Tabu-Thema in Redaktionen: Missachtung des Arbeitsschutzes

WELT-Online (2012-02-11) privatisiert in http://www.welt.de/debatte/kommentare/article13863024/Burn-out-Syndrom-ist-vom-Menschen-selbst-gemacht.html wieder einmal das “Burnout”-Syndrom als “Zivilisationskrankheit”.

Burn-out-Syndrom ist vom Menschen selbst gemacht
“Burn-out” ist nicht nur ein Fall für den Arzt, sondern ein Zivilisationsproblem. Aber nicht die moderne Vielfalt ist die Ursache, sondern unsere Unfähigkeit auszuwählen. …

Klar ist das Burnout-Syndrom vom Menschen selbst gemacht. Aber welche Menschen sind am Burnout des Einzelnen beteiligt? Ich frage mich hier auch, wie es in den Redaktionen (on- und off-line) der WELT zugeht.
In der WELT meint Gerd Held zu wissen: “Überforderung kommt von innen”. Der Streit, ob “Burnout” von den von ihm Betroffenen “selbst gemacht” ist, oder von den Arbeitsbedingungen verursacht wurde, ist uralt. In den Redaktionen wird das Thema in überwiegend als individuelles Verhaltensproblem behandelt. Über den tägliche Rechtsbruch im Arbeitsschutz wird dagegen kaum berichtet.
Liegen die Ursachen für psychische Fehlbelastungen bei den Arbeitsbedingungen oder beim Ausgebrannten? Dumme Frage. Tatsächlich trifft beides zu. Noch etwas tiefer geht beispielsweise ein Dreiebenenmodell.
Tatsache ist jedoch auch, dass ein Großteil der Arbeitgeber die Pflicht zum Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz missachtet. Das ist konkreter darstellbar, als das komplexe Ursachengemenge für psychische Fehlbelastungen, an dem in den Redaktionen schon seit langer Zeit herumspekuliert wird. Die Bundesarbeitsministerin meinte Ende Dezember 2011 zu seelischen Belastungen am Arbeitsplatz, “dass sieben von zehn Unternehmen das Thema schleifen lassen” (Von der Leyen kündigt Kampagne an, 2011-12-28). Es gibt inzwischen genug Untersuchungen, die Ursula von der Leyens Feststellung bestätigen. Interessant ist nun, dass der Rechtsbruch der Unternehmen, die seit 1996 die Regeln des ganzheitlichen Arbeitsschutzes missachten, in den Medien kaum angesprochen wird. Bis zu wichtigen BAG-Beschlüssen im Jahr 2004 war das vielleicht noch nicht so klar. Aber angesichts des heute vorhandenen Wissens muss inzwischen bei vielen Fällen wohl von einer vorsätzlichen Verschleppung des Einbezugs psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz ausgegangen werden. Das gesetzeswidrige Verhalten der Mehrheit der Arbeitgeber ist dermaßen offensichtlich und nun auch offiziell bestätigt, dass sich auch DIE WELT geradezu anstrengen muss, diese Tatsache zu ignorieren.
Dabei sind Redaktionsarbeitsplätze überwiegend Bildschirmarbeitsplätze, an denen sich dank der Bildschirmarbeitsverordnung besonders einfach überprüfen lässt, ob der Arbeitgeber die Regeln des Arbeitsschutzes beachtet. Wenn Sie selbst als Redakteurin oder Redakteur an so einem Arbeitsplatz sitzen, dann stellen Sie einmal die Frage, “wie bei der Beurteilung der Arbeitsbedingungen bei Bildschirmarbeitsplätzen die Sicherheits- und Gesundheitsbedingungen insbesondere hinsichtlich psychischer Belastungen ermittelt und beurteilt werden, sowie welche konkreten Prozesse und Beispiele es dazu im Betrieb gibt.” Oder stellen sie die Frage lieber nicht, weil Sie Nachteile befürchten? Diese Furcht wäre dann schon eine Antwort auf die Frage nach dem Funktionieren des Arbeitsschutzes in Ihrer Redaktion. (Und ihren braven Betriebsrat müssten Sie wohl auch erst einmal aufwecken.)
Eine möglicher Grund dafür, dass die “vierte Gewalt” (die Journalisten) offensichtlichen Rechtsbruch nicht thematisiert, könnte darin bestehen, dass Rechtsthemen wie “Arbeitsschutz” einfach zu unsexy sind. Vielleicht ist es aber heute auch uncool, auf Schutzbestimmungen zu vertrauen. Aus Sicht von konflikterprobten Journalisten brauchen vielleicht nur Weicheier und Warmduscher einen Arbeitsschutz. Echte Kämpfer sorgen eigenverantwortlich für ihre Gesundheit. Sie lassen sich nicht von irgendwelchen “Arbeitsschutzbürokraten” bevormunden.
Auch könnte es sein, dass der vorgeschriebene Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz nicht für realistisch gehalten wird. “Gefährdungsbeurteilung? Wie soll das funktionieren?” Darüber könnte man ja durchaus diskutieren, aber selbst Kritik an der Arbeitsschutzgesetzgebung ist in den Medien nicht zu finden.
Vielleicht gibt es noch eine ganz praktische Erklärung: In den Unternehmen ist das Thema der psychischen Belastungen eine ganz heiße Kartoffel. Die meisten Arbeitnehmer wissen nichts über den Einbezug psychischer Belastungen in die Gefährdungsbeurteilung und sollen es wohl auch nicht wissen. (Wie würden Sie in Ihrem Betrieb eingeschätzt werden, wenn Sie danach fragen? Probieren Sie es doch einfach mal aus.) Auch Zeitungen sind Unternehmen mit Arbeitnehmern. Vermutlich wird auch in diesen Unternehmen mehrheitlich gegen die Bestimmungen des Arbeitsschutzes verstoßen. Scheuen sich Journalisten also, das Thema der seelischen Belastungen am Arbeitsplatz anzusprechen, weil dann Konflikte mit den Redaktionsleitungen zu befürchten sind, die – wie die Bundesarbeitsministerin das so schön ausdrückte – das Thema schleifen lassen?
Besonders wenn sich Journalisten, die in ihrem Unternehmen eine Führungspositionen haben, über “Burnout” auslassen, sollten sich Leser, Zuseher und Zuhörer also fragen, ob diese Führungskräfte versuchen, mit ihren Äußerungen ihre eigenen Pflichtverletzungen zu verdrängen. Ihre Mitarbeiter dagegen haben möglicherweise zum Schutz ihrer Karriere die Schere im Kopf. Schwächlinge kann keine Redaktion gebrauchen.
Siehe auch: http://blog.psybel.de/2012/06/08/manager-magazin-burn-out-ranking/#MedienStress

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