Ergonomie, ein Begriff schon vor mehr als 150 Jahren

Ergonomie ist ein wissenschaftlicher Ansatz, damit wir aus diesem Leben die besten Früchte bei der geringsten Anstrengung und mit der höchsten Befriedigung für das eigene und das allgemeine Wohl ernten.

Wojciech Jastrzębowski, 1857
(Zitat gefunden in Michael Herczegs Buch Software-Ergonomie, 2009)

Burnout-Detektive

2011-10-17 (21:45): Hübsche Titelseite in der Abendzeitung (München): “Burnout-Detektive in Münchner Firmen – Arbeitsministerin Haderthauer: Aufpasser sollen psychische Risiken im Betrieb kontrollieren”. Und dann unter dem Artikel “Burnout-Aufpasser für Bayern” das schöne Interview auf Seite 16: “Burnout-Prophylaxe: Hier sagt die Ministerin, wie die Gewerbeaufsicht einschreiten soll”. Das Ganze ist auch gut verständliche Aufklärungsarbeit einer Zeitung und einer Ministerin, die wohl auch innerhalb der CSU ihren eigenen Kopf hat. Kompliment.
2011-11-04: Gestern wählte Horst Seehofer den “mental starken” Markus Söder als Nachfolger von Georg Fahrenschon zum neuen Finanzminister Bayerns aus. An dem Rollenbesetzungstheater nahm auch wieder einmal die Öffentlichkeit teil, also eine Gelegenheit der parteiinternen Gegner von Christine Haderthauer, sie ungefähr als so unbeleckt in Finanzfragen darzustellen, wie Markus Söder es ebenfalls ist. Die Wirtschaftslobby in der CSU will wohl ihren Spezln den Besuch von “Burnout-Detektiven” zwar ersparen, aber im Finanzministerium hätte Haderthauer die Steuerfahndung losschicken können. Christine Haderthauer bleibt nun doch Bayerische Staatsministerin für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, und ich freue mich, dass sie in diesem Amt ihre Arbeit (hoffentlich nicht nur Öffentlichkeitsarbeit im Boulevard) weitermacht.
Siehe auch: http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/47615/Haderthauer_fordert_politische_Initiative_gegen_Burnout.htm.
Nachtrag (2015): Die Entzauberung der Ministerin folgte dann später. Trotz meines Grantelns in diesem Blog sehe ich zunächst das Gute im Menschen.

Arbeitet der LASI schon zu gründlich?

http://www.landtag.ltsh.de/plenumonline/dezember2011/texte/47_arbeitsschutz.htm

… Bildungsminister Ekkehard Klug, der in Vertretung von Arbeitsminister Heiner Garg (beide FDP) sprach, wies auch die Forderung nach der Übernahme des Vorsitzes im Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik (LASI) durch Schleswig-Holstein zurück. Ein solcher Schritt wäre “nicht verantwortbar”, da das Referat Arbeitsschutz im Ministerium für drei Jahre “massiv” gebunden wäre. Überdies, so Klug, gebe es längst einen einstimmigen Beschluss der Länder, das Gremium neu auszurichten und dessen Arbeit zu optimieren. Ziel sei eine gemeinsame deutsche Arbeitsschutzstrategie, sagte der Minister und betonte: Schon jetzt zeichne sich ab, dass Systemkontrollen wirksamer seien als detaillierte Einzelkontrollen. …

Der LASI nimmt aus der Sicht dieses Politikers den Arbeitsschutz vielleicht schon zu ernst.

Gesundheitsbedingte Frühberentung

Der Bericht ist zwar aus dem Jahr 2006, das Problem wächst aber munter weiter.
Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 30,
Uwe G. Rehfeld, Robert Koch Institut, 2006-04-23
Gesundheitsbedingte Frühberentung
http://www.rki.de/cln_169/nn_199850/DE/Content/GBE/Gesundheitsberichterstattung/
GBEDownloadsT/fruehberentung,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/fruehberentung.pdf

S. 11:

… Im aktuellen Trendverlauf zeigt sich eine ähnliche Entwicklung für alte und neue Bundesländer mit einem weiteren Rückgang der Berentungsalter auf ein Niveau zwischen 49 und 51 Jahren. Dieses wird darauf zurückgeführt, dass jüngere und schwerere Erwerbsminderungsfälle in die Berentung gelangt sind, während Ältere die vorgezogenen Renten, insbesondere wegen Arbeitslosigkeit beantragen. Bemerkenswert ist darüber hinaus das niedrigere Zugangsalter bei Frauen (insgesamt 2003 49,2 Jahre; Männer: 50,7 Jahre). Dies ist auch auf einen hohen Anteil von Frühberentungen auf Grund psychischer Krankheiten (mit Durchschnittsalter 47,3 Jahre bei Arbeiterinnen und 48,3 Jahre bei Angestellten) zurückzuführen. …

S. 14:

… Bei der Frühberentung spielen insbesondere jene Krankheiten eine Rolle, die nicht unmittelbar lebensbedrohlich sind, jedoch die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigen. Von erheblicher Bedeutung sind zunächst die psychiatrischen Krankheiten (ICD-9: 290–319/ICD-10: F00–F99) [♀35,5%, ♂24,5%]. Es folgen in der Häufigkeit des Auftretens die so genannten »Verschleiß-Erkrankungen« des Skeletts, der Muskeln und des Bindegewebes (ICD-9: 710–739/ICD-10: M00–M99)) [♀19,3%, ♂20,9%], Neubildungen (ICD-9: 140–239/ICD-10: C00–D48) [♀16,1%, ♂13,5%] und Krankheiten des Kreislaufssystems (ICD-9: 390–459/ICD-10: I00–I99) [♀7,2%, ♂16,1%]. …

S. 15:

… Das Gewicht der Krankheitsgruppen für das Berentungsgeschehen hat sich im Zeitablauf bei Männern und Frauen unterschiedlich entwickelt … . Seit 1983 hat sich der Anteil der Kreislauferkrankungen bei den Männern von ehemals fast 40 % auf nunmehr 16 % verringert. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der Frühberentungen aufgrund von Krankheiten des Skeletts, der Muskeln und des Bindegewebes zunächst von 15 % auf über 30 %; er liegt derzeit bei rund 21 %. Einen bemerkenswerten Verlauf haben darüber hinaus die Berentungen wegen psychischer Erkrankungen genommen: Ihr Anteil ist von rund 8 % im Jahr 1983 auf rund 24 % im Jahre 2003 angestiegen und dürfte als Indikator die zunehmenden psychosozialen Belastungen in Arbeitswelt und Gesellschaft abbilden. …

Das Grundmuster dieser Entwicklungen hat sich bei Frauen in ähnlicher Weise entwickelt: Frühberentungen wegen Kreislauferkrankungen sind im betrachteten Zeitraum von 37 % auf rund 7 % gesunken, der Anteil der psychischen Erkrankungen ist von unter 10 % auf die nunmehr häufigste Erkrankungsart mit rund 35 % angestiegen. Dieser Trend ist noch stärker als bei den Männern und dürfte auf die vielfältigen sozio-psychologischen Belastungen der heutigen Zeit hinweisen, die sich bei Frauen stärker auswirken. …

S. 17:

… Die aus gesundheitlichen Gründen mit einer Erwerbsminderung früher aus dem Erwerbsleben ausscheidenden Rentner haben eine deutlich niedrigere Lebenserwartung. …

(Nachträglich hinzugefügt: Hervorhebungen, Anmerkungen in eckigen Klammern)
Haben die Berufsgenossenschaften und Gewerbeaufsichten deswegen seit 2006 strenger geprüft?
 


Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 48,
Manuela Nöthen und Karin Böhm, Robert Koch Institut, 2010-01-28
Krankheitskosten
http://www.rki.de/cln_169/nn_199850/DE/Content/GBE/Gesundheitsberichterstattung/
GBEDownloadsT/Krankheitskosten,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/Krankheitskosten.pdf
, S. 19

11,3%: [Kostenanteil im Jahr 2006 psychischer Erkrankungen an allen Erkrankungen]
9,0%: unter 15 jahre
12,0%: 15 bis 29 Jahre
12,9%: 30 bis 49 Jahre
9,7%: 45 bis 64 Jahre
10,3%: 65 bis 84 Jahre
24,1%: über 85 Jahre

Absolut betrugen im Jahr 2006 die Kosten für psychische Erkrankungen 26,7 Milliarden Euro. (In der Tabelle auf S. 19 ist ein Fehler. Anstelle der 11,3% standen dort irrtümlicherweise 12,4%.)

15 Jahre Arbeitschutzgesetz

In http://www.sozialticker.com/15-jahre-arbeitsschutzgesetz-ein-anlass-zum-feiern-und-verbessern_20110820.html gefunden:

19. August 2011
15 Jahre Arbeitsschutzgesetz – ein Anlass zum Feiern und Verbessern
Zum 15-jährigen Bestehen des Arbeitsschutzgesetzes erklärt Beate Müller-Gemmeke, Sprecherin für Arbeitnehmerrechte:
    “Vor 15 Jahren, am 21.8.1996, ist das Arbeitsschutzgesetz in Kraft getreten. Damals war es ein wichtiger Meilenstein – heute muss dringend nachgebessert werden. Die Bundesregierung muss die neuen Herausforderungen beim Arbeitsschutz ernst nehmen, statt die notwendigen Reformen zu verschleppen.
    Psychische Belastungen nehmen zu und sind für einen großen Teil der berufsbedingten Erkrankungen und für vorzeitige Arbeitsunfähigkeit verantwortlich. Diese Entwicklung ist beunruhigend, deshalb besteht erheblicher Handlungsbedarf. Wir brauchen eine Anti-Stressverordnung zum Schutz der Beschäftigten vor Stress und psychosozialen Gefährdungen am Arbeitsplatz. Die Gesundheitsrisiken durch beruflichen Stress darf die Bundesregierung nicht länger den Arbeitgebern unreguliert überlassen.
    Die gesetzlich verankerte Gefährdungsanalyse wird nur von einem Teil der Betriebe durchgeführt. Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass nahezu alle Unternehmen eine Gefährdungsanalyse durchführen. Zudem muss sie um altersbezogene Aspekte ergänzt werden, denn die älteren Beschäftigten brauchen altersgerechte und die Jungen alternsgerechte Arbeitsplätze. Vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft und der Rente mit 67 Jahren ist dies ein Gebot der Stunde. Aber die Bundesregierung ist in Sachen Gefährdungsanalysen ahnungslos und naiv. Sie sollte sich schleunigst kundig machen und handeln.”
Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen

(Links nachträglich eingefügt)
“Gefährdungsanalyse” geht vielleicht zu weit, das Gesetz fordert eine Gefährdungsbeurteilung. Und die wird oft schon gemacht, jedoch ohne Einbezug psychisch wirksamer Belastungen. Und da diese inzwischen auch eine relevante Gefährtungskategorie darstellen, haben sie beurteilt zu werden. So ist das nun mal in einem Rechtsstaat.
Aber immerhin greifen DIE GRÜNEN das Thema auf.
Ich befürchte allerdings, dass sowohl die Bundesregierung wie auch die Unternehmen bei diesem Thema nur so tun, als ob sie ahnungslos und naiv seien. In Kooperation mit vielen Unternehmen stellen sich Politiker einfach dumm, um keinen Handlungsbedarf und/oder vorsätzlichen Rechtsbruch sehen zu müssen.
Die Stoiber-Kommission ahnt z.B. durchaus, dass die Bildschirmarbeitsverordnung mit ihren unangenehm konkreten Vorgaben recht wirksam sein könnte und versucht darum, diese Verordnung zu schwächen.
Ob eine Anti-Stress-Verordnung hilft? Eigentlich ist alles da, was Arbeitnehmer brauchen. Aber die Aufsicht will einfach nicht klappen. Kurz nach 1996 war das vielleicht noch verzeihlich, aber spätestens nach den BAG-Beschlüssen im Jahr 2004 hätte die Aufsicht in die Gänge kommen müssen. Kann es sein, dass sie aus politischen Gründen seit 1996 (also auch unter Rot-Grün) gar nicht funktionieren soll?

Psychisches Wohlbefinden seit 1997

Gefunden in http://www.sifawiki.de/index.php?title=Gesundheitsschutz:

Das Arbeitsschutzgesetz geht von einem weiten Gesundheitsbegriff aus, der auch das psychische Wohlbefinden der Beschäftigten umfasst. (BVerwG 31.1.1997, NZA 1997, 483) der Beschäftigten.

Die Lernkurve ist hier wohl ziemlich flach.
(An vielen Stellen im Internet wird das falsche Datum 31.1.1977 angegeben. So flach ist die Lernkurve nun auch wieder nicht. Siehe auch weiterhin http://blog.psybel.de/tagung-15-jahre-arbeitsschutzgesetz/.)

Zu viele Organisationen drücken sich vor dem Arbeitsschutz

http://www.sapler.igm.de/news/meldung.html?id=45990

19.07.2011 Prof. Dr. Jochen Prümper ist Wirtschafts- und Organisationspsychologe. Er nimmt Stellung zum Thema Stress in der Arbeitswelt und den Möglichkeiten, diesem nachhaltig entgegen zu treten.

Wie sieht die Situation, der Umgang mit Arbeits- und Gesundheitsschutz in der betrieblichen Praxis aus?
Prümper: Die Situation in der betrieblichen Praxis ist sehr unterschiedlich. Auf der einen Seite gibt es eine Reihe von Unternehmen, öffentlichen Verwaltungen und Non-Profit-Organisationen, die die Bedeutung des Themas Arbeits- und Gesundheitsschutz verstanden haben, sehr ernst nehmen, und in denen die Geschäftsführung zusammen mit dem Betriebs- oder Personalrat gemeinsam, proaktiv und mit Hilfe professioneller Unterstützung ein systematisches betriebliches Gesundheitsmanagement aufgebaut haben. Viele gehen dabei auch weit über die gesetzlichen Verpflichtungen zum Arbeitsschutz hinaus, weil sie begriffen haben, dass – neben der betrieblichen Gesundheitsförderung im engeren Sinne – eine Verbesserung der Führungskultur, bessere Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf und eben auch die Gestaltung alternsgerechter Arbeit sowohl die Gesundheit und Motivation nachhaltig fördert, als auch die Produktivität, Produkt- und Dienstleistungsqualität und Innovationsfähigkeit des Unternehmens erhöht.
Sie sagten “Auf der einen Seite …” Gibt es noch eine andere Seite?
Prümper: Leider ja. Es gibt noch viel zu viele Organisationen, die sich bei dem Thema Arbeits- und Gesundheitsschutz zum “Jagen tragen lassen”, die sich viel zu wenig um die Gesundheit ihrer Beschäftigten sorgen und die sich sogar davor drücken, ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Umsetzung des Arbeitsschutzgesetzes nachzukommen. Die entsprechenden Entscheidungsträger handeln in meinen Augen nicht nur grob fahrlässig, weil sie es versäumen, ihrer Fürsorgepflicht nachzukommen und für das Wohlergehen ihrer Beschäftigten Sorge zu tragen, sondern sie stellen auch leichtfertig – gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und des sich abzeichnenden Fachkräftemangels – die Existenz ihrer Unternehmen aufs Spiel.

(Hervorhebung nachträglich eingefügt)


Spielten psychische Erkrankungen schon immer eine solch schwerwiegende Rolle, oder ging der heutigen Situation eine Entwicklung voraus?
Prümper: Die Ergebnisse einer Studie des Landesinstituts für Gesundheit und Arbeit des Landes NRW zeigen, dass für die Beschäftigten heutzutage vor allem psychische Belastungen, wie hoher Zeitdruck, hohe Verantwortung und die zu leistende Arbeitsmenge, eine bedeutsame Rolle spielen. Hinzu kommen Belastungen durch Umstrukturierungsmaßnahmen und die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Körperlich belastend werden insbesondere Zwangshaltungen, Lärm und die klimatischen Bedingungen am Arbeitsplatz empfunden. Im Längsschnitt zeigt sich, dass in den letzten Jahren besonders deutliche Zunahmen in den Belastungseinschätzungen bezüglich der Faktoren hoher Zeitdruck und Überforderung durch die Arbeitsmenge zu verzeichnen ist. Damit hat sich in den letzten Jahren insbesondere das psychische Belastungsniveau ständig erhöht, der Leistungsdruck am Arbeitsplatz ist immer stärker geworden. Entsprechend lassen sich Trends im Beanspruchungserleben aufzeigen.

  • Der Anteil Beschäftigter, die angaben, unter Erschöpfung zu leiden, stieg von 28 % im Jahr 1999 auf 48 % im Jahr 2008,
  • und der Anteil derer, die angaben, nicht abschalten zu können von 23 % im Jahr 1999 auf 47 % im Jahr 2008.
  • Nach einer aktuellen Studie der AOK sind Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen seit 1999 um nahezu 80 % angestiegen.
  • Und diese führen zu langen Ausfallzeiten: Mit 23,4 Tagen je Fall dauern psychische Erkrankungen doppelt so lange wie der Durchschnitt mit 11,6 Tagen – Tendenz steigend.
  • Und dieser Trend geht weiter: Nach dem aktuellen Gesundheitsbericht der DAK nahm der Anteil der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen im vergangenen Jahr erneut zu. Ihr Anteil am Krankenstand lag im vergangenen Jahr bereits bei 12,1 % aller Fehltage.
  • Psychische Erkrankungen bilden damit heutzutage die viert wichtigste Krankheitsgruppe, Anfang der Neunzigerjahre nahmen sie gerade einmal den siebten Rang ein und waren vorher nahezu bedeutungslos.

(nachträgliche Layoutänderungen im Zitat)
Zitiert habe ich Prof. Prümper von einer Seite der IG-Metall. Man kann es sich nun leicht machen und ihn in die Gewerkschaftsschublade einordnen. Wie seine Kritik am DGB-INDEX “Gute Arbeit” zeigt, gehört er aber in diese Schublade nicht hinein.
Dass bisher die Mehrheit der Unternehmen die Vorschriften des Arbeitsschutzes missachten durfte, ist offensichtlich: http://blog.psybel.de/stichwort/keine-gb/.

1983: Arbeitsbelastung und ihre Thematisierung im Betrieb

Friedrich Hauß: Arbeitsbelastung und ihre Thematisierung im Betrieb, 1983/1997, ISBN 978-3-593-33161-4
 
S. 38 (Warum Gewerkschaften und Betriebsräte wichtig sind)

Die staatliche verhältnisorientierte Präventionsstrategie wird sich also weder in ihrer Formulierung und Normierung, noch in ihrer Implementation ausschließlich an gesundheitspolitisch relevanten Gesichtspunkten orientieren können. Zumindest auf betrieblicher Ebene bedarf sie der Durchsetzung und Erweiterung durch die Aktivitäten der Beschäftigten. …

 
S. 43

… Besonders der, bezogen auf auf das gesundheitspolitische Problem, wirksameren Verhältnisprävention mangelt es an Durchsetzungspotential. …

 
S. 65

… Einerseits besteht – vor allem im Bereich der klassischen Arbeitsmedizin – eine durch empirische Befunde nicht zu rechtfertigende Überbetonung der Arbeitsunfälle und der ergonomisch-physiologischen, allenfalls noch der chemischen Arbeitsbelastung. Psychisch-physiologische Arbeitsbelastungen werden dagegen von dieser Seite kaum zur Kenntnis genommen oder in Begriffen formuliert, die nicht das psychische Wohlempfinden, sondern lediglich die Leistungsbereitschaft oder Leistungsfähigkeit betreffen. …

 
So weit waren die Erkenntnisse also schon vor 28 Jahren. Also ist Arbeitsbelastung keineswegs ein erst kürzlich entdecktes Modethema. Manchmal ist das Neue eben nur das bisher nicht deutlich genug angesprochene Alte.

Sterben für die Firma


http://www.youtube.com/results?search_query=”Sterben+für+die+Firma+-Arbeits-Stress+in+Japan”
Die Grafik passt direkt zum Thema des Films. Ich hatte sie vor vielen Jahren einmal in einem anderen Zusammenhang für eine Arbeitnehmergruppe bei einem großen Konzern angefertigt. In dem Unternehmen wurde das Thema also schon im Jahr 1999 zuerst von den Arbeitnehmern angesprochen. Erst einige Jahre später begannen die Arbeitnehmer dann, mit dem Gesetz zu argumentieren, denn der Hauptgrund für Arbeitgeber, psychische Belastungen in den Arbeitsschutz einzubeziehen, liegt weder im Bereich der Ethik noch im Bereich der Wirtschaft, sondern am wichtgsten ist

 
Nun zum Film: In http://molescine.wordpress.com/2010/01/26/im-fokus-bei-3sat-japan/ finden sie eine Beschreibung des Films von Thomas Euting. Ich hatte den Film Ende der Neunziger im ZDF gesehen. Es ging um den Tod durch Überarbeitung (過労死 = Karōshi). Traurig daran ist insbesondere, dass es so lange dauert, bis wir dazulernen – in vielen Dingen.
Unternehmen, die sich viel Zeit bei der Einführung des ganzheitlichen Arbeitsschutzes lassen, liefern ihre Mitarbeiter einem höheren Erkrankungsrisiko aus. Das ist keine Kleinigkeit.
Siehe auch: 仕事が終わらない
 


Stress am Arbeitsplatz – Großbritannien, Frankreich, Japan:
http://www.arte.tv/de/3099212.html

Höchstens 43% der Betriebe beziehen psychische Belastungen in die Gefährdungsbeurteilung mit ein

In einer Präsentation von EUpD Research finden sich sehr interessante und aktuelle Daten, die zeigen, dass nur 43% der befragten Unternehmen psychische Belastungen nach eigenen Angaben in die Gefährdungsbeurteilung mit einbeziehen. Das heißt: 57% der befragten Unternehmen erfüllen die seit 1996 geltenden Anforderungen der ganzheitlichen Arbeitsschutzes nicht.
Basis: 166 Unternehmen

http://www.arbeitsschutz-aktuell.de/downloads/referenten/20_6/Henssler.pdf [nicht mehr aufrufbar]
Psychische Belastungen erkennen und Vermeiden – Corporate Health Award, Oliver-Timo Henssler, EUpD Research (2010-10-20)
Quellen psychischer Belastung (INQA):

  • Arbeit: 39%
  • gesellschaftliche Entwicklung: 26%
  • Familie: 24%
  • Freizeit: 11%

Psychische oder soziale Belastungen der Arbeitnehmer in Deutschland (Forsa, im Auftrag des Fürstenberg Instituts, 1001 Berufstätige):

  • Stress:39%
  • Erschöpfung: 26%
  • depressive Stimmung: 14%
  • Überforderung: 10%
  • Alkohol, Nikotin, Medikamente: 6%

Anteil der Unternehmen, in denen Gefährdungsbeurteilungen durchgeführt werden (EuPD Research 2010):

  • für alle Arbeitsplätze: 68,7%
  • für Teil der Arbeitsplätze: 21,7%
  • nein: 7,8%
  • keine Angaben: 1,8%

Einbezug psychischer Gefährdungen in die Gefährdungsbeurteilung (EuPD Research 2010):

  • ja: 48,0%
  • nein: 45,3%
  • keine Angaben: 6,7%

(Inhaltliche Wiedergabe eines kleinen Teils der Präsentation)
Mitbestimmte Gefährdungsbeurteilung: EuPD Research gibt auch an, dass 86,7% der Unternehmen, die Gefährdungsbeurteilungen (GBs) durchführen, ein schriftliches Konzept zur Durchführung haben. Mit 90,4% Betrieben, in denen eine GB durchgeführt wird, kann man daher mit einem optimistischen Ansatz vermuten, dass maximal etwa 80% der Betriebe die GB ordentlich mitbestimmt in einer Betriebsvereinbarung geregelt haben können. Aber nur in in 48% der Gefährdungsbeurteilungen wurden psychisch wirksame Belastungen mit einbezogen, d.h. nur 48%×90,4%=43,4% der befragten Unternehmen respektieren nach eigenen Angaben die Anforderungen des ganzheitlichen Arbeitsschutzes.
Die Erhebung von EuPD Research liefert mit 43% eine etwas bessere Befolgung der Vorschriften, als die von der BAuA angegebenen 33% (siehe Deutscher Bundestag, 2010-02-25).