Arbeitsschutz 2002:Lücke zwischen Vorschriften und ihrer Umsetzung

http://www.boeckler.de/pdf/fof_zwischenbericht.pdf

Bertelsmann Stiftung
und
Hans Böckler Stiftung
Expertenkommission
Betriebliche Gesundheitspolitik
Zwischenbericht
(Gütersloh/Düsseldorf, 22. November 2002) …

S. 11 (PDF: S. 13/80):

… Betriebliche Gesundheitspolitik hat heute in den Unternehmen geringe Priorität – oft über alle Akteursgruppen hinweg. Unternehmen müssen für eine moderne betriebliche Gesundheitspolitik zumeist erst noch befähigt werden. Kleine und mittlere Unternehmen sollten dabei besondere Berücksichtigung finden. Aber auch in größeren und großen Unternehmen besteht aus unserer Sicht beträchtlicher Handlungs- und Entwicklungsbedarf. Befähigung durch Qualifizierung und Austausch von „best-practice“-Beispielen ist wichtig, reicht jedoch nicht aus, um das Eigeninteresse der Betriebe zu wecken. Auch der Gesetzgeber stößt hier an Grenzen, zumal seine Aufsichtsdienste immer mehr der Haushaltslage wegen abgebaut werden. Finanzielle Anreize sollten als „Hebel“ zur Aktivierung betrieblicher Gesundheitspolitik eingesetzt werden. …

S. 12 (PDF: S. 14/80):

Dass Arbeitsschutz eine klassische Aufgabe für Arbeitnehmervertretungen ist, wird nicht immer ausreichend wahrgenommen. Arbeitgeber halten dies oft für eine lästige Pflicht. Notwendigkeiten für ein modernes betriebliches Gesundheitsmanagement und auch seine Möglichkeiten werden oft nicht gesehen oder ernst genommen. …

… Der Staat hat mit seiner neuen Gesetzgebung wichtige Weichen gestellt. Es besteht jedoch eine Lücke zwischen Vorschriften und ihrer Umsetzung. Hier sieht die Kommission Handlungsbedarf. Wie zukünftig die Zusammenarbeit zwischen Staat (Bund, Ländern) einerseits und den Unternehmen andererseits zu gestalten sei – auch bei immer angespannterer Lage der staatlichen Haushalte – bedürfe dringend der Diskussion. Klar sei, dass der Staat sich einerseits „auf dem Rückzug“ befinde, andererseits durch die Notwendigkeit zum verstärkten Arbeiten mit finanziellen Anreizen vor neuen Herausforderungen stehe – auch was seine zukünftigen Prüfpflichten betrifft – Stichworte: externe Qualitätssicherung betrieblichen Gesundheitsmanagements und „neuer Interventionstyp“.
Ansätze für einen fortschrittlichen Arbeitsschutz und eine innovative betriebliche Gesundheitspolitik bieten das Arbeitsschutzgesetz seit 1996 und auch das Arbeitssicherheitsgesetz. Ebenso finden sich im SGB VII und SGB V Ansätze. Daher sind im materiellen Recht schon Ansätze vorhanden. Einigkeit besteht, dass es bei der Umsetzung mangelt, jedoch die Gesetze nicht Reformen be- oder verhindern. Die gesetzlichen Grundlagen sollen effizient genutzt werden. Darüber hinaus ist ein neuer Interventionstyp insbesondere für die überbetrieblichen Akteure erforderlich. …

(Hervorhebungen nachträglich eingefügt)
Die “Lücke zwischen Vorschriften und ihrer Umsetzung” ist also schon seit langer Zeit bekannt.
Die heute den Unternehmen von Ursula von der Leyen zugestanden “Unwissenheit und Hilflosigkeit” ist einfach nicht glaubhaft. Die Arbeitgeber haben versagt: Die Experten setzten im Jahr 2002 auf das Eigeninteresse und die Eigenverantwortung der Unternehmer. Heute wissen wir, dass das unrealistisch war. Der “neue Interventionstyp” hat offensichtlich nicht funktioniert, wohl auch wegen Illusionen hinsichtlich dessen, was Unternehmer motiviert. Die Unternehmer haben ihre Chance verspielt, die ihnen gewährte Schonfrist verschlafen und ließen (selbst nach Auffasung der Arbeitsministerin) das Thema der psychischen Belastung einfach schleifen. Der Hauptmotivator ist und bleibt also die Pflicht zur Erfüllung gesetzlicher Verpflichtungen. Da Einsicht seit mehr als 15 Jahren nicht funktioniert, muss die Erfüllung dieser Pflicht nun wohl doch mit Hilfe von strengeren Kontrollen und Sanktionen durchgesetzt werden. Neue Vorschriften sind eigentlich nicht nötig.

Schlusslicht Deutschland

DER WESTEN
http://www.derwesten.de/gesundheit/mehr-arbeitsschutz-vor-psychischen-belastungen-gefordert-id6438849.html

Mehr Arbeitsschutz vor psychischen Belastungen gefordert
09.03.2012 | 11:30 Uhr
Freiburg – Beim europaweiten Vergleich im Bereich Arbeitschutz bei psychischer Belastung schneidet Deutschland am schlechtesten ab. Dabei verursacht das sogenannte “Burnout-Syndrom” erhebliche Einbußen – sowohl bei der Arbeit als auch im alltäglichen Leben.
Arbeitgeber sollten Burnout-Erscheinungen ihrer Mitarbeiter nach Einschätzung des Freiburger Psychiatrie-Professors Mathias Berger viel ernster nehmen. In Deutschland gebe es auf diesem Gebiet europaweit den geringsten Arbeitsschutz, kritisiert Berger. In Frankreich, Skandinavien oder den Benelux-Staaten sei man auf diesem Gebiet viel weiter. …

 
FOCUS
http://www.focus.de/finanzen/karriere/psychiater-mathias-berger-gewerbeaufsicht-soll-gegen-burn-out-einschreiten_aid_695332.html

… Frankreich, Belgien und Dänemark hätten Verordnungen erlassen, in denen die Beseitigung psychosozialer Missstände am Arbeitsplatz, von Überlastung bis Mobbing, eingefordert werde wie Unfallverhütungsmaßnahmen, so Berger.’Auf die FOCUS-Frage, ob die Arbeitnehmer verlernt hätten, zwischen Beruf und Freizeit zu unterscheiden, antwortete er: „Viele Arbeitnehmer sehen sich einer paradoxen Freiheit gegenüber: Der Freiheit, unermüdlich am beruflichen Fortkommen zu werken, seines eigenen Glückes Schmied zu sein.“ …

Kontrolldruck

http://www.sueddeutsche.de/bayern/hygiene-skandal-bei-mueller-brot-rote-ampel-fuer-den-verbraucherschutz-1.1285365

Hygiene-Skandal bei Müller-Brot
Rote Ampel für den Verbraucherschutz
16.02.2012, 10:14 Von Daniela Kuhr
Die Verbraucher hätten schon deutlich früher von den Missständen bei Müller-Brot erfahren. Wenn denn die Verbraucherschutzminister in 2011 eine Hygiene-Ampel eingeführt hätten. Haben sie aber nicht, denn ausgerechnet Bayern hat ein Veto eingelegt.
Mäusekot, Kakerlaken und Motten … … …

Na Mahlzeit. Die zurückhaltende Lebensmittelkontrolle bei Müller-Brot hatte Arbeitsplätze nicht gerettet, sondern sie vernichtet. Verantwortlich ist dafür eine wohl politisch gewollte Schwächung der staatlichen Aufsicht.
Die Lebensmittelkontrolleure fordern mehr Personal. Sie tun das nicht erst seit heute. Von Martin Müller (Vorsitzender des Bundesverbandes der Lebensmittelkontrolleure) erfahren wir (heute in B5 aktuell), dass 2500 Kontrolleure mehr als 1,1 Millionen Betriebe überwachen müssen. Fachleute wüssten seit langer Zeit, das es in vielen Betrieben Hygienemägel gebe. Aber die Kontrolleure könnten den “Kontrolldruck” nicht aufrecht erhalten, den viele Betriebe bräuchten.
Da Politiker das wussten, wollten sie nicht hinsehen. Diesen Vorsatz sehe ich auch bei der Überprüfung der Einhaltung der Arbeitsschutzvorschriften. An den Aufsichtsbeamten liegt das eher nicht, sondern an der politischen Führung. Auch hier stinkt der Fisch immer noch vom Kopf.

Wenn Fehlbelastungen Kakerlaken wären

http://www.nibelungen-kurier.de/?t=news&s=Aus aller Welt&ID=42207

… Mit Blick auf die aus Hygienegründen vorübergehend stillgelegte Großbäckerei Müller-Brot (Landkreis Freising) hat die Verbraucherschutzbeauftragte der Unionsfraktion im Bundestag, Mechthild Heil, eine zu laxe Lebensmittelaufsicht in Bayern kritisiert. …

(Quelle für den Nibelungen Kurier: FOCUS)
Ich dachte, dass Politiker eigentlich einen nicht ganz unerheblichen Einfluss auf die Ausstattung und Kompetenzen der Aufsichtsbehörden haben. Mit der Lebensmittelsicherheit kenne ich mich nicht so aus, aber im Arbeitsschutz ist es die Politik, die die Aufsicht ausbremst. Hoffen wir, dass nicht nur Mechtild Heil (CDU), sondern auch Christine Hadertauer (CSU) und Ursula von der Leyen (CDU) mal ein bisschen Forensik betreiben: Die Politik hat bisher auch billigend zugesehen, wie Unternehmen unter den schläfrigen Augen der Gewerbeaufsicht ganz entspannt den vorgeschriebenen Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz vernachlässigen durften.
Wenn arbeitsbedingte psychische Fehlbelastungen Kakerlaken wären, würden sich Politiker vielleicht intensiver damit befassen müssen.

Staatlich behinderte Gewerbeaufsicht

http://www.igmetall.de/cps/rde/xbcr/SID-577D2ED4-F01794B3/internet/Tipp43_V6_Finale_Screen_0180513.pdf

Gegenwärtig entscheidet jedes Bundesland nach Kassenlage und eigenem Gutdünken, wie viel Personal es für die Gewerbeaufsicht einsetzt. Ich dachte früher, dass eine Steuerprüfung das seltenste Ereignis ist, das einem Betrieb passieren kann. Aber der staatliche Arbeitsschutz schlägt das noch um Längen!

Das meinte Hans-Jürgen Urban (IG-Metall) zur Gewerbeaufsicht. Nun fordert er strengere Durchführungsverordnungen. Ich sehe das kritisch, aber vielleicht hat er leider doch recht.
Während Ursula von der Leyen (CDU) beklagt, dass die Unternehmen den Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz schleifen lassen und Christine Haderthauer (CSU) sogar nach Burnout-Detektiven ruft, versucht Edmund Stoiber (CSU) den Arbeitsschutz noch zusätzlich zu schwächen. Edmund Stoiber arbeitet auf europäischer Ebene daran, ein Instrument zu blockieren, mit dem sich Pflichtverletzungen der Arbeitgeber sehr konkret prüfen lassen. Die Bildschirmarbeitsverordnung ist Edmund Stoiber ein Dorn im Auge. In Betrieben mit Bildschirmarbeit kann man pflichtverletzenden Arbeitgebern mit den Kriterien der Bildschirmarbeitsverordnung sehr leicht ihre Vergehen nachweisen. Es geht da längst nicht mehr nur um Pixelauflösungen, Bildschirmflimmern und technische Parameter. Sondern es geht um die Benutzerfreundlichkeit von Software und die Belastung von Menschen durch Interaktion mit Benutzerschnittstellen. Wenn Arbeitgeber trotz Forderung beispielsweise des Betriebsrates keine Beurteilung der psychischen Belastung durch die Benutzerschnittstellen durchführen, kann auch gezeigt werden, dass sie eine Vorschrift des Arbeitsschutzes vorsätzlich missachten.
Auffallend ist auch die Zurückhaltung der Krankenkassen mit Kritik an der offensichtlichen Missachtung der Pflicht zum Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz bei einer Mehrheit der Unternehmen. Das Bundesarbeitsministerium stellte fest: Die psychische Belastung ist unabdinbarer Bestanddteil des Arbeitsschutzes. Die Pflichten der Arbeitgeber sind klar, aber die Kassen trauen sich nicht, die Versäumnisse der Arbeitgeber bei der Erfüllung ihrer gesetzlichen Pflichten als Rechtsbruch zu kritisiern.
Jetzt wird über eine Verpflichtung der gesetzlichen Kassen diskutiert, ihren Versicherten bei ärztlichen Fehlern zu helfen. Die Kassen sollten auch verpflichtet werden, ihrer Versicherten zu helfen, wenn deren Arbeitgeber gegen die Vorschriften des Arbeitsschutzes verstoßen. Was können wir hier von von den Krankenversicherern erwarten, wenn sie schon klaren Rechtsbruch nicht klar ansprechen? Mit Samthandschuhen gehen auch die Berufsgenossenschaften mit Unternehmen um, die den Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz schleifen lassen. Unternehmern, die Körperverletzungen ihrer Mitarbeiter schon so lange riskieren, das Vorsatz deutlich wird, wird mehr Verständnis entgegengebracht, als Kleinkriminellen. (Entschuldigung bitte, aber wenn Sie diesen Vorwurf zu krass finden, dann denken Sie bitte einmal darüber nach, was die Gewöhnung an Rechtsbruch mit uns selbst anrichtet.)
Die Aufsichtspersonen auf der unteren Ebene kann man für die Sabotage der Arbeitsschutzaufsicht übrigens nicht haftbar machen. Politiker behindern die Arbeitsschutzaufsicht ja nicht durch offene Anweisungen, aktiv wegzusehen. Sondern sie begrenzen einfach die Ressourcen der Aufsicht. Die kann dann erst aktiv werden, wenn sich die Wahrnehmung von Mängeln überhaupt nicht mehr vermeiden lässt. Auf einer Tagung meinte einmal eine Psychologin (die für eine Organisation im Bereich der Arbeitssicherheit Unternehmen beobachtet) zu mir, dass sie erst tätig werden dürfe, “wenn in einem Unternehmen Zustände herrschen wie bei France Télécom”.
Es muss also erst Tote geben. Und dann lassen sich Ursachenzusammenhänge immer noch kaum nachweisen. Als Haftungsgrund müsste ausreichen, mangelnde Prävention nachzuweisen. Dafür ist eine ausreichend mit Ressourcen und Sanktionsmitteln ausgestattete Aufsicht erforderlich. Das kann von der Zielvereinbarung mit kooperativen Unternehmen bis hin zur Einschaltung des Staatsanwalts reichen.

Aufsichtspersonen nutzen ihre Möglichkeiten nicht

2011-10-17 (07:57): An Christine Haderthauer, Bayerische Staatsministerin für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen
http://www.facebook.com/topic.php?uid=121811334556687&topic=61

Es ist für Gewerbeaufsichtspersonen oft schwierig, in den Betrieben den Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz zu überprüfen. Die Überprüfung des § 3 der Bildschirmarbeitsverordnung ist aber ganz einfach. Warum aber nutzen Aufsichtspersonen ihre Möglichkeiten nicht? Bittet sie irgend jemand wirksam um Zurückhaltung?
http://www.gesetze-im-internet.de/bildscharbv/__3.html

 
Siehe auch:

Regelungslücke psychische Belastungen schließen

Hans-Jürgen Urban forderte eine Anti-Stress-Verordnung. Bisher war ich der Meinung, dass es vor allem bei der Durchsetzung bestehender Gesetze hapert. Aber es gibt mehr zu dem Thema: http://www.ergo-online.de/site.aspx?url=html/aktuelles/news100811.htm

Regelungslücke auf dem Feld der psychischen Belastungen 
Download-Dokumentation der IG Metall und der Hans-Böckler-Stiftung
2011 erschien eine Dokumentation der IG Metall und der Hans-Böckler-Stiftung zum Thema Regelungslücke auf dem Feld der psychischen Belastungen. 15 Jahre nach Inkrafttreten des Arbeitsschutzgesetzes stellt sich für die Autoren die Frage, ob in Deutschland nicht ein Schutzdefizit zu den immer gravierenderen psychosozialen Gefährdungen besteht.
Die Dokumentation besteht aus drei Schwerpunkten:

  • Interview mit dem geschäftsführenden Vorstandsmitglied der IG Metall, Dr. Hans-Jürgen Urban : “Die Regelungslücke psychische Belastungen schließen”.
  • Gutachten von Herrn Prof. Dr. Wolfhard Kohte: “Psychische Belastungen und arbeitsbedingter Stress – Mögliche rechtliche und sonstige Regulierungen”.
  • Gutachten von Herrn Dr. Wolfgang Bödeker und Herrn Michael Friedrichs: “Kosten der psychischen Erkrankungen und Belastungen in Deutschland”.

 
http://www.ergo-online.de/html/service/download_area/regelungsluecke_psych-belastungen.pdf


Frage: Das spricht in der Tat dafür, dass gegen Stress und Druck am Arbeitsplatz mehr unternommen werden muss. Nun gibt es aber doch seit sieben Jahren schon eine europäische Sozialpartnervereinbarung zu Stress am Arbeitsplatz. Hat die gar nichts geholfen?
Urban: Diese Rahmenvereinbarung aus dem Jahr 2004 hat wenig gebracht. Sie kam nur als freiwillige Vereinbarung zustande, weil die Arbeitgeberverbände eine verbindliche Richtlinie der EU verhindert haben. Die begrenzte Wirkung bestätigt der Evaluierungsbericht, den die EU-Kommission selbst vor Kurzem veröffentlicht hat. Die gerade für Deutschland sehr kritische Bewertung ist auffallend. Die Bundesrepublik gehört demnach zu den wenigen EU-Ländern, in denen kaum gemeinsame Aktivitäten der Sozialpartner zustande kamen. Auch auf der gesetzlichen Ebene hat sich in Deutschland in Bezug auf Stress und psychische Belastungen am Arbeitsplatz nichts getan – im Unterschied zu anderen EU-Ländern. Immerhin zeigt der Bericht, dass es infolge der Rahmenvereinbarung in 13 Mitgliedsländern gesetzliche Regelungen zur Verminderung von Stress am Arbeitsplatz gegeben hat und dass in etlichen weiteren Ländern Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften in diesem Sinne abgeschlossen wurden. In Deutschland aber, so kann die durchaus regierungsfreundliche Kommission nicht umhin festzustellen, ist weitgehend Fehlanzeige zu melden – erst recht in der Praxis. »In Bulgarien, der Tschechischen Republik, Deutschland und Estland sind die Ergebnisse hinter den Erwartungen zurückgeblieben«, heißt es im Bericht wörtlich – für Deutschland wenig schmeichelhaft. Es ist höchste Zeit, dass Deutschland bei der Verminderung von Stress am Arbeitsplatz nicht länger Schlusslicht in Europa ist.

Politik der unterbesetzten Aufsichtsbehörden

Aus der Südeutschen Zeitung von heute:

Laxe Steuerprüfung —Millionäre bevorzugt
Was für ein Leben: viel Geld verdienen, eine Villa am See besitzen – und die Gewissheit haben, dass das Finanzamt nur selten vorbeikommt. Nach Ansicht der Grünen reduzieren viele Bundesländer absichtlich die Zahl der Steuerprüfungen. Von C. Hulverscheidt

Finanzamt – Wenn der Steuerprüfer gar nicht klingelt
Steuererklärung – Steuerschummeln? Darauf achten Finanzbeamte

Bei der Gewerbeaufsicht sieht es nicht besser aus, als bei der Steuerprüfung. Dass seit 15 Jahren mehr als 80% der Unternehmen immer noch Gefährdungsbeurteilungen ohne Einbezug psychisch wirksamer Belastungen anfertigen dürfen, kann kein Zufall mehr sein. Auf einer Tagung meinte einmal eine Psychologin (die für eine Organisation im Bereich der Arbeitssicherheit Unternehmen beobachtet) zu mir, dass sie erst tätig werden dürfe, “wenn in einem Unternehmen Zustände herrschen wie bei France Télécom“. Fachkräfte, die direkt Aufdicht ausüben, möchten ihre Arbeit durchaus tun. Aber ist ihnen das auch politisch erlaubt?
Siehe auch: http://blog.psybel.de/2010/11/22/mentale-belastung-am-arbeitsplatz/

Petition an den Bundestag: Betrieblicher Arbeitsschutz – Psychische Belastungen

Die Petition wurde abgelehnt. Die Ablehnung wurde sorgfältig begründet: Mit der Antwort stellte der Bundestag bereits im Jahr 2009 klar, dass psychische Belastungen in den Arbeitsschutz einzubeziehen sind.
Petition eingereicht: 2009-01-18
https://epetitionen.bundestag.de/petitionen/_2009/_01/_18/Petition_1902.nc.html

Der Deutsche Bundestag möge beschließen, den tatsächlichen Grad des Einbezugs psychischer Belastungen in die Umsetzung des Arbeitsschutzgesetzes in deutschen Unternehmen durch entsprechende Dienste oder Beauftragte des Bundestages feststellen zu lassen und im Fall einer mangelhaften Umsetzung der Arbeitsschutzgesetzes und vergleichbarer Gesetzte und Vorschriften die personelle Situation der Aufsichtsbehörden so zu verbessern, dass sie ihrer Aufsichtspflicht auch praktisch nachkommen könne
Begründung: Nur ein kleiner Teil der Unternehmen in Deutschland kommt seinen Verpflichtungen nach, auch psychomentale Belastungen (Begriff “psychomentale Belastung”: Zusammensetzung aus “mentaler Belastung” entsprechend der englischsprachigen EN ISO 10075 Norm und “psychischer Belastung” entsprechend der deutschsprachinen EN ISO 10075 Norm) in den Arbeitsschutz mit einzubeziehen. Konkret drückt sich das dadurch aus, dass nur sehr wenige Betriebe in Deutschland die mit Arbeitsaufgaben und Arbeitsplätzen verbundenen psychomentale Belastungen in Gefährdungsbeurteilungen beschreiben (was nur ein erster Schritt ist). Abgesehen von der Gefährdung, die langjährig nicht wirklich umgesetzte Gesetze für die Rechtsstaatlichkeit schlechthin darstellen, bauen sich hier angesichts der Veränderungen der Arbeitswelt neue Hindernisse und Gefahren für wirtschaftliches Wachstum auf. Grundlage der gängigen Wachstumstheorien ist Innovation, also das Ergebnis psychomentaler Belastung. Darum muss das Verständnis dieser Belastungsart und die Durchsetzung der menschengerechten Gestaltung der Arbeit höchste Priorität bekommen. Auch könnte die jetzige “Wirtschaftskrise” auf einen hohen Grad an Ernüchterung und Erschöpfung von Arbeitnehmern (einschließlich Ihrer Führungskräfte) zurückzuführen sein. Dabei ist das Thema der psychomentalen Arbeitsbelastung inzwischen recht gut erforscht und sollte nicht erst dann angegangen werden, wenn für Krankenkassen, Sozialversicherungen usw. durch psychomentale Fehlbelastungen verursachte Kosten zu hoch werden.

Antwort des Bundestages (Petitionsausschuss):

Betrieblicher Arbeitsschutz
Der Deutsche Bundestag hat die Petition am 25.02.2010 abschließend beraten und beschlossen:
Das Petitionsverfahren abzuschließen, weil dem Anliegen nicht entsprochen werden konnte.
Begründung
Der Petent fordert, den tatsächlichen Grad des Einbezugs psychischer Belastungen in die Umsetzung des Arbeitsschutzgesetzes in deutschen Unternehmen durch entsprechende Dienste oder Beauftragte des Bundestages feststellen zu lassen und im Fall einer mangelhaften Umsetzung des Arbeitsschutzgesetzes und vergleichbarer Gesetze und Vorschriften die personelle Situation der Aufsichtsbehörden so zu verbessern, dass sie ihrer Aufsichtspflicht auch praktisch nachkommen können.
Zur Begründung führt der Petent im Wesentlichen an, dass bisher nur ein kleiner Teil der Unternehmen in Deutschland seinen Verpflichtungen nachkäme, psychische Belastungen in den Arbeitsschutz einzubeziehen.
Die Eingabe wurde als öffentliche Petition auf der Internetseite des Petitionsausschusses eingestellt. Sie wurde von 364 Mitzeichnern unterstützt. Außerdem gingen acht Diskussionsbeiträge ein.
Der Petitionsausschuss hat zu der Eingabe eine Stellungnahme des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) eingeholt. Darin führt das BMAS im Wesentlichen aus, dass es die Auffassung des Petenten teile, dass das Thema Psychischen Belastungen unabdingbarer Bestandteil des Arbeitsschutzes sei. Dem BMAS sei auch die Bedeutung des Themas bekannt. Die Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung der psychischen Komponente bei der Gefährdungsbeurteilung werde daher grundsätzlich unterstützt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die vom Petenten eingereichten Unterlagen Bezug genommen.
In seiner parlamentarischen Prüfung kommt der Petitionsausschuss zu folgendem Ergebnis:
Der Begriff “Psychische Belastungen” ist in der DIN EN ISO 10075 definiert als “die Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch (seelisch) auf ihn einwirken”.
Mit “psychischen Fehlbelastungen” sind dagegen Anforderungen und Belastungen gemeint, die in ihrer Ausprägung bei Beschäftigten mit hoher Wahrscheinlichkeit zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen. Berufliche Anforderungen können eine Herausforderung darstellen und bei erfolgreicher Bewältigung zu Arbeitszufriedenheit führen. Unstreitig können psychische Fehlbelastungen in der Arbeitswelt zu gesundheitlichen Problemen bei den Beschäftigten und zu krankheitsbedingten Folgekosten in erheblichem Ausmaß führen.
Im Rahmen einer Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) über Kosten arbeitsbedingter Erkrankungen wurden die gesamt- wirtschaftlichen Kosten für psychische Belastungsfolgen in Deutschland im Jahr 1998 auf 11,1 Mrd. Euro direkte und 26,2 Mrd. Euro indirekte Kosten geschätzt. Für das Jahr 2004 ergibt sich eine Schätzung von 18,6 Mrd. Euro bzw. 25,3 Mrd. Euro Kosten.
Die vorläufigen Ergebnisse des aktuellen BAuA-Forschungsprojekts “Aufarbeitung Gefährdungsbeurteilung bei Umsetzung der zur Erfahrungen betrieblicher psychischen Belastungen” lassen Tendenzen hinsichtlich des tatsächliche Umsetzungsgrades der Vorgaben des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) zu den psychischen Fehlbelastungen erkennen. Eine im Rahmen dieses Projektes durchgeführte Befragung von Betriebsräten in der metallverarbeitenden Industrie Baden-Württembergs hat ergeben, dass 87 % der Betriebe eine Gefährdungs- beurteilung vorweisen konnten, allerdings nur 33 % der Betriebe unter Berücksichtigung der psychischen Fehlbelastungen.
Dem Ziel der stärkeren Berücksichtigung der psychischen Komponente der Gefährdungsbeurteilung dienen die Aktivitäten des Bundes im Rahmen der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA). Die GDA beinhaltet das abgestimmte Vorgehen von Bund, Ländern und Unfallversicherungsträgern (UVT) im Arbeitsschutz durch die Vereinbarung von gemeinsamen Zielen und die Verfolgung kooperativer Strategien und Aufsichtsverfahren. Für die Handlungsperiode 2008 2012 wurde der Komplex “Psychische Belastungen” in das Arbeitsprogramm der GDA mit aufgenommen. Die Zieldefinitionen enthalten in mehreren Projekten die psychischen Fehlbelastungen als Querschnittsziele und verdeutlichen so deren hohen Stellenwert. Überdies nimmt das Thema auch im Rahmen der von der Bundesregierung im Jahre 2001 ins Leben gerufenen “Initiative Neue Qualität der Arbeit” (INQA) breiten Raum ein. So gibt es verschiedene Publikationen, die sich dem Thema widmen und den betrieblichen Akteuren Wissen vermitteln und praktische Handlungshilfen an die Hand geben.
Hinsichtlich des Anliegens, die personelle Situation der Aufsichtsbehörden zu verbessern, ist festzuhalten, dass der Vollzug des staatlichen Arbeitsschutzrechts grundsätzlich Sache der Bundesländer ist. Der Aufbau und die Organisation der Arbeitsschutzbehörden liegen in der Verantwortung der Länder. Es ist nicht Aufgabe des Bundes, den Ländern z. B. hinsichtlich der Anzahl der Aufsichtsbeamten oder der Einzelheiten der Verwaltungsorganisation Vorgaben zu machen.
Auch der tatsächliche Umsetzungsgrad der Vorgaben des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) hinsichtlich psychischer Fehlbelastungen kann letztlich nur von den für die Überwachung des Arbeitsschutzes zuständigen Instanzen eingeschätzt werden. Dies sind die Arbeitsschutzbehörden der Länder und die UVT. Den UVT steht bei der Erfüllung des gesetzlichen Auftrages der Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren “mit allen geeigneten Mitteln” im Rahmen der Selbstverwaltung ein weiter Ermessens- und Gestaltungsspielraum zu.
Auf der Ebene der Bundesländer und damit der Arbeitsschutzbehörden ist der Handlungsbedarf hinsichtlich der Berücksichtigung der psychischen Komponente der Gefährdungsbeurteilung erkannt. Die Länder führen Schulungen und Schwerpunktaktionen zu psychischen Belastungen in verschiedenen Branchen durch. Vom Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik wurde ein Leitfaden zur besseren Berücksichtigung psychischer Belastungen in der Arbeitsschutz-Revision erarbeitet. [Die LV 52 vom Oktober 2009 war allerdings noch nicht veröffentlicht, als ich die Petition im Januar 2009 abschickte.] Weitere Aktivitäten sind die Qualifizierung der Aufsichtspersonen, die Erstellung von Verfahrensanweisungen und Unterrichtsmodulen. Mit diesen umfassenden Maßnahmen werden den Aufsichtsbeamten das nötige Wissen und die methodischen Kenntnisse zur stärkeren Berücksichtigung der psychischen Aspekte bei ihrer Tätigkeit vermittelt. Auch die UVT haben sich des Themas angenommen. So ist beim Institut Arbeit und Gesundheit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (BGAG) ein Bereich eingerichtet, der zum Thema “Psychische Belastungen und Beanspruchungen am Arbeitsplatz” forscht und berät.
Mit den aufgezeigten Aktivitäten der Akteure des staatlichen und berufsgenossenschaftlichen Arbeitsschutzes sind wichtige Weichenstellungen getroffen worden, das Thema auch in den Betrieben weiter voranzubringen und die Arbeitgeber und Arbeitnehmer weiter für das Themenfeld zu sensibilisieren. Damit wird die stärkere Einbeziehung psychischer Fehlbelastungen bei der Gefährdungsbeurteilung weiter unterstützt und gefördert sowie dem Thema die erforderliche Aufmerksamkeit gewidmet.
Der Petitionsausschuss hat das Vorbringen des Petenten geprüft. Er hält die geltende Rechtslage zum Arbeitsschutz insbesondere hinsichtlich der Zuständigkeit der Bundesländer und selbstverwalteten gewerblichen Berufsgenossenschaften und Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand – für sachgerecht.
Da die Petition nach Auffassung des Ausschusses keine wesentlichen neue Aspekte enthält, die nicht bereits bekannt sind, sieht er davon ab, sie den Landesvolksvertretungen und den selbstverwalteten gewerblichen Berufsgenossenschaften und Unfallversicherungsträgern der öffentlichen Hand als Material für weitere Beratungen zuzuleiten.
Der Petitionsausschuss empfiehlt, das Petitionsverfahren abzuschließen, weil dem Anliegen des Petenten nicht entsprochen werden konnte.

(Anmerkung in eckigen Klammern, Links und Hervorhebungen nachträglich eingefügt)
Links:

Mentale Belastung am Arbeitsplatz

Noch 19 Jahre Zeit
Der Streit um die Rente mit 67 wird zu einem Streit um Statistiken. Einerseits hat die Zahl derjenigen deutlich zugenommen, die zwischen 60 und 64 Jahren arbeiten. Das ist ein Erfolg und ein Indiz dafür, dass die Firmen zunehmend den Wert von älteren Arbeitnehmern erkennen, auf die sie in Zukunft wegen des Geburtenrückgangs und des Mangels an Fachkräften angewiesen sein werden. Andererseits ist die Arbeitslosigkeit in dieser Altersgruppe drastisch …
13.11.2010 Süddeutsche Zeitung | München, Bayern, Deutschland | Meinungsseite
268 Wörter | 1.50 EUR