Arbeitsschutzbehörden nicht ausreichend ausgestattet

http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/19/010/1901011.pdf (2018-03-01)

Drucksache 19/1011
Antwort der Bundesregierung
auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten
Beate Müller-Gemmeke, Markus Kurth, Sven Lehmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
– Drucksache 19/529 –
Prüftätigkeit beim Arbeitsschutz
Vorbemerkung der Fragesteller
Die Arbeitswelt hat sich beschleunigt und verdichtet. In der Folge steht neben der physischen Gesundheit mittlerweile vor allem auch die psychische Gesund­ heit der Beschäftigten im Mittelpunkt. Dem muss der Arbeitsschutz gerechtwerden. Denn gute und gesunde Arbeitsbedingungen sind eine Zukunftsinves­tition, die sich für die Betriebe und die Menschen gleichermaßen lohnen. Sie sind nicht nur eine Verpflichtung den Menschen gegenüber, sondern auch be­triebs- und volkswirtschaftlich sinnvoll. Nur mit guten und gesunden Arbeits­bedingungen sowie angemessen ausgestalteten Arbeitsplätzen werden die Be­schäftigten ihrer Arbeit bis zum Renteneintrittsalter nachgehen können. Deshalb ist der Bedarf an guter Beratung und effektiven Kontrollen seitens der Auf­sichtsbehörden groß.
Eine Kleine Anfrage (Bundestagsdrucksache 17/10229) hatte 2012 deutlich ge­macht, dass die Arbeitsschutzbehörden in den Bundesländern für effektive Kon­trollen personell nicht ausreichend ausgestattet waren. Mit dieser Kleinen An­frage soll erneut eine Bestandsaufnahme gemacht und überprüft werden, ob sich an der Handlungsfähigkeit der Behörden im Arbeitsschutz seit 2012 etwas ver­bessert hat.

Nach allem, was seit der Veröffentlichung der Bundestagsdrucksache 17/10229 (nicht) passiert ist, kann man von einer vorsätzlichen Schwächung des Arbeitsschutzes durch die für die Arbeitsschutzaufsicht verantwortlichen Landesbehörden ausgehen.
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Reha: Reparaturwerkstatt für die Unternehmen

Dank gewollt überforderter Aufsichtsbehörden brauchen Unternehmen die vorgeschriebene Verhältnisprävention zur Minderung psychischer Fehlbelastungen nicht ernsthaft durchzuführen. Ich halte das für kriminell. Aber solange Politiker von den Unternehmen gut gepflegt werden können, wird es keine Gesetzgebung geben, die den Rechtsbruch der großen Mehrheit der Unternehmer kriminell macht.
Reha Maßnahmen wegen psychischer Erkrankungen nehmen zu:

  • B5 aktuell (Start im Podcast: 19m34s): “Von allen Arbeitnehmern, die eine Erwerbsminderungsrente bewilligt bekommen, habe 43% psychische Probleme.” Da geht es dann auch schon nicht mehr um eine Reha, die es den Geschädigten ermöglicht, weiterzuarbeiten.
  • perspektive-online.net
  • Deutsche Rentenversicherung

Das seit etwa 2010 gängige Narrativ ist, dass psychische Erkrankungen inzwischen besser erkannt und damit häufiger diagnostiziert würden, als das früher der Fall war. Zudem sei die Stigmatisierung in der Gesellschaft rückläufig. Auf den nachhaltigen Rechtsbruch der sich seit 1997 über die Vorschriften des Arbeitsschutzes stellenden Unternehmer wird nicht eingegangen. Wir scheinen zu blöd zu sein, zu verstehen, dass dieser Rechtsbruch Folgen hat: Die Täter in der Wirschaft können sich weiterhin ungestraft bei der Gemeinschaft der Versicherten bedienen.
Das Staatsversagen hält schon lange an, ist also Vorsatz. Es funktioniert für die Unternehmen recht gut.

Politisch gewollter Rechtsbruch in Deutschland

Ich kümmere mich kaum noch um dieses Blog, aber möchte diese heutige Meldung doch kommentieren:
https://www.focus.de/finanzen/news/wirtschaftsticker/umfrage-betriebsraete-beklagen-gestiegenen-arbeitsdruck_id_8525605.html

Montag, 26.02.2018, 11:26
Die größeren deutschen Unternehmen sind auf die Herausforderungen der Digitalisierung und des gleichzeitigen demografischen Wandels nicht ausreichend vorbereitet.
Das ist das Fazit einer am Montag veröffentlichten Betriebsrätebefragung der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf. […]
[…] Beim Gesundheitsschutz führten drei von vier Betrieben die vorgeschriebenen Gefährdungsabschätzungen nicht wie vorgeschrieben durch, berichteten die Arbeitnehmer. […]

Das Gejammer nervt. Hier ist doch nichts mehr neu! Die große Mehrheit der Unternehmer kann sich über Recht und Gesetz stellen, weil das offensichtlich erlaubt ist. Und faktisch erlaubt ist das, weil das Versagen der überforderten und eingeschüchterten behördlichen Aufsicht politisch gewollt ist. Trotz besten Bemühens fällt mir dazu nun wirklich keine bessere Erklärung mehr ein.
Im Jahr 2012 führten 80% der Unternehmen keine Beurteilung psychischer Belastungen durch.
Im Jahr 2018 wird nun berichtet, dass sich immer noch satte 75% der Unternehmen frech über Recht und Gesetz stellen.
Diese Anarchie herrscht seit mindestens 2004, nachdem das BAG die seit 1997 bestehende Pflicht zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen klarstellte. Das kann kein Zufall mehr sein, sondern geht nur, wenn dieser Rechtsbruch politisch gewollt ist.
Kann man die Mehrzahl dieser Unternehmer und die mit ihnen zusammenarbeitenden Aufsichtsbehörden deswegen “kriminalisieren”? Wie nennt man Leute, die zulassen, dass Menschen durch vorsätzlich mangelhafte Kontrolle arbeitsbedingt krank werden? Diese Art von “Nachhaltigkeit” ist ziemlich ekelhaft. Wie kann man den Rechtsstaat noch schützen, wenn Politiker, die mit ihnen verbundenen Unternehmer und die oberen Behörden die unteren Aufsichtsbehörden (nicht nur im Arbeitsschutz) so ausbremsen, dass sie ihre Aufgabe gar nicht erfüllen können? Solche Politiker leisten vorsätzlich Beihilfe zur Körperverletzung.
Hier gibt’s mehr: https://idw-online.de/de/news689789

Außer Kontrolle

Markus Balser schrieb in seinem Kommentar “Außer Kontrolle” in der Süddeutschen Zeitung (2017-04-25, S. 4):

Keine einzige [Regierung] hat ihre Kontrollsysteme grundlegend überarbeitet. Die Autoindustrie macht damit in diesen Wochen vor, wie Schwindel und Tricksereien im großen Stil ungestraft funktionieren.

Am Abgasskandal können wir sehen, dass das Aufsichtswesen in Deutschland tatsächlich eine Kumpanei von Politik und Autobranche zulässt. Selbst nachdem das offensichtlich zutage trat:

Die Kumpanei von Politik und Autobranche geht einfach weiter.

Kuschelt die Politik nur mit der Autobranche? Die Politik bestimmt nicht nur beim Kraftfahr-Bundesamt, wie milde Prüfer vorgehen sollten, sondern kann auch den Prüfern der Gewerbeaufsichten Hinweise geben, wie freundlich systemwichtige Unternehmen zu behandeln sind.
Spätestens im Jahr 2005 war nach einem Beschluss der Bundesarbeitsgerichts klar, dass alle Arbeitgeber die Pflicht haben, zu den psychischen Belastungen, die von den Arbeitsbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen aines Betriebes ausgehend auf die in dem Betrieb Beschäftigten wirken, hinsichtlich möglicher Gefährdungen der psychischen Gesundheit zu beurteilen.
Der Staat erlaubt nicht nur der Autoindustrie, Schutzvorschriften zu ignorieren: Im Jahr 2012 wurde im Bundesestag klar, dass etwa 80% der Betriebe in Deutschland keine Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastungen durchführten.
Kürzlich wieder besuchte die Gewerbeaufsicht irgendwo in Deutschland einen großen Betrieb, in dem hunderte Mitarbeiter bei einer externen Befragung angaben, dass der Schutz ihrer psychischen Gesundheit nicht gewährleistet sei. Aber anstatt nachzuforschen, wie dieses Misstrauen der Mitarbeiter zu erklären ist, lobt die Gewerbeaufsicht ein Pilotprojekt zur Gefährdungsbeurteilung, mit dem vor Jahren Daten zur Belastung der Mitarbeiter erhoben wurden, deren Auswertung ziemlich schleppend verlief. Es gibt darüber hinaus im Arbeitsschutzmanagementsystem des Unternehmens kein reguläres Verfahren zur Beurteilung psychischer Belastungen. Auch ganz einfach zu erkennende Vorfälle psychischer Fehlbelastungen werden nicht einmal gemäß den internen Standards des Unternehmens erfasst und beurteilt. Ein privates Auditunternehmen, das die Einhaltung dieser Standards prüft, bestätigt den Betrieben der Firma trotzdem, dass das Arbeitsschutzmanagementsystem vollständig sei.
Die Gewerbeaufsicht und das Unternehmen jammern gemeinsam über die Komplexität des Themas, obwohl beide wissen, dass der Betriebsrat schon im Jahr 2008 Zweifel daran angemeldet hatte, dass die psychische Gesundheit in den Betrieben des Unternehmens ausreichend geschützt sei. Seit dieser Zeit wurden in dem Unternehmen viele andere komplexe Aufgaben bewältigt, unter anderem ein Leistungsbeurteilungsprozess. Aber einen regulären Prozess für Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastungen gibt es immer noch nicht.
Die Gewerbeaufsicht zeigt Verständnis für das Unternehmen: Ein Grund für die Komplexität der Beurteilung psychischer Belastungen sei, dass die Menschen individuell unterschiedlich auf Belastungen reagierten. Hier zeigen nun Gewerbeaufsicht und das milde geprüfte Unternehmen gemeinsam, dass sie unsere verhältnispräventiv angelegten Arbeitsschutzvorschriften bis heute nicht verstanden haben. Bei der verhältnispräventiv orientierten Beurteilung der von Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen ausgehenden und auf die Mitarbeiter wirkenden psychischen und psychischen Belastungen spielen individuelle Unterschiede bei den Reaktionen auf die Belastungen nämlich gar keine Rolle.
Ein Arbeitsplatz ist keine Person. Es müssen darum keine personenbezogenen Daten erhoben werden, mit denen man eine Gefährdungsbeurteilung von Arbeitsplätzen (d.h. von Prozessen, Arbeitsmitteln, Arbeitsbedingungen, Software usw.) zu einer Geheimsache machen kann, was Arbeitgeber trotzdem immer wieder gerne versuchen. Im Arbeitsschutz kommen Arbeitsplätze auf die Couch, nicht die Mitarbeiter.

Unternehmen stehen über dem Gesetz

http://www.arbeitsschutz-portal.de/beitrag/magazine/5047/gefaehrdungsbeurteilung-kmu-und-dienstleistung-hinken-hinterher.html

Gefährdungsbeurteilung: KMU und Dienstleistung hinken hinterher
BAuA-Studienergebnisse: Fast 50 % der Betriebe machen einfach keine GBU
07. April 2016 [ BAuA ]
Die Gefährdungsbeurteilung ist zwar für jeden Arbeitsplatz gesetzlich vorgeschrieben – sowohl Quantität als auch Qualität lassen dabei aber zu wünschen übrig. Das hat eine repräsentative Befragung von 6.500 Betrieben ergeben, deren Ergebnisse die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA) jetzt in der Publikation „Prevalence and quality of workplace risk assessments – Findings from a representative company survey in Germany“ veröffentlichte. Im Klartext: Fast 50 % der Betriebe in Deutschland machen gar keine Gefährdungsbeurteilung. Nur in einem von vier Betrieben werden GBU vollständig durchgeführt. Der Rest der Unternehmen führt Gefährdungsbeurteilungen zwar durch, lässt aber wichtige Aspekte einfach weg, wie die Umsetzung von Maßnahmen, die Wirksamkeitskontrolle oder die Dokumentation.
Ob und wie gut GBU durchgeführt werden, hängt von folgenden betrieblichen Merkmalen ab:

  • Betriebsgröße: je größer, desto wahrscheinlicher sind GBU
  • Ob eine Fachkraft für Arbeitssicherheit (Sifa) und/oder ein Betriebsarzt bestellt sind: Wenn ja, sind GBU wahrscheinlicher
  • Ob es einen Personalrat oder einen Betriebsrat gibt: Wenn ja, sind GBU wahrscheinlicher
  • Ob die wirtschaftliche Lage des Unternehmens gut ist: Wenn ja, sind GBU wahrscheinlicher
  • Ob es sich um einen Betrieb aus dem produzierenden Gewerbe handelt. Diese setzen GBU häufiger um als solche aus dem Dienstleistungssektor

Die BAuA empfiehlt bessere Beratung und Überwachung durch Arbeitsschutzträger vor allem in Kleinbetrieben und im privaten Dienstleistungssektor.

Der Artikel ist nicht mehr ganz neu, aber dass in Deutschland Unternehmen sich weiterhin über das Gesetz stellen dürfen, ist auch nicht mehr neu. Das läuft nun schon so lange, dass ich davon ausgehe, dass die Möglichkeit, ungestraft gegen Arbeitsschutzvorschriften zu verstoßen, politisch gewollt ist.
Hier werden KMU (kleine und mittlere Unternehmen) auf’s Korn genommen. Bei großen und politisch gut vernetzten Unternehmen hat die Gewerbeaufsicht ohnehin keine Chance, wohl auch darum widmet sie sich den schwächeren KMUs. Die großen Unternehmen zeigen dagegen einfach ihr Zertifikat (z.B. OHSAS 18001) vor, mit denen die vom ihnen ausgesuchten und möglichst unkritischen Zertifikatsmühlen die Vollständigkeit ihres Arbeitsschutzmanagementsystems auch dann bescheinigen, wenn damit der Themenbereich der psychischen Belastungen nicht abgedeckt wird. Dieser Themenbereich ist dann im Konzern natürlich nicht mit Matrix-Audits überprüfbar.
 
http://www.baua.de/de/Publikationen/Aufsaetze/artikel100.html?src=asp-cu&typ=pdf&cid=5047

[…] Grundlage der Untersuchungen ist eine repräsentative Befragung von Arbeitsschutzverantwortlichen aus 6.500 Betrieben, die im Jahr 2011 für die Zwecke der Dachevaluation der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) durchgeführt wurde. […] Die Ergebnisse zeigen, dass fast die Hälfte der Betriebe in Deutschland gar keine Gefährdungsbeurteilung durchführt und nur jeder vierte Betrieb eine vollständige Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung bestätigt. […]

Die Forscher sind nicht sehr gut dabei, zu überprüfen, ob sie angeschummelt werden. Dazu hätten auch die jene Betriebsräte in die “repräsentative Umfrage” mit einbeziehen müssen, die noch mit dem Arbeitgeber über einen erstmaligen Einbezug psychischer Belastungen in das Arbeitsschutzmanagementsystem verhandeln.

Kriminelle Aufsichtsbehörden

Ich halte Aufsichtsbehörden, die über viele Jahre hinweg Kriminalität zulassen, selbst für kriminell.
Trifft das auf bayerische Aufsichtsbehörden zu, wenn sich dort Tierärztinnen und Tierärzte vor ihrer eigenen Behördenführung fürchten müssen, wenn sie über massive und vorsätzliche Verstöße gegen den Tierschutz in Schlachtbetrieben berichten wollen?
Trifft das auf das Kraftfahrzeugbundesamt zu, wenn die oberen Führungsebenen Hinweise aus der unteren Behördenhierarchie auf Manipulationen bei der Motorkontrolle in Kraftfahrzeigen ignorierten?
Im Lebensmittelbereich müssen den Prüfern die Kakerlaken wohl schon direkt über die Nase krabbeln, damit dagegen eingeschritten wird.
Hier handelt es sich um klar erkennbare Verstöße, gegen die seit vielen Jahren nicht vorgegangen wird. Sie sind einfach zu erkennen. Wie sieht es da erst bei der Überwachung des Einbezugs psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz aus? Das Thema ist leider (aus Sicht der Arbeitnehmer) etwas komplexer. Hat denn immer noch niemand kapiert, was die Verstöße der Mehrheit der großen deutschen Betriebe im Bereich der psychischen Belastungern über die Qualität der behördlichen Aufsicht und die Verantwortlichkeit der für die miserablen Zustände verantwortlichen Politiker aussagen?
Das behördliche Aufsichtswesen in Deutschland ist verrottet. Ob es kriminell ist, müsste durch gründliche Recherche überprüft werden.

Fehlende Begeisterung für OHSAS 18001 bei DNV-GL?

DNV-GL sendet mir Werbung zu Seminaren über ISO 9001, DIN EN 9100, ISO 14001, ISO 22000, ISO 27001 und ISO 50001. Größere Schwierigkeiten scheinen die Betriebe in Deutschland jedoch mit OHSAS 18001 zu haben. Das liegt vermutlich nicht nur daran, dass der heftig umstrittene Standard ISO 45001 vielleicht 2017 der Nachfolger dieses Standards für Arbeitsschutzmanagement werden soll. (Mit ISO 45001:2016 wird das nichts mehr.)
Ich wünsche mir von der Zertifizierungsbranche Trainings und kritischere Audits insbesondere im Arbeitsschutz. Hier sind die Arbeitnehmer die “Stakeholder”, was meiner Ansicht nach bei Audits von Arbeitsschutzmanagementsystemen für die Arbeitnehmervertreter immer noch nicht ausreichend spürbar wird. Auch sollte DNV-GL Arbeitnehmervertretern Seminare anbieten, die sie zur Durchführung interner (ISO 19011) Audits von Arbeitsschutzmanagementsystemen befähigen. Auch die Gewerkschaften vernachlässigen das Thema der Standards für Arbeitsschutzmanagementsysteme. Das ist schlecht, denn der Arbeitsschutz in Deutschland verträgt durchaus noch Verbesserungen bei der disziplinierten Umsetzung sowohl freiwillig ausgewählter wie auch gesetzlich vorgeschriebener Regeln.
Vielleicht sollte doch einmal die gesamte Struktur nicht nur der der behördlichen Aufsicht, sondern auch des privatisierten Audit(un)wesens unter die Lupe genommen werden. Denn vor welchen Unannehmlichkeiten müssen sich Zertifizierungsauditoren (und die Deutsche Akkreditierungsstelle, also die DAkkS) mehr fürchten: vor unzufriedenen Arbeitnehmern oder vor Unternehmen, die sich bei der Auswahl von Zertifizierern vermutlich nicht für den strengsten Auditor entscheiden werden? Die Arbeitnehmer sind zwar die “Stakeholder”, aber wirklich respektiert werden sie weder von der DAkkS, noch von den Zertifizierungsauditoren. In Deutschland ist das verständlich, denn die behördlichen und privaten Prüfer haben ja auch keinen überzeugenden Grund, solch einen Respekt zu entwickeln. Dafür tragen auch die Gewerkschaften eine Verantwortung.

Warum Handlungshilfen nicht helfen

Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung Handlungshilfe für die betriebliche Praxis (Mai 2015) ist eine Veröffentlichung der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG). Der Rundbrief von Hans-Peter Gimbel machte mich darauf aufmerksam.
Wieder eine gute Handlungshilfe. Es gibt so viele davon. Zu viele Arbeitgeber wollen psychische Belastungen aber einfach nicht beurteilen. Insbesondere wenn Unternehmen groß und politisch gut vernetzt sind, dann brauchen sie das auch nicht zu tun, denn die Berufsgenossenschaften und Gewerbeaufsichten sind zu schwach, um das Arbeitsschutzgesetz wirksam durchsetzen zu können. Es ist zumindest bei Großunternehmen einfach so, dass sowohl für die behördliche Aufsicht wie auch für die Zertifizierungsauditoren Konflikte mit diesen Unternehmen unangenehmer sind, als Konflikte mit psychische fehlbelasteten Arbeitnehmern, die Fehlbelastungen praktisch so gut wie nie werden nachweisen können.
Selbst dort, wo von einer Betriebsleitung unterschrieben dokumentiert ist, dass psychische Belastungen nicht von dem Arbeitsschutzmanagementsystem des Unternehmens (mit dem der Betrieb aber fleißig wirbt) erfasst werden, gibt es seit Jahren weder Kritik von der behördlichen Aufsicht noch von den Zertifizierungsauditoren. Es wird nur lobend festgestellt, dass das Arbeitsschutzmanagementsystem z.B. nach OHSAS 18001 zertifiziert ist. Das reicht den Auditoren dann auch, und sie sehen nicht mehr genauer hin. Unter den geschlossenen Augen der Aufsicht schaffen solche Unternehmen es dann, die Dokumentation auch offensichtlicher psychischer Fehlbelastungen zu vermeiden.
Gegen unaufmerksame Kontrollen und allzu kundenfreundlichen Audits können auch die Betriebsräte im komplexen Gefährdungsbereich der psychischen Belastungen nichts unternehmen, denn dank der unaufmerksamen Aufsicht können Großunternehmen behaupten, dass Alles in Ordnung sei. Zwar ist die behördliche Aufsicht systemisch (und vermutlich politisch gewollt) überfordert, aber sie ist immer noch stark genug, Betriebsräte so zu beeindrucken, dass die Arbeitnehmervertreter sich nicht trauen, das Urteil der Aufsicht in Frage zu stellen.
Unter diesen Bedingungen können Handlungshilfen natürlich nicht so helfen, wie sie helfen sollten.

Arbeitszeitrecht als Arbeitsschutz

In einem großen Unternehmen verteilte die dortige IGM-Gruppe gestern in ihren Mitteilungen an die Belegschaft einen langen Artikel zur psychischen Belastung. “Flexible” Arbeitszeiten im Weltkonzern führen zu psychischen Fehlbelastungen. Das Arbeitsschutzrecht wurde in dem Artikel mit keinem Wort erwähnt, sondern es ging um das Arbeitszeitrecht.
Ich habe Verständnis dafür: Derzeit gibt es in etwa 75% der deutschen Betriebe immer noch keine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen. (Im Jahr 2012 waren es 80%.) Die behördliche Aufsicht ist machtlos (oder wird von politischen Führungen machtlos gehalten) und die privatwirtschaftlichen Auditoren von Arbeitsschutzmanagementsystemen sorgen unter den Augen der DAkkS dafür, dass ihre Klienten (die auditierten Betriebe) nicht durch sorgfältige Audits verschreckt werden. Man will ja im Geschäft bleiben.
Bei der Arbeitszeit ist es nicht besser. Undokumentierte Mehrarbeit wird immer wieder versucht. Aber das Thema “Arbeitszeit” ist weitaus weniger komplex, als der Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz. Deswegen habe ich Verständnis dafür, dass die IGM scharf auf die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes achtet und dass Betriebsräte immer wieder die Arbeitszeitprotokolle der Mitarbeiter überprüfen. Das ist wohl einer der wirksamsten Hebel im Arbeitsschutz.
Ich selbst habe in Korea häufiger öfters auch mal 14 Stunden am Tag gearbeitet und mich dabei sehr wohl gefühlt, fast schon in Trance. Das war Softwareentwicklung “im Flow”, wobei ich überhaupt nicht unterbrochen werden wollte. In bestimmten Fällen ist auch lange Arbeit ein Vergnügen. Wegen solcher Beispiele könnte man au die Idee kommen, die Arbeitszeitregelungen in Deutschland “flexibilisieren” zu wollen.
Aber im Arbeitsschutz herrscht Anarchie. Solange Arbeitgeber sowohl von der behördlichen Aufsicht geduldet und wie auch von unkritisch prüfenden Auditoren abgesichert gegen das Arbeitsschutzgesetz verstoßen dürfen, muss jeder Versuch, irgend etwas am Arbeitszeitgesetz zu drehen, mit aller Kraft abgewert werden. Die IGM hat völlig recht: Solange Arbeitgeber im Arbeitsschutz in ihrer großen Mehrheit geltendes Recht brechen dürfen und dabei vor Körperverletzungen nicht zurückschrecken, sind die Betriebsleitungen selbst daran schuld, wenn der Arbeitszeitknüppel immer wieder herausgeholt werden muss.

2009: Beschränkte staatliche Aufsicht

LV 52 (2009) Integration psychischer Belastungen in die Beratungs- und Überwachungspraxis der Arbeitsschutzbehörden der Länder:

[…] trotz vielfältiger Aktivitäten ist es auch für die Aufsichtsbeamtinnen und –beamten der Arbeitsschutzbehörden noch nicht selbstverständlich, bei der Bewertung betrieblicher Gefährdungsbeurteilungen auch psychische Faktoren zu berücksichtigen. Diese werden nicht selten als „Extra“ betrachtet, auf die eingegangen werden kann, wenn alle anderen Arbeitsschutzaspekte erledigt wurden. Eine solche Prioritätensetzung erfolgt oft mit dem Hinweis, dass gezieltes Aufsichtshandeln zur Reduktion psychischer Belastungen nur sehr eingeschränkt möglich sei, da der Rückgriff auf Normen und Sanktionen schwierig ist. Demzufolge beschränkt sich die staatliche Aufsicht in der Regel auf reines Beratungshandeln.
Diese Sichtweise geht am zentralen Ziel des Arbeitsschutzgesetzes vorbei, das eine umfassende Prävention von gesundheitlichen Risiken einfordert. Hier müssen staatliche Arbeitsschutzbehörden den Erfordernissen moderner Arbeitswelten nachkommen und ihrer institutionellen Schutzfunktion gerecht werden. Der Fokus des Aufsichtshandelns ist dabei auf Tätigkeiten zu legen, in denen in besonderem Ausmaß mit gesundheitlichen Folgen psychischer Belastungen zu rechnen ist. […]

Siehe auch: Petition an den deutschen Bundestag, Januar 2009
Wie weit sind wir nun im Jahr 2016?
        Ein Gewerbaufsichtsbeamter besucht ein Unternehmen zur Inspektion des dortigen Arbeitsschutz. Thema ist unter Anderem ein Fall, in dem ein Mitarbeiter vom Unternehmen massiv unter Druck gesetzt wurde, nachdem er eine Fehlbelastung meldete. (Später melden noch andere Mitarbeiter ähnliche Fehlbelastungen, erst dann handelte das Unternehmen.) Obwohl der Gewerbeaufsichtsbeamte kompetent im Bereich des Einbezugs psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz ist, wird wieder wird fast nur beraten. In seinem Bericht findet sich nicht einmal die Andeutung von Kritik am Arbeitgeber für einen der übelsten Fehler, die im Arbeitsschutz gemacht werden können.
        Statt dessen findet der Beamte Platz in seinem Bericht, die Nichtteilnahme des vom Arbeitgeber zur Besprechung eingeladenen betroffenen Mitarbeiters so darzustellen, als ob der Mitarbeiter seine Teilnahme grundlos abgelehnt habe. Der Aufsichtbeamte wusste, dass die Betriebsleitung erreicht hatte, dass ein von der Sicherheitsfachkraft zu Besprechung eingeladenes Betriebsratmitglied nicht an der Besprechung teilnahm, weswegen dann auch der Mitarbeiter der Besprechung fernblieb. Der Aufsichtsbeamte lässt das unerwähnt.
        Von der Gewerbeaufsicht gab es in ihrem Bericht keine Kritik am Arbeitgeber, nicht im kleinen Detail, aber auch nicht im Großen: In dem Betrieb gibt nämlich immer noch es kein geregeltes Verfahren zum Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz. Das steht nicht im Einklang mit dem Arbeitsschutzgesetz. Die Gewerbeaufsicht guckt zu, wie das Unternehmen seit Jahren daran arbeitet. Es gibt keine Zielvereinbarung.
Apropos Zielvereinbarung: Deutlich wurde die – sage wir mal – “höfliche” Zurückhaltung der Gewerbeaufsicht beispielsweise in Bayern. Noch im Jahr 2011 schrieb sie in ihrem Internet ganz forsch:

Psychische Fehlbelastungen lassen sich vermeiden. Die bayerische Gewerbeaufsicht überprüft die Betriebe und legt die Abhilfemöglichkeiten in einer Zielvereinbarung fest.

Aber schon das ist in Bayern anscheinend zu respektlos gegenüber den Unternehmen. Die Gewerbeaufsicht knickte ein und entfernte diesen Text aus ihrem Internetauftritt: Servus Zielvereinbarung!
Es liegt eben nicht daran, dass der Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz für die Gewerbeaufsicht ein Nebenthema sei. Im Gegenteil, es ist ein brisantes Hauptthema. Auch fehlt der Gewerbeaufsicht die Fachkompetenz nicht so, wie früher. Aber selbst mit der Materie vertraute Gewerbeaufsichtsbeamte scheuen den Konflikt mit von ihnen geprüften Unternehmen, insbesondere bei Großbetrieben. Den Aufsichtspersonen auf der unteren Ebene der Gewerbeaufsicht fehlt schlicht die für die Durchsetzung der Arbeitsschutzvorschriften erforderliche Autorität. Das ist das eigentliche Problem.
Das Aufsichtswesen in Deutschland schützt die Wirtschaft. Das ist in Ordnung, den wir alle brauchen eine gesunde Wirtschaft. Allerdings sollten die Behörden dabei auch an ihren gesetzlichen Auftrag denken und kritisch prüfen, ob die Gesundheit der Mitarbeiter ausreichend geschützt wird. Einige Aufsichtspersonen auf der unteren Ebene trauen sich von vorne herein nicht und wählen den Weg des geringsten Widerstandes: Beratung ohne Aufsicht.
Die Mutigeren unter den Aufsichtspersonen versuchen, kritisch zu prüfen. Das kann gefährlich für sie werden: Wenn sie wirklich ernsthaft prüfen, kann ihnen die Politik in den Rücken fallen. Den krassesten Fall gab es hier in Hessen. Sorgfältig arbeitende Steuerfahnder wurden von ihrem Arbeitgeber (der ihnen eigentlich Rückhalt hätte geben müssen) als psychisch krank erklärt.