier alle Illusionen zur unternehmerischen Verantwortung zu begraben.
Bei der BG ETEM fand ich ein Beispiel, in dem die Pflichten der Arbeitgeber klarer angesprochen werden. Allerdings gibt es noch Aufsichtspersonen auch der BG ETEM, die bei der Überprüfung von Gefährdungsbeurteilungen (und speziell bei der Überprüfung der vollständigen Einhaltung der Bildschirmarbeitsverordnung) zu unaufmerksam sind.
(http://osha.europa.eu/fop/germany/de/news/neues/2_quartal_2012/article.2012-06_06 machte mich auf den Artikel der BGN aufmerksam.)

Pflicht schon im Jahr 2006 bekannt: Bewertung psychischer Fehlbelastungen

Natürlich gab es diese Pflicht schon früher. Aber als ich diese Veröffentlich einer Berufsgenossenschaft las, musste ich wieder an die “Unwissenheit und Hilflosigkeit” denken, die unsere Arbeitsministerin den deutschen Unternehmen zubilligte. Das ist einfach nicht glaubhaft.
BGFE und TBBG (seit 2010 in der BG ETEM), Ulla Nagel: Psychische Belastungen am Arbeitsplatz, 2006-06-13, also schon vor der heutigen Ausgabe 2011.
In beiden (2006 und 2011) Ausgaben steht:


Nach dem Arbeitsschutzgesetz (§§ 2,3) und dem Sozialgesetzbuch Sieben (SGB VII, §§ 1, 14, 21) sind Arbeitgeber und Berufsgenossenschaften verpflichtet, nicht nur Unfälle und Berufskrankheiten, sondern auch »arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren« zu verhüten. Dazu zählen psychische Belastungen, soweit sie gefährdend sind. Somit ist die Bewertung psychischer Fehlbelastungen in die Pflicht zur Gefährdungsbeurteilung mit eingeschlossen (§ 5 Arbeitsschutzgesetz). 
Über Pflichten klärt auch die EU-Rahmen-Richtlinie 89/391/EWG zur »…Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes …« Art. 6 Abs. 1 und 2 (1989) auf.

(Das hatten wir doch schon einmal: http://blog.psybel.de/2011/03/24/bg-etem/. So richtig ernsthaft geprüft wurde von der Berufsgenossenschaft aber wohl schon seit 2006 und auch davor nicht.)


Wie gehen Sie bei der Gefährdungsbeurteilung vor?

  1. Bilden Sie ein Team für die Analyse und Lösung der Probleme:
    Zum Team gehören: Arbeitgeber, Führungskräfte, Betriebsarzt, Sicherheitsfachkraft, Sicherheitsbeauftragter,Vertreter der Mitarbeiter. Die Kollegen vor Ort sind Experten für die Bewertung ihrer Tätigkeiten!
  2. Ermitteln Sie den Handlungsbedarf
    Wie grenzen Sie die Problembereiche sinnvoll ein? Werten Sie betriebliche Kennzahlen aus:
    Überdurchschnittlich hoher oder niedriger (!) Krankenstand/Fluktuation, Fehlleistungen, Nacharbeit, Qualitätsmängel, Terminüberziehung, Überstunden, Reklamationen, Unfälle/Beinaheunfälle, gesundheitliche Klagen
  3. Erstellen Sie die Gefährdungsbeurteilung nach § 5 ArbSchG
    Nutzen Sie dazu hier den psy.Risk®-10-Faktorentest in dieser Broschüre. Leiten Sie Maßnahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes ab. Mitarbeiter der Präventionsabteilung der BG helfen gern dabei!
  4. Setzen Sie die Maßnahmen um und prüfen Sie die Wirkung.

(Auch das war schon im Jahr 2006 bekannt. Von wegen “unwissend und hilflos“, Frau Dr. von der Leyen.)


Andere Belastungsquellen wirken aus der Freizeit in die Arbeit hinein: aus dem Privatleben (Familie, Freunde), aus nebenberuflicher Betätigung (z.B. Verein) sowie aus den Problemen von Nachbarschaft, Kommune und Gesellschaft (siehe Außenkreis des Modells). Arbeits- und Freizeitbelastungen lassen sich in ihren Wirkungen heute noch nicht völlig trennen. Studien belegen aber, dass die Arbeitsbelastungen das Privatleben nachhaltiger stören als umgekehrt!

(Der letzte Absatz ist auf S. 9/20 in der 2006er Ausgabe und S. 7/20 in der aktuellen Ausgabe.)
Siehe auch: http://blog.psybel.de/analysieren-sie-ihren-arbeitsplatz-selbst/
Suche im Webauftritt der BG ETEM: http://www.bgetem.de/search?SearchableText=psychische+belastungen
 


2015: Psychische Faktoren am Arbeitsplatz, https://www.bgetem.de/medien-service/medienankuendigungen/broschuere-psychische-belastungen-am-arbeitsplatz
 

Langsamer Prozess

http://www.bgn.de/10530/38986/2

… Was aber ist Burnout dann? Viele Burnout-Patienten leiden unter Depressionen. Durch den meist unmittelbaren Bezug, den Betroffene zwischen ihrem Arbeitsplatz und ihren Beschwerden herstellen, entsteht hier eine Symptom-Beschreibung mit eigenem Charakter.
Noch ein Aspekt des oben erwähnten Stufenmodells [der Beanspruchung] ist wichtig: Der langsame Prozess des allmählichen Verschiebens der Ausgeglichenheit zwischen Belastung/Erschöpfung und Regeneration hin zu einem negativen Ungleichgewicht gibt den Handelnden die Möglichkeit, in diesen Prozess eingreifen zu können. Burnout-Patienten schildern einen langen Weg hinein in ihre momentane Situation. Überforderungssituationen haben eine Geschichte, die auch umgeschrieben werden kann. …

Bewusste Pflichtverletzung seit 2005

Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.

Richard von Weizsäcker
 
http://blog.psybel.de/praeventive-arbeitsgestaltung-unter-nutzung-von-§§-90-91-betrvg/

Seit den 70er Jahren gibt es den gesetzlich verankerten gemeinsamen Auftrag für Arbeitgeber und Betriebsrat, arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit bei der Planung und Korrektur von Gestaltungsmaßnahmen zu berücksichtigen.

Uwe Dechmann, Sozialforschungsstelle Dortmund
Zu viele “Macher” vergessen gerne die Vergangenheit. Sie schauen lieber “nach vorne”, denn sie möchten zwar für ihre Verantwortung sehr gut entlohnt, aber für Pflichtverletzungen nicht verantwortlich gemacht werden. Sie verlangen göttliche Unantastbarkeit:

Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn sehe, ich will ein Neues schaffen.

Jesaja 43, 18 – 19

Who controls the past controls the future. Who controls the present controls the past.

George Orwell
Geschichte, unter die ein Schlussstrich gezogen werden soll, ist in der Regel eben besonders interessant. Geschichte wird ja nicht nur vergessen, sondern auch noch geklittert. Wir schauen schon deswegen in die Vergangenheit, weil beispielsweise unsere Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen heute versucht, die nachhaltige Missachtung der Pflicht zum Einbezug psychischer Belastungen mit “Unwissen und Hilflosigkeit” der Unternehmen zu entschuldigen. Das ist keine Enschuldigung, weil sich zeigen lässt, dass viele Unernehmer wussten was sie taten. Sie ließen das Thema bewusst schleifen und hatten mit ihrem wissentlich gepflegten Unwissen ihre Mitarbeiter die Krankheit getrieben. Dabei mussten politisch ausgebremste Aufsichtsbehörden untätig zuschauen. Unsere wirtschaftliche und politische Elite verletzte dabei nicht nur die Arbeitnehmer, sondern die Anarchie im Arbeitsschutz fügte auch dem Rechtsstaat Schaden zu.
Den ganzheitlichen Arbeitsschutz gibt es seit 1996. Aus den Vorschriften ergab sich damals schon eine Pflicht der Arbeitgeber, psychisch wirksame Belastungen in den Arbeitsschutz einzubeziehen. Seit dieser Zeit hatten nicht nur ein Großteil der Unternehmer, sondern auch Arbeitnehmervertretungen (Ausnahmen gab es, z.B. die Pionierarbeit des Betriebsrats der SICK AG) und Aufsichtspersonen ihre Lernkurve sehr flach gehalten.
Spätestens seit 2005 war den Arbeitgebern jedoch klar, was sie zu tun haben. Im Jahr 2004 gab es klärende Beschlüsse des Bundesarbeitsgerichts. Die BDA merkte nun, das es brenzlig wurde und veröffentlichte im Mai 2005 die Position der Arbeitgeber zur Bedeutung psychischer Belastungen bei der Arbeit. Zumindest bei größeren Unternehmen war das Thema also seit 2005 auf ihrem Radar. Aber selbst danach setzten sie nicht einmal das um, was im April 2000 in der eher arbeitgeberorientierten Zeitschrift für Arbeitswissenschaft Leistung und Lohn beschrieben wurde. Darum gehe ich davon aus, dass seit 2005 viele Arbeitgeber ihre Pflicht zum verhältnispräventionsorientierten Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz vorsätzlich missachteten. Mitverantwortlich ist hier aber auch eine Politik, die im naïven Vertrauen auf das Verantwortungsbewusstsein der Unternehmen die Aufsichtsbehörden geschwächt hat.
Am Beispiel der BGFE (jetzt in der BG ETEM) kann man sehen, dass auch die Berufsgenossenschaften die von ihnen überwachten Unternehmen auf ihre Pflichten aufmerksam gemacht hatten (2006). Leider führt z.B. die BG ETEM bis heute keine ausreichend gründlichen Prüfungen durch.
In Betrieben mit Bildschirmarbeit kann seit 1996 oft von einer vorsätzlichen Missachtung der Bildschirmarbeitsverordung ausgegangen werden, wenn psychische Belastungen nicht beurteilt wurden. Wurde eine Erfüllung der Bildschirmarbeitverordnung dokumentiert obwohl psychische Belastungen nicht beurteilt wurden, dann ist das eine unwahre Angabe in der Dokumentation des Arbeitsschutzes.
Im Jahr 2010 stellte die BAuA (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin) fest, dass die große Mehrheit der Arbeitgeber das Thema “Psychische Belastungen” als Gegenstand der Gefährdungsbeurteilung ohne die Impulsgebung durch Gewerkschaften, Betriebsräte bzw. Arbeitsschutzbehörden (vereinzelt) nicht aufgreife. Erst Ende 2011 erkannte die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen auch öffentlich, “dass sieben von zehn Unternehmen das Thema [Arbeitsschutzbestimmungen auch mit Blick auf seelische Belastungen] schleifen lassen – meist aus Unwissenheit oder Hilflosigkeit”. Was “schleifen lassen” anbetrifft, hat sie sich noch recht freundlich ausgedrückt; aber mit “Unwissenheit oder Hilflosigkeit” liegt sie ziemlich daneben, wie der Blick auf die Vergangenheit zeigt.
Meine Kritik richtet sich nicht so sehr gegen die Fachkräfte für Arbeitsschutz in den Betrieben oder gegen Aufsichtspersonen, die diese Betriebe (gelegentlich) besuchen. Das sind oft gutmütige Techniker und Chemiker, die psychische Belastungen überhaupt nicht im Blickfeld hatten. Hier gab es nicht durch Absicht, sondern durch Überforderung bedingte Unwissenheit und Hilflosigkeit. Verantwortlich sind viel mehr die oberen Führungskräfte in den Betriebs- und Behördenleitungen, die trotz Kenntnis ihrer Verpflichtungen diese Unwissenheit und Hilflosigkeit aufrecht erhielten. Die Thematisierung von Arbeitsbelastung wurde geradezu angestrengt vermieden.
Es gibt viele Gründe, die Geschichte der “Unwissenheit oder Hilflosigkeit” (Ursula von der Leyen, Dez. 2011) beim Einbezug psychisch wirksamer Belastungen in den Arbeitsschutz nicht in Vergessenheit geraten zu lassen:

  • Wir können aus Fehlern lernen.
  • Spätestens seit 2005 sparte sich die Mehrheit der Unternehmen die Kosten für den vorgeschriebenen Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz. Dank der dadurch erzielten Einsparungen können Unternehmen sich nun mit überdurchschnittlichen Budgets für einen hochwertigen Arbeitsschutz begeistern, und damit die erforderliche Nacharbeit beschleunigen – ohne jedoch deren Qualität zu mindern.
  • Wenn sich ein Unternehmen dazu entschließt, psychische Belastungen verspätet in den Arbeitsschutz einzubeziehen, können trotzdem die Risiken nicht vergessen werden, denen die Mitarbeiter durch die Pflichtverletzung des Unternehmens zuvor ausgesetzt waren. Zwischen psychischer Verletzung und psychischer Erkrankung können viele Jahre liegen. Eine vollständige Gefährdungsbeurteilung löst noch keine Probleme, sondern sie ist der erste Schritt zu Problemlösungen.
  • Die Gründe für die Missachtung der Regeln des Arbeitsschutzes durch Arbeitgeber müssen verstanden werden. Sind die Regeln nicht umsetzbar und/oder fehlt der Mehrheit der Arbeitgeber der Respekt gegenüber Schutzgesetzten?
  • Außerdem könnte ein Verständnis der Geschichte der mangelhaften Umsetzung des Arbeitsschutzgesetzes helfen, die Bedeutung von Arbeitnehmervertretungen besser zu verstehen und das (europäische) Entbürokratisierungskonzept zu überdenken, auf dem dieses Gesetz basiert.

Für Betriebe mit kompetenten und durchsetzungsfähigen Arbeitnehmervertretern ist der Gestaltungsspielraum, den ein Rahmengesetz für betriebsnahe Lösungen gibt, eine feine Sache. Dieser Gestaltungsspielraum begründet den an die Arbeitgeber gerichteten Gestaltungsimperativ und die starke Mitbestimmung der Arbeitnehmer. Aber was geschieht in den vielen Unternehmen mit überforderten (und gelegentlich sogar gemobbten) Arbeitnehmervertretungen?
Wie wichtig Betriebsräte im Arbeitsschutz sind, sieht man an einem schönen Beispiel: Belastungen als Thema des Arbeitsschutzes führten kürzlich zur Gründung des ersten Betriebsrats bei Apple in München. Auch das ist ein interessantes Ereignis in der Geschichte des deutschen Arbeitsschutzes.
Siehe auch: http://blog.psybel.de/motivierendevorschriften/

Mit dieser Berufsgenossenschaft stimmt etwas nicht

http://www.bghw.de/aktuelles/nachrichten/raus-aus-der-stressfalle

… Hier finden Beschäftigte anschauliche Beispiele für die häufigsten Ausprägungen psychischer Belastung mit exemplarischen Beschreibungen schwieriger Arbeitssituationen sowie eine Vielzahl von Tipps und Übungen, mit denen man der Stressfalle entkommt.

Ratschlag: Sind sie Arbeitnehmer, dann wählen Sie eine Arbeitnehmervertretung, die den Arbeitgeber kräftig motiviert, Stressfallen zu eliminieren. Es hilft nicht, den Mitarbeitern den Schwarzen Peter zuzuschieben. Sieben von zehn Unternehmen lassen den Einbezug seelischer Belastungen in den Arbeitsschutz schleifen. Sie greifen ohne die Impulsgebung durch Gewerkschaften, Betriebsräte bzw. Arbeitsschutzbehörden (vereinzelt) das Thema “Psychische Belastungen” als Gegenstand der Gefährdungsbeurteilung (GB) i. d. R. nicht auf. Nicht Einsicht und Verantwortungsbewusstsein, sondern gesetzliche Verpflichtungen sind der stärkste Motivator für Unternehmen, sich mit psychosozialen Risiken zu befassen. Betriebsräte müssen sich damit auskennen.
Im Arbeitsschutz ist der Arbeitgeber für die Vermeidung schädlichen Stresses verantwortlich. Zwar haben auch die einzelnen Beschäftigten in den Betrieben eine Verantwortung für sich selbst, aber Arbeitgeber, die psychische Belastungen nicht ordentlich in den Arbeitsschutz einbeziehen, verlieren ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie an die Eigenverantwortung von Mitarbeitern appellieren ohne zuvor ihre vorgeschriebenen Hausaufgaben gemacht zu haben. Der Großteil der Unternehmen in Deutschland hat hier versagt.
Mängel beim Arbeitsschutz müssen offen angesprochen werden können. Das ist schwer, wenn sich nicht einmal eine Berufsgenossenschaft (s.u.) traut, deutlicher die Tatsache anzusprechen, dass die Mehrheit der Unternehmen die Vorschriften des ganzheitlichen Arbeitsschutzes noch immer ungestraft missachten darf. Die Aufsichtspersonen der BGHW sucht nicht proaktiv nach leicht feststellbaren Regelverstößen. Das ist keine Aufsicht. Dafür gibt die Berufsgenossenschaft den Mitarbeitern jedoch schlaue Ratschläge, wie sie Belastungen besser aushalten können.
Auch dieBerufsgenossenschaft soll erst einmal ihre Arbeit machen und bei ihren Firmenbesuchen genauer und kritischer hinsehen. Speziell die Überprüfung des Gefährdungsbeurteilungsprozesses ist ganz einfach. Wenn es einen mitbestimmten Einbezug der psychisch wirksamen Belastungen in solch einen Prozess nicht gibt oder wenn das Unternehmen nur so tut, als ob es ihn gäbe, dann müsste man sich schon kräftig anstrengen, das nicht zu bemerken. Was bedroht/motiviert die BG, hier Mängel durchgehen zu lassen?
Hier läuft irgendetwas sehr falsch.
Mehr dazu in Stephan Lists Blog, das mich auf das Handbuch aufmerksam gemacht hat: http://www.arbeitstattstress.de/2012/02/bghw-handbuch-psychische-belastungen-am-arbeitsplatz/

Anzeige Berufskrankheit

Meldung Unfall und Berufskrankheit
http://www.bghm.de/index.php?id=83

Die behandelnden Ärzte, die einen Verdacht auf eine Berufskrankheit haben, sind gesetzlich verpflichtet, diese der Berufsgenossenschaft anzuzeigen. Dies gilt auch für den Betriebsarzt, den Arbeitgeber und die Krankenkasse, wenn Anhaltspunkte bestehen, dass Mitarbeiter an einer Berufskrankheit leiden.

Siehe auch: Berufskrankheitenverordnung (BKV): Psychische Erkrankungen sind darin noch nicht enthalten. Engegen populären Vorstellungen sind sie aber oft gut heilbar. Bei psychosomatischen Erkrankungen können jedoch unumkehrbare Schäden entstehen, die auch Berufskrankheiten sind.
Lesenswert ist bei ergo-online die Seite Berufskrankheiten von Ulla Wittig-Goetz.
 
Die Hürden für die Anerkennung einer Krankheit als Berufskrankheit sind sehr hoch. Einfacher, als der Nachweis einer berufsbedingten Erkrankung ist dagegen der Nachweis der Missachtung von Arbeitsschutzvorschriften: Wenn Sie noch nicht erkrankt wird, aber der Arbeitgeber bei der Prävention versagt, dann kann das Arbeitsschutzgesetz helfen: § 17 ArbSchG

Rechte der Beschäftigten

(2) Sind Beschäftigte auf Grund konkreter Anhaltspunkte der Auffassung, daß die vom Arbeitgeber getroffenen Maßnahmen und bereitgestellten Mittel nicht ausreichen, um die Sicherheit und den Gesundheitsschutz bei der Arbeit zu gewährleisten, und hilft der Arbeitgeber darauf gerichteten Beschwerden von Beschäftigten nicht ab, können sich diese an die zuständige Behörde wenden. Hierdurch dürfen den Beschäftigten keine Nachteile entstehen. …

Meinen Sie als Arbeitnehmer, dass psychische Fehlbelastungen ihre Gesundheit beinträchtigen, dann sollten Sie den Sachverhalt so gut dokumentieren, dass Dritte (Arzt, Betriebsrat, Krankenkasse, Berufsgenossenschaft, Gewerbeaufsicht, Rechtsanwalt, Richter usw. ) ihn ohne zusätzliche Erläuterung verstehen. Diese Dokumentation kann Ihnen und Familienangehörigen im Krankheitsfall weiterhelfen.
Es kann sinnvoll sein, dass Sie sich vor einer Anzeige an Behörden mit der Gewerkschaft beraten, bei der Sie Mitglied sind. Hier ist inzwischen auch im Bereich der psychisch wirksamen Belastungen genügend Kompetenz aufgebaut worden, um Gewerkschaftsmitgliedern, deren Recht auf Arbeitsschutz missachtet wird, weiterhelfen zu können.