Zunahme psychischer Erkrankungen nur wegen besserer Diagnosemöglichkeiten?

2013-01-04, Interview mit Norbert Breutmann
http://www.ksta.de/politik/interview–bereitschaft-zur-therapie-waechst-,15187246,21391898.html

… Wissenschaftliche Studien und die OECD sagen, dass psychische Erkrankungen über die letzten Jahrzehnte im wesentlichen konstant geblieben sind. Wir haben allerdings eine viel höhere Bereitschaft, sich behandeln zu lassen. Früher war die Dunkelziffer deutlich höher. Inzwischen ist die Bereitschaft spürbar gewachsen, zum Arzt zu gehen. Bei Hausärzten haben wir inzwischen eine größere Sensibilität gegenüber diesem Thema. Insofern wird auch mehr diagnostiziert und mehr krankgeschrieben aus psychischen Gründen.

Norbert Breutmann vertritt hier eine Position der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Er ist dort für Arbeitswissenschaft und Soziale Sicherung zuständig. Das derzeitige Argumentationsmuster der BDA ist, dass arbeitsbedingte psychische Erkrankungen nicht wirklich zunähmen, sondern dass die beobachtete Zunahme eine Folge besserer Diagnosemöglichkeiten und der Enttabuisierung des Themas sei.
Diese Position ist richtig. Aber der Umgang damit ist häufig falsch. Erstens ist es natürlich immer ein Problem, mit “Dunkelziffern” zu argumentieren. Sie bleiben ja auch für die OECD dunkel. Zweitens: So, wie Arbeitgeber und die für sie arbeitenden Arbeitswissenschaftler diese Position häufig vortragen, wird der Eindruck erweckt, dass sie die einzige Erklärung für die Zunahme psychischer Erkrankungen sei. Um das ein bisschen zurechtzurücken, möchten Sie sich vielleicht auch mit anderen Sichtweisen vertraut machen:

  • kürzer: http://www.taz.de/!107690/

    taz: Herr Siegrist, gibt es wirklich mehr Stress im Beruf?
    Johannes Siegrist: Ja, in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren haben sich in vielen Branchen die täglichen Anforderungen verschärft. Das zeigen Längsschnittstudien, unter anderem aus Schweden.

  • länger: http://blog.psybel.de/stichwort/rolf-haubl/
  •  
    Breutmann spricht sich (in Übereinstimmung mit Arbeitgeberpositionen) auch gegen eine konkretere Gesetzgebung aus, wie sie von der Konferenz der Arbeits- und Sozialminister der Länder (ASMK) gefordert wird. Die Arbeitgeber setzen auf die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA). Den Hinweis auf ein Vollzugsdefizit bei der Gewerbeaufsicht habe ich allerdings bisher von der Arbeitgeberseite so deutlich noch nicht gehört:

    … Mit dem neuen Jahr startet eine Kampagne, um die Handlungsunsicherheit [im Bereich der psychischen Belastungen im Arbeitsschutz] zu beseitigen. Ende Januar gibt es dazu eine Auftaktveranstaltung mit der Bundesministerin.

    Dahinter steckt die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie, in der Bund, Länder und die Unfallversicherung zusammenarbeiten. Hier hat man sich darauf verständigt, sich 2013 dem Thema psychische Belastung im Arbeitsprozess schwerpunktmäßig zu widmen. Das ist effektiver als eine neue Verordnung. Bei der würde sich ja auch die Frage stellen, inwieweit sie überhaupt vollzogen werden kann. Wir haben ja ohnehin ein Vollzugsdefizit bei der Gewerbeaufsicht, weil die Länder, gerade auch NRW, dafür viel zu wenig Beamte haben, um Kontrollen vorzunehmen. …

    (Link nachträglich eingefügt)

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