Resilienz und die Maßnahmenhierarchie

http://www.arbeitstattstress.de/2017/04/resilienz-und-die-massnahmenhierarchie/

[…] Während die Anwendung der Maßnahmenhierarchie bei physischen Gefährdungsfaktoren, wie z.B. Lärm, weitgehend akzeptiert ist, gehen die meisten Betriebe bei psychischen Gefährdungen meist den genau entgegengesetzten Weg. Anstatt das Augenmerk zuerst auf die Beseitigung der Gefahren zu richten, werde die Mitarbeiter mit großem Aufwand unterwiesen (Gesunde Ernährung am Arbeitsplatz, Lauftreff, Zuschüsse zum Yoga-Kurs usw.). Klingt zunächst gut und lässt sich PR-technisch sicher gut einsetzen, lenkt allerdings auch von der eigentlichen unternehmerischen Verantwortung nach dem Arbeitsschutzgesetz ab. Das Problem wird dadurch individualisiert und auf den einzelnen Mitarbeiter abgeschoben. […]

Leider lassen sich auch Auditoren von Arbeitsschutzmanagementsystemen und behördliche Prüfer von Maßnahmen zur verhaltenspräventiven Förderung der individuellel Resilienz beeindrucken.
Amtliche und private Prüfer lassen sich zu leicht von gut aussehenden resilienzfördernden Maßnahmen beeindrucken, die mit Arbeitsschutz und seiner Maßnahmenhierarchie jedoch nur wenig zu tun haben. Mit einer gerade mal fünftägigen Weiterbildung im Bereich der psychischen Belastungen und der bei Laien oft vorherrschenden Präferenz für Verhaltensprävention halten viele Prüfer auch persönlich nicht viel von einer Verhältnisprävention, die sie gelegentlich sogar offen als nicht praktikabel darstellen. So loben diese Prüfer werbewirksame verhaltenspräventive Gesundheitsförderungs-Maßnahmen, mit denen Arbeitgeber sich dann leicht der Verantwortung entledigen können, die sie im gesetzliche vorgeschriebenen und verhältnispräventiv angelegten Arbeits- und Gesundheitsschutz haben.
Die Aufsichtsstrukturen, die wir in Deutschland haben, gewähren also in erster Linie den Unternehmen Rechtssicherheit. Der verhältnispräventive Schutz der Arbeitnehmer vor psychisch fehlbelastenden Arbeitsbedingungen hat dagegen in der Aufsichtspraxis einen niedrigeren Stellenwert.

Wider die Individualisierung von Krankheit

Interessante Seminarunterlagen veröffentlicht SKOLAMED in http://www.health-on-top.de/seite.php?c=251&jahr=2014, http://www.health-on-top.de/seite.php?c=251&jahr=2013 usw., darunter auch Gesundheit als Organisationskultur – Wider die Individualisierung von Krankheit von Thomas Sattelberger: http://www.health-on-top.de/userdoks/handouts/2013_semfo_sattelberger.pdf.
In http://www.health-on-top.de/userdoks/handouts/2013_semho_sattelberger.pdf schreibt Thomes Sattelberger (von 2007 – 2012 Personalvorstand der Deutschen Telekom AG und heute Vorsitzender der HR-Alliance):

[…] Der Turbokapitalismus zeitigt seine ganz eigene Form von Krankheit. Es benötigt eben nicht nur individueller Präventionsprogramme und Reparaturmaßnahmen, sondern eine neue Form ordnungspolitischer Kulturpolitik von Entschleunigung des Managements of Change bis hin zu einem menschengerechten Arbeitszeitregime. […]

Unzureichende Gefährdungsbeurteilungen bei der Bahn

Ich höre gerade in in BR5 (etwa 09:05), dass Alexander Kirchner (Vorsitzender der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG) zufolge bei der Lösung der Überlastungsprobleme der Bahn “die Betriebsräte nicht nur alleine, sondern auch die Beschäftigten einbezogen werden” sollen. Das sei ein Novum. Gab es denn bisher keine Umfragen zu Fehlbelastungen, in die die Mitarbeiter “einbezogen” wurden? Selbst die Gewerkschaften stellen immer noch nicht diese wichtige Frage zum Arbeits- und Gesundheitsschutz.
Vielleicht sollte Kirchner noch einmal über die Aufgaben und Kompetenzen von Betriebsräten nachdenken. Dazu gehört, dass Betriebsräte sich für ordentliche Gefährdungsbeurteilungen einsetzen und die Gewerbeaufsicht bei Betriebskontrollen auf psychische Fehlbelastungen aufmerksam machen, die den Mitarbeitern schaden könnten.
Betriebsräte können, wenn sie kompetent genug sind, Positionen beziehen, die für einzelne Mitarbeiter zu gefährlich sind. Arbeitnehmervertreter können fehlbelastete Mitarbeiter vor mehr oder weniger subtilen Repressalien schützen. Daran sollten Mitarbeiter denken, die vom Arbeitgeber zu “persönlichen” Gesprächen zur Arbeitsbelastung eingeladen werden. Die Fürsorge des Arbeitgebers wird zu leicht zum Danaergeschenk. Das gilt auch, wenn der Arbeitgeber den Schwerpunkt der betrieblichen Gesundheitsförderung auf die Verhaltensprävention setzt.
Belastungsthemen sind Arbeitsschutzthemen. Darum können Mitarbeiter zu Gesprächen darüber ein Mitglied des Betriebsrates hinzuziehen. Das gilt auch für Arbeitsplatzbegehungen. Voraussetzung für eine gute Betreuung der Mitarbeiter durch Betriebsräte ist allerdings, dass die Arbeitnehmervertreter an Belastungsthemen nicht mit der gleichen Hobbypsychogie herangehen, wie viele Arbeitgeber. Auch heute noch sind viele Betriebsräte überfordert, wenn Arbeitgeber ihre Mitarbeiter mit verhaltenspräventiven Maßnahmen “fürsorglich” beglücken anstatt ihre Arbeitsorganisation verhältnispräventiv in Ordnung zu bringen. Aus dem Arbeitsschutzgesetz ergibt sich: Wenn es um Belastungen geht, dann kommen zunächst nicht die Mitarbeiter auf die Couch, sondern die Arbeitsbedingungen!
Alexander Kirchner hat möglicherweise noch nicht begriffen, dass in Mainz wieder einmal Probleme zutage getreten sind, die längst in Gefährdungsbeurteilungen hätten dokumentiert werden müssen. Wenn das nicht passiert ist, dann wäre das ein klarer Rechtsbruch! Den hätte dann auch die EVG mitzuverantworten: Wie soll die Gewerbeaufsicht Probleme erkennen, wenn die bei Begehungen anwesenden Arbeitnehmervertreter sie nicht in gut dokumentierter Weise auf Fehlbelastungen der Mitarbeiter aufmerksam macht? Wie die Gewerbeaufsicht werden aber wohl auch die Betriebsräte und die Gewerkschaft in der Nachschau nicht zu Erkenntnissen gelangen wollen, die ihre bisherige Überforderung im Arbeitsschutz deutlich macht.
Von psychische Fehlbelastungen verursachte Schäden können erst viele Jahre nach fehlbelastenden Situationen sichtbar werden. Wenn vergangene Verstöße gegen das Arbeitsschutzgesetz selbst von den Betriebsräten und Gewerkschaften nicht erkannt und dokumentiert werden, dann verraten sie die Mitarbeiter, denen ein ausreichender Schutz durch das Arbeitsschutzgesetz verwehrt wurde. Das ist verantwortungslos.
 
Interessanter Link: http://www.bahnvonunten.de/

Individualisierung geht am eigentlichen Problem vorbei

http://www.dradio.de/dlf/sendungen/hintergrundpolitik/1874215/ (2012-09-23)

… Ob Fernseh-Dokumentationen und -Diskussionsrunden wie hier auf den Sendern Arte und Phoenix, Entspannungsvideos etwa der Firma Sync-Souls oder auch eine unüberschaubare Menge an Ratgeberliteratur – das Thema “Burnout” ist ein Dauerbrenner. Allerdings kritisiert der Münchner Arbeitssoziologe Nick Kratzer, dass Lösungsstrategien für seelische Erschöpfungszustände oft am eigentlichen Problem vorbeigingen.
“Das merkt man immer dann, wenn die Vorschläge individualisiert sind, wenn man sagt, dann sollen halt Beschäftigte mal “Nein” sagen. Der Witz dabei ist, wenn es diese Dilemma-Situation gibt, dann können die Beschäftigten zwar “Nein” sagen und damit vielleicht etwas für ihre Gesundheit oder ihr Sozialleben tun, haben aber im Beruf Probleme. Und andersrum: wenn sie versuchen, die ständig steigenden Anforderungen zu bewältigen, also nicht “Nein” sagen, kriegen sie daheim Probleme.” …