Belastung und Belastbarkeit

http://www.bad-gmbh.de/de/newsletter/newsletter_archiv/ausgabe_02_16.html#c17183

Unternehmer im Gespräch am 20. April
Die psychische Belastbarkeit von Beschäftigten ist durch Stress, Termindruck und ständige Erreichbarkeit stark gefordert, viele werden darüber krank. Das Betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) leistet in diesem Zusammenhang einen wichtigen Beitrag zur Gesunderhaltung von Mitarbeitern. Welche Aspekte BGM erfolgreich machen – in einer zunehmend digitalisierten und entgrenzten Arbeitswelt – stellen Experten praxisnah auf der Tagung „Unternehmer im Gespräch“ am 20. April in Wiesbaden vor.
Mit dieser Veranstaltungsreihe bietet die B·A·D GmbH eine Plattform zum Netzwerken und zum Austausch über aktuelle Aspekte aus dem Arbeits- und Gesundheitsschutz. Führungspersönlichkeiten aus Wirtschaft, Industrie und Forschung erörtern Fragen, die den unternehmerischen Erfolg prägen.

 
http://info.bad-gmbh.de/uig2016-wiesbaden

„Arbeitswelt 4.0“
Chancen und Herausforderungen im modernen Arbeits- und Gesundheitsschutz
Werte schaffen, Ressourcen nutzen, Produktivität steigern – das sind die Schwerpunktthemen des Business-Netzwerkes “Unternehmer im Gespräch”.
Die Welt der Arbeit befindet sich in einem stetigen Wandel. Während früher vornehmlich technische Probleme im Vordergrund standen, wirken sich heute hoher Termindruck, Stress, ständige Erreichbarkeit, Arbeitsklima u. a. in immer stärkerem Maße auf die psychische Belastbarkeit der Mitarbeiter aus.
Psychische Erkrankungen machen heute etwa 10 Prozent der Erkrankungen aus und zeigen die höchsten Steigerungsraten. Dazu kommt, dass Ausfallzeiten aufgrund psychischer Faktoren besonders langwierig sind.

 
Solche Seminare von B.A.D. gehören zu einem den verhältnispräventiven Arbeitsschutz schwächenden Agenda-Setting, dass den Fokus auf die Verantwortung der Unternehmen für eine Minderung arbeitsbedingter Fehlbelastungen auf die “Belastbarkeit” der Mitarbeiter umlenkt. Vergleichen Sie die beiden Sätze:

  • Die psychische Belastbarkeit von Beschäftigten ist durch Stress, Termindruck und ständige Erreichbarkeit stark gefordert, viele werden darüber krank.
  • In Gefährdungsbeurteilungen nicht vorschriftsmäßig erfasste psychische Fehlbelastungen wie zu hoher Stress, zu großer Termindruck und ständige Erreichbarkeit fordern die Beschäftigten stark, viele werden darüber krank.

oder

  • Während früher vornehmlich technische Probleme im Vordergrund standen, wirken sich heute hoher Termindruck, Stress, ständige Erreichbarkeit, Arbeitsklima u. a. in immer stärkerem Maße auf die psychische Belastbarkeit der Mitarbeiter aus.
  • Während früher vornehmlich technische Probleme im Vordergrund der Gefährdungsbeurteilungen standen, steigern heute nicht vorschriftsgemäß erfasste, beurteilte und dokumentierte Eigenschaften von Arbeitsplätzen wie Termindruck, Stress, ständige Erreichbarkeit, Arbeitsklima u. a. in immer stärkerem Maße die auf die Mitarbeiter wirkende psychische Belastung.
  • Noch immer missachtet die Mehrheit (derzeit etwa drei Viertel) der deutschen Unternehmen die Vorschriften des Arbeitsschutzes, und zwar vorsätzlich, denn heute sind den Unternehmern ihre Pflichten im Arbeitsschutz genügend bekannt. Es gibt hier keine Entschuldigungen mehr. B.A.D. sollte sich ersteinmal darauf konzentrieren, den Unternehmer zu helfen, ihre Hausaufgaben bei der Minderung arbeitsbedingter psychischer Fehlbelastungen machen, bevor sie sich jener Belastbarkeit der Mitarbeiter zuwenden, die für die Bewältigung der zulässigen Arbeitsbelastung erforderlich ist.
    Bisher hatten psychische Erkrankungen den Vorteil für Unternehmen, dass sie nur in wenigen Fällen auf arbeitsbedingte psychische Fehlbelastungen zurückgeführt werden konnten, zumal auch die Untersuchung solcher Fehlbelastungen so gestaltet werden kann, dass sie Mitarbeiter zusätzlich unter Druck setzt. Gerade psychisch erkrankte Mitarbeiter möchten sich einem solchen Druck nicht aussetzen. Entsprechend schlecht ist die Beweislage für die Mitarbeiter und entsprechend günstig ist sie für die Unternehmer.

Missbrauch des Datenschutzes

Es gibt noch einen Grund, der Arbeitgeber motivieren könnte, anstelle des im Arbeitsschutzgesetz geforderten verhältnispräventiven Vorgehens ein verhaltensorientiertes Vorgehen zu bevorzugen: Bei der nur auf den ersten Blick fürsorglich aussehenden verhaltenspräventiven Zuwendung zu einzelnen Mitarbeitern kann eine Dokumentation persönlicher Daten entstehen, also auch individueller medizinischer Daten. Das können Arbeitgeber dazu missbrauchen, die Transparenz von Gefährdungsbeurteilungen und Vorfallsuntersuchungen einzuschränken. Damit kann dann auch die Arbeit von Betriebstäten bzw. Personalräten erschwert werden.
Der sicherste Datenschutz ist die Vermeidung sensibler Daten.

BARMER GEK vergisst den Arbeitsschutz

Die Celler Presse gibt auch nur einfach wieder, was die BARMER ihr zusteckt:
http://celler-presse.de/2016/01/13/psychische-belastung-im-job-immer-staerker-ueber-eine-million-fehltage/
Wie viele anderen Unternehmen, die sich anscheinend mit der Verhältnisprävention nicht so wohl fühlen, wirbt auch die BARMER GEK für Betriebliches Gesundheitsmanagement, ohne das bei der Mehrheit der deutschen Unternehmen immer noch rechtswidrige Fehlen eines Einbezugs psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz zu thematisieren. Wie sieht es wohl mit mitbestimmten Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastungen bei der BARMER GEK selbst aus? Offensichtlich setzt sich die BARMER GEK nicht dafür ein, dass die Unternehmen erst einmal das Arbeitsschutzgesetz beachten anstelle dem Mitarbeitern mit einem überwiegend verhaltenspräventiv Gesundheitsmanagement auf die Pelle zu rücken. Verhältnisprävention würde aber auch bei der BARMER dazu führen, dass kritischer über die Unternehmenskultur nachgedacht wird. Mag die Kasse das nicht?
Die BARMER GEK vergisst im Gesundheitsmanagement den Arbeitsschutz. Warum verlinkt die Kasse nicht zu ihren Seiten zum Arbeitsschutz und zu ihrer Broschüre “Psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz” (mit einem Kapitel “Gesundheitsmanagement im Hinblick auf psychische Belastungen”)? Weil sie zu “Psychische Belastungen am Arbeitsplatz” (mit einem Kapitel “Arbeitsschutz im Hinblick auf psychische Belastungen”) wenig zu bieten hat?

Weil es dem Unternehmen gut tut, wenn es den Mitarbeitern gut geht
[…]
PSYCHISCHE GESUNDHEIT
Die Gesundheitskompetenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu stärken, Stressbelastungen zu reduzieren und psychischen Erkrankungen auf diese Weise vorzubeugen, sind dabei besonders wichtige Ziele.
Aus dem Angebot:

  • Information und Beratung
  • Tagesworkshop »Self‑Care‑Training«
  • Präventionskurse zu verschiedenen Entspannungsmethoden, wie Progressive Muskelentspannung und Achtsamkeitstraining

[…]

“Self-Care”? Na toll.
Wie wirkt sich solch eine verkehrte Schwerpunktsetzung auf die Mitarbeiter der BARMER GEK selbst aus? Man kann bei der BARMER GEK nachlesen, was eine Gefährdungsbeurteilung ist, aber nicht, wie bei der Kasse selbst beispielsweise psychische Belastungen für die Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen der eigenen Mitarbeiter mitbestimmt beurteilt werden. Bei der Bildschirmarbeit bleibt die dort schon vor vielen Jahren geforderte Beurteilung psychischer Belastungen unerwähnt.
Wenn die BARMER GEK tatsächlich ein “ausgezeichneter Arbeitgeber” sein will, warum beschreibt sie dann in ihrem schicken Webauftritt nicht, wie diese Kasse selbst das Arbeitsschutzgesetz verhältnispräventiv und mitbestimmt umsetzt, insbesondere bei der Gefährdungsbeurteilung von psychischen Belastungen, die von Arbeitsprozessen ausgehend auf die Mitarbeiter wirken? Das vorbildliche Einhalten der Arbeitsschutzvorschriften ist ja wohl das mindeste, was man von einer Krankenkasse erwarten kann, bevor sie für die freiwilligen Verhaltensprävention wirbt.
Zum “Achtsamkeitstraining”:

  • Diese Trainings haben kaum noch etwas mit den völlig unesoterischen Grundlagen der Achtsamkeitsmeditation zu tun: Mahásatipatthána Sutta (Dígha Nikáya, 22).
  • Im Arbeitsschutz bedeutet Achtsamkeit, bei Gefährdungsbeurteilungen genau hinzusehen. Aber ausgerechnet dort, wo Mitarbeiter buddhistisch angehauchte Achtsamkeit erlernen sollen, fehlt oft die Achtsamkeit des Arbeitgebers für die von seinen Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen ausgehenden Gefährdungen.

"Deutsche Wirtschaft" bevorzugt Verhaltensprävention im Arbeitsschutz

Die “Deutsche Wirtschaft” bevorzugt die Verhaltensprävention und arbeitet sehr gezielt daran, das im Arbeitsschutz durchzusetzen. Vorgeschrieben ist im Arbeitsschutz die Verhältnisprävention.
Seminar von PraxisCampus DER DEUTSCHEN WIRTSCHAFT:
http://www.praxis-campus.de/fernkurse/fernkurseundonlinekurse/betrieblichere-gesundheitsmanagerin-ihk-zertifikat.html

Gesetzlicher und gesellschaftlicher Auftrag

  • Arbeits- und Gesundheitsschutz
  • Luxemburger Deklaration der betrieblichen Gesundheitsförderung
  • Rechtliche Aspekte beim Umgang mit Gesundheitsdaten


Umsetzung und Controlling eines erfolgreichen BGM

  • Praktische Umsetzung geeigneter verhaltensorientierter Maßnahmen
  • Evaluation: Überprüfung der gesundheitlichen & ökonomischen Wirksamkeit
  • Nachhaltigkeit: Verankerung in die Unternehmenskultur

Es wird also Bezug zum Arbeits- und Gesundheitsschutz genommen, aber bei “Umsetzung…” im betrieblichen Gesundheitsmanagement ist nur von “verhaltensorientierten Maßnahmen” die Rede. Dier Verhältnisprävention wird nicht genannt.
Ich befürchte, dass es der deutschen Wirtschaft mit Werbung und Lobbyismus für ein vorwiegend verhaltenspräventiv orientiertes “Gesundheitsmanagement” einfach durch das Schaffen von Tatsachen in der Praxis gelingt, entgegen den im Arbeitsschutz vorgeschriebenen Prioritäten die Verhältnisprävention gegenüber der Verhaltensprävention zu bevorzugen und damit die Verantwortung der Unternehmen für die Beseitigung gesundheitsschädlicher Verhältnisse speziell im Bereich der arbeitsbedingten psychischen Belastungen zu schwächen. Das scheint leider eine koordinierte und erfolgreiche Strategie „der deutschen Wirtschaft“ zu sein.
Die letzte mir zu dem Thema bekannte gewerkschaftliche Gegenposition ist aus dem Jahr 2011. Wenn ich da nichts Neueres verpasst habe, dann ist die Aufklärung, die die Gewerkschaften hier betreiben müsste, zu schwach. Auf die Gewerbeaufsichten, die sich im Arbeitsschutz beim Fehlen der vorgeschriebenen verhältnispräventiver Maßnahmen leider auch von verhaltenspräventiven Maßnahmen beeindrucken lassen, ist leider kein Verlass.
Partner von PraxisCampus DER DEUTSCHEN WIRTSCHAFT:

  • Hochschule Fresenius (eine Beteiligung der Cognos AG)
  • BWRmed!ia
  • IHK Akademie Koblenz e.V.
  • Deutsche Bahn AG
  • BvD – Die Datenschützer
  • Office Seminare
  • mediaforwork

Hansjörg Becker: Verhältnisprävention ist nachhaltiger

Anlässlich der Verleihung des Corporate Health Awards 2015 hielt Dr. Hansjörg Becker einen Vortrag (VORTRAG_Dr.HJ_Becker_INSITE_Interventions.pdf), den Sie sich von der CHA-Website herunterladen können. (Dazu ist ein Passwort erforderlich, dass sie über eine auf der Seite angegebene Email-Adresse abfragen können.) Darin geht es um die Gefährdungsbeurteilung sowie Verhaltensprävention und Verhältnisprävention. “EAP als Umsetzungsmaßnahme nach Gefährdungsbeurteilung Psychischer Belastung” ist der Titel der Präsentation.
In seinem Vortrag stellte Hansjörg Becker fest, dass bei der Minderung psychischer Fehlbelastungen die Verhältnisprävention nachhaltiger als Verhaltensprävention sei – wenn die Verhältnisprävention richtig implementiert ist. Das ist interessant, den ein EAP (Employee Assistance Program/Plan) bearbeitet primär individuelle Mitarbeiter verhaltenspräventiv und weniger fehlbelastende Arbeitsplätze verhältnispräventiv. Einzelne Mitarbeiter auf die Couch zu bringen, ist die letztmögliche Wahl im Arbeitschutz, denn dort sind individuelle Schutzmaßnahmen nachrangig zu anderen Maßnahmen.
Wenn INSITE-Interventions sich als externer Dienstleister zu einer Meldung von Fehlbelastungen anböte, die die Mitarbeiter vor Repressalien schützt, dann wäre das eher ein Beitrag zum Arbeitsschutz. Einen tatsächlichen Beitrag zum Arbeitsschutz leistet INSITE-Interventions in diesem Sinn mit seinem Reporting (Punkt 14 im FAQ):

Wir erstellen in größeren Zeitabständen ein anonymisiertes Reporting über die Häufigkeit der Nutzung und über kategorisierte Beratungsanlässe. Das Reporting ist so gehalten, dass man keinerlei Rückschlüsse auf die Identität der Nutzer ziehen kann.

In seinen seriösen Veröffentlichungen Evaluation des EAP von INSITE und Qualitätsanforderungen an ein EAP stellt INSITE-Interventions das EAP auch nicht als Arbeitsschutzmaßnahme dar.
Hansjörg Becker fasst seinen Vortrag so zusammen:

  1. Nur geringe Evidenz für die Wirksamkeit von Verhältnisprävention
    Wenn aber wirksam, dann spät einsetzend und länger andauernd
  2. Bessere Evidenz für die Wirksamkeit von Verhaltensprävention
    Schnell einsetzend aber nur kurz wirksam
  3. Beste Wirksamkeit für kombinierte Interventionen
    Wirkt schnell und nachhaltig. Einschränkung: nur SEHR wenige Studien

Sein Resümee:

  1. Bei Bestehen von relevanten Risiken im Rahmen der Gefährdungsanalyse sollen schnell wirksame; also verhaltenspräventive Maßnahmen eingeführt werden
  2. Da sie aber nur kurzfristig wirken, müssen sie mit langfristigen Maßnahmen kombiniert werden.
  3. Das spezielle von EAP ist, dass es zwar auf den ersten Blick verhaltenspräventives Programm ist, und daher schnell wirksam sein kann, dass es aber auf langfristige Wirkung ausgelegt ist. Unsere Kunden nutzen ihre EAPs dauerhaft, z.T. über 10 bis 15 Jahre.

Langfristig kann EAP verhaltenspräventive und verhältnispräventive Ansätze verbinden

Sobald EAP als Arbeitsschutzmaßnahme zum Einsatz kommt, haben Betriebsräte und Personalräte (wo es sie gibt) eine besondere Mitbestimmungspflicht. Hat INSITE-Interventions dafür ein Konzept? Hansjörg Becker unterteilt richtig:

  • Verhältnisprävention ist Primärintervention
  • Verhaltensprävention ist Sekundärintervention

Hier müssen Betriebs- und Personalräte mit einem eigenen und unabhängigen Berater sicherstellen, dass die Primärintervention gut umgesetzt wurde bevor die Sekundärintervention zum Zug kommt.
Beckers Vortrag hat eine Schwäche: Er führt viele Studien an, versäumt aber darzustellen, dass der inzwischen gut dokumentierte Widerstand der Arbeitgeber gegen die Verhältnisprävention Untersuchungen zur Verhältnisprävention erschwert. Dass die große Mehrheit der Arbeitgeber sich über viele Jahre hinweg (mit Hilfe einer systemisch überforderten Gewerbeaufsicht) über das Arbeitsschutzgesetz stellten, erwähnt Becker nicht, sagt aber: “Nur geringe Evidenz für die Wirksamkeit von Verhältnisprävention”. Einen der Gründe für die “geringe Evidenz” verschweigt Becker: Wenn die Verhältnisprävention rechtsbrecherisch sabotiert wird, kann sie natürlich nicht gut funktionieren.
Zur Gefährdungsbeurteilung meint Hansjörg Becker dann auch ohne Hinweis auf die jahrelange gesetzeswidrige und durchaus schon vorsätzliche Sabotage, dass für Gefährdungsbeurteilungen zum Nachteil von Schutzmaßnahmen zu viel Aufwand getrieben werde. Ich glaube, dass er den Grund dafür nicht versteht. Meine Meinung ist, dass sich der Aufwand vor allem aus dem Widerstand der Arbeitgeber gegen ihnen unangenehme Gefährdungsbeurteilungen ergibt. Das die große Mehrheit der Arbeitgeber immer noch keine ordentlichen Verfahren zur Beurteilung psychischer Belastungen implementiert hat, ist kein Versehen. Arbeitgeber, die einerseits komplizierte Verfahren zur Mitarbeiterbewertung implementieren können, andererseits aber über viele Jahre hinweg die Implementierung von Verfahren zur Beurteilung psychischer Fehlbelastungen verschleppen, sabotieren den Arbeitsschutz vorsätzlich. Sie mögen keine Gefährdungsbeurteilungen, die sich auf ihre Führungskultur auswirken könnten und meinen, dass sie das berechtige, Recht zu brechen. Die Ausrede “Unwissen und Hilflosigkeit” ist gerade bei Großunternehmen mit zertifizierten Arbeitsschutzmanagementsystemen einfach nicht glaubwürdig.
Kurz: Viele Unternehmer mögen die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen nicht und meinen, das gäbe ihnen das Recht, sich über das Gesetzt zu stellen. Das ist in Deutschland möglich  – und das macht die Einführung von Verfahren zur Beurteilung solcher Gefährdungen verständlicherweise etwas komplizierter. Bei der Bewertung der Sinnhaftigkeit der Verhältnisprävention darf die gegen die Beurteilung arbeitsbedingter psychischer Belastungen gerichtete Subversion der Mehrheit der Arbeitgeber nicht ignoriert werden.

#Stressmanagement auf #Armlänge

Henriette Reker erntet jetzt viel Spott für ihre verhaltenspräventiven Vorschläge für bedrängte Frauen. Die Massenkriminaltät auf dem Kölner Bahnhofsplatz ist natürlich ein mediengerechteres Thema, als die Prävention psychischer Fehlbelastungen in der Arbeitswelt.
Wie wäre es für Resilienz-Trainings für Frauen? In der Arbeitswelt gibt es dafür leider kaum Spott. Hier dominiert auch in einem großen Teil der Öffentlichkeit immer noch die Ansicht, dass Arbeitnehmer zum Beispiel mit besserem individuellem Stressmanagement möglichen psychischen Fehlbelastungen am Arbeitsplatz begegnen sollten. Ich glaube zwar, dass im realen Alltag sowohl Verhaltensprävention wie auch Verhältnisprävention erforderlich ist, aber im Arbeitsschutzgesetz gibt der Staat zumindest auf dem Papier der Verhältnisprävention den Vorrang (individuelle Schutzmaßnahmen sind nachrangig zu anderen Maßnahmen).
In der rauhen Wirklichkeit dürfen immer noch zu viele Arbeitgeber die in ihrer Verantwortung liegende Verhältnisprävention mit einer die einzelnen Mitarbeiter in die Verantwortung nehmenden Verhaltensprävention zu marginalisieren. Kein Bundesinnenminister beschwert sich hier über Gewerbeaufsichten, die hier nur überfordert und ziemlich tatenlos zusehen.
Den Medien ist das Thema “Verhaltensprävention versus Verhältnisprävention im Arbeitsschutz” natürlich zu kompliziert und zu unsexy.
Politiker, die jahrelang zuließen, dass sich bis 2012 etwa 80% der Betriebe über das Gesetz stellten und der Verhältnisprävention psychischer Belastungen auswichen, sollten sich jetzt mit Kritik an Henriette Reker besser ein bisschen zurückhalten. Das gilt auch für Journalisten, die sich bis heute von Firmen einlullen lassen, die mit Segnungen wie Stressmanagement-Trainings und individuellem Coaching Werbung betreiben, ohne gleichzeitig unbequemeren Pflichten im Arbeitsschutz nachzukommen. Nachdem des Thema der psychischen Belastungen nicht mehr aus den Betrieben herausgehalten werden kann, versuchen viele Unternehmer (und inzwischen auch viele Anbieter von Coachings für Mitarbeiter) nun, dem lästigen Thema mit Verhaltensprävention in den Griff zu bekommen. Wo bleibt der Spott?

Maßnahmen des Arbeitsschutzes

  • Kosten: Der Arbeitgeber trägt alle Kosten (z.B. Zeit und Geld) für Maßnahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes. Nach dem Arbeitsschutzgesetz darf der Arbeitgeber diese Kosten den Beschäftigten nicht auferlegen, natürlich auch nicht anteilig (z.B. Verwendung von Urlaubstagen oder Freizeit für als Arbeitsschutzmaßnahmen dargestellte Fitnessprogramme).
    http://dejure.org/gesetze/ArbSchG/3.html
  • Prioritäten: Gefahren sind an ihrer Quelle zu bekämpfen. Maßnahmen sind mit dem Ziel zu planen, Technik, Arbeitsorganisation, sonstige Arbeitsbedingungen, soziale Beziehungen und Einfluß der Umwelt auf den Arbeitsplatz sachgerecht zu verknüpfen. Individuelle Schutzmaßnahmen sind nachrangig zu anderen Maßnahmen. Das bedeutet: Das Gesetz gibt der Verhältnisprävention Vorrang vor der Verhaltensprävention.
    http://dejure.org/gesetze/ArbSchG/4.html
  • Gefährdungsbeurteilung: Maßnahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes müssen auf einer Gefährdungsbeurteilung basieren.
    http://blog.psybel.de/erst-gefaehrdungsbeurteilung-dann-unterweisung/
  • Mitbestimmung: Maßnahmen des Arbeits und Gesundheuitsschutzes sind auch dadurch gekennzeichnet, dass Betriebsräte und Personalräte hier eine besondere Mitbestimmungspflicht und ein besonderes Recht auf Informationen haben.
    http://blog.psybel.de/betriebsverfassungsgesetz/#89

Der Hinweis auf die Mitbestimmung ist besonders dann notwendig, wenn Arbeitgeber einerseits eine Maßnahme des “Betrieblichen Gesundheitsmanagements” als “freiwillig” darstellen und damit eine Mitbestimmung der Arbeitnehmervertretung schwächen wollen, andererseits diese Maßnahme dann gegenüber der Gewerbeaufsicht und Auditoren als Umsetzung des Arbeitsschutzgesetzes verkaufen. Das ist eine Verletzung gesetzlicher Pflichten. Die überforderten Gewerbeaufsichten sehen hier oft nicht so genau hin.

INSITE interventions

INSITE Interventions ist eines von jenen bei Arbeitgebern beliebten Beratungsunternehmen, die verhaltenspräventiv arbeiten. Die Verhaltensprävention setzt im Bereich der arbeitsbedingten psychischen Belastungen im Wesentlichen am individuellen Verhalten der einzelnen Mitarbeiter an. Stichworte: Stressmanagement, Resilienz, Eigenverantwortung usw.
Die Mitarbeiter werden in die Verantwortung für ihre eigene Gesundheit genommen – allerdings von Arbeitgebern, deren ganz große Mehrheit bis 2012 ihrer eigenen Verantwortung nicht gerecht wurde, die von ihnen im ganzheitlichen Arbeitsschutz seit 1997 geforderte Verhältnisprävention umzusetzen. Unsere Rechtskultur ist inzwischen so weit, dass Unternehmer, die ein Schutzgesetz für falsch halten, ganz locker dagegen verstoßen können. Anstatt ihre Ressourcen in die Erfüllung ihrer Pflichten zu stecken, konzentrieren sie sich auf angenehmere Kür: Lieber betreiben die Arbeitgeber mit viel Werbegetrommel ihr Vorzeige-Gesundheitsmanagement, anstatt die Arbeitsverhältnisse durch die vorgeschriebene Gefährdungsbeurteilung auch psychischer Belastungen transparent zu machen. Lieber wenden sie sich der fürsorglichen Belagerung “psychisch auffälliger” Mitarbeiter zu, anstatt mit der Dokumentation auffälligre Arbeitsbedingungen ihre Berichterstattung zur Corporate Social Responsibility (CSR) zu belasten.
Anlässlich der Verleihung des Corporate Health Awards 2015 hielt Dr. Hansjörg Becker einen Vortrag, in dem es um den aus Dr. Beckers Sicht übertriebenen Aufwand für die Gefährdungsbeurteilung sowie um die angeblichen Vorzüge der Verhaltensprävention gegenüber der Verhältnisprävention ging. Bei genauerem Hinsehen gewinnt in dem Vortrag aber die Verhältnisprävention.
Betriebsräte in Unternehmen, die sich von INSITE Interventions beraten lassen und/oder den/das EAP (Employee Assistance Plan, Employee Assistance Program) von INSITE Interventions nutzen, sollten einen eigenen Organisationspsychologen als Berater hinzuziehen, damit die gesetzliche Prioritäten des Arbeitsschutzes besser beachtet werden können.
Es ist doch klar, dass Verhältnisprävention und die Gefährdungsbeurteilung nicht helfen, wenn die Unternehmen unter den Augen der Gewerbeaufsicht der Verhaltensprävention den Vorzug geben und die Beurteilung psychischer Belastungen nicht vorschriftsmäßig durchführen. Sie haben ja von der Gewerbeaufsicht keine schmerzhaften Sanktionen zu befürchten. Bei diesen anarchischen Zuständen im deutschen Arbeits- und Gesundheitsschutz ist es kein Wunder, dass auch in fast 20 Jahren seit Bestehen des ganzheitlich und verhältnispräventiv orientierten Arbeitsschutzgesetzes nur wenig Erfahrungen mit der Beurteilung psychischer Belastungen und mit der Verhältnisprävention generiert werden konnten. Den von den Unternehmern zu verantwortenden Mangel an verhältnispräventiver Praxis zur Argumentation gegen die Verhältnisprävention und gegen die Wichtigkeit der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen zu verwenden, ist nicht seriös.
Gefährdungsbeurteilung dokumentiert mögliche Haftungsgründe
Die Gefährdungsbeurteilung birgt Risiken für Arbeitgeber. Die Arbeitgeber mögen die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen wohl auch deswegen nicht so sehr, weil sie mögliche Haftungsgründe dokumentieren könnte. Wird ein Mitarbeiter physisch oder psychisch so verletzt (z.B. Arbeitsunfall oder arbeitsbedingte psychische Erkrankung), kann er Ansprüche zwar grundsätzlich nur gegenüber der Berufsgenossenschaft geltend machen, aber das hat auch nachteilige Auswirkungen auf den Arbeitgeber.
Psychische Fehlbelastungen sind ein so angenehm unscharfes Thema; ohne Dokumentation bleibt für arbeitsbedingt psychische erkrankte Mitarbeiter die Beweisführung bei der Berufsgenossenschaft und vor Gericht extrem schwierig. Konkret dokumentierte psychische Fehlbelastungen sind den Arbeitgebern aus haftungsrechtlichen Gründen darum eher unangenehm, unsbesondere wenn er sie hätte abstellen müssen. Als Argument gegen die Gefährdungsbeurteilung werden Arbeitgeber das aber nicht offen ins Feld führen.
Lieber werden Arbeitgeber mit wissenschaftlich aussehenden Argumenten versuchen, die Dokumentation (und ggf. auch die Vorfallserfassung) von psychischen Fehlbelastungen zu marginalisieren. Das Mittel dazu sind Ausweichstrategien, mit denen sich Arbeitgeber zur Vermeidung einer ihnen unangenehmen Verhältnisprävention scheinbar menschenfreundlich dem einzelnen Mitarbeiter zuwenden. Ein EAP ist sinnvoll und hilfreich, aber wenn es als Arbeitsschutzmaßnahme der ersten Wahl verkauft wird, müssen Betriebsräte hier besonders aufmerksam die Einhaltung des Arbeitsschutzgesetzes überwachen und eine fürsorgliche Belagerung der Mitarbeiter verhindern (Die Gewerbeaufsicht wird dabei wenig helfen, denn sie lässt sich zu leicht verhaltenspräventiven Projekten des Gesundheitsmanagements beeindrucken.) Dabei haben Betriebsräte einen Anspruch auf einen ihre Interessen vertretende Beratung.

Präventionsgesetz

Das Präventionsgesetz ist ein Artikelgesetz. Mit Artikelgesetzen werden verschiedene Artikel in verschiedenen Gesetzen geändert. Betroffen ist in diesem Fall vor allem das Sozialgesetzbuch.

Im Bereich der Gesundheit am Arbeitsplatz soll mit dem Gesetz der Arbeitsschutz mit dem Betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) besser verbunden werden. Die Deutsche Arbeitsschutzinitiative (GDA) ist auch betroffen.
Interessant ist die Thematisierung von Verhaltensprävention und Verhältnisprävention im kommentierten Gesetzentwurf, z.B.:

[…] In Konkretisierung des gesetzlichen Auftrags zur Erbringung von Leistungen zur betrieblichen Gesundheitsförderung sieht der Leitfaden Prävention des GKV-Spitzenverbands, der die Handlungsfelder und Kriterien für die Leistungen der Krankenkassen zur betrieblichen Gesundheitsförderung verbindlich festlegt, vor, dass sich die Maßnahmen der Krankenkassen gleichermaßen an den Betrieb als Organisation (Verhältnisprävention) und an die einzelnen Beschäftigten (Verhaltensprävention) richten. […]

Nur ein Teil des Gesetzes widmet sich der Betrieblichen Gesundheitsförderung bzw. dem Betrieblichen Gesundheitsmanagement. Natürlich fehlen Angebote zur “Stressbewältigung” nicht (Verbesserungen im Überblick, S. 4), also die verhaltenspräventive Sekundärintervention, die im Arbeitsschutz nachrangig ist. Das Arbeitschutzgesetz selbst wurde nicht verändert. Das Arbeitsschutzgesetz bestimmt die Prioritäten (Verhältnisprävention als Primärintervention) also weiterhin.
Vorsicht: Das Gesundheitsmanagement kann auch dazu missbraucht werden, den verhältnispräventiven Arbeitsschutz und die Mitbestimmung im Arbeitsschutz zu schwächen. Letzteres kann zum Beispiel passieren, wenn überwiegend verhaltenspräventive Maßnahmen dem Betriebsrat als freiwillige Maßnahmen (für die die erweiterte Mitbestimmung im Arbeitsschutz nicht gilt) des Gesundheitsmanagements vorgestellt werden, aber die Maßnahmen später der Gewerbeaufsicht als Arbeitsschutzmaßnahmen dargestellt werden – und die Gewerbeaufsicht nicht merkt, dass damit der Verhältnisprävention und der Mitbestimmung ausgewichen wurde.
Details: https://de.wikipedia.org/wiki/Präventionsgesetz

Maßnahmen auf der Verhaltensebene

http://www.rehmnetz.de/personalmanagement/personalmanagement-aktuell/die-unzufriedenheitsmacher–psychische-belastungen-im-job/

[…] Es gibt verschiedene Möglichkeiten, arbeitsbedingte psychische [Fehl-]Belastungen zu reduzieren oder gar ganz zu beseitigen. Sie setzen entweder auf der Ebene der Verhältnisse an oder auf der Ebene des Verhaltens. Maßnahmen, die auf eine Veränderung der Verhältnisse abzielen, umfassen betriebliche Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich der Arbeitsaufgabe, der Arbeitsbedingungen, der Arbeitsorganisation und des Betriebsklimas. Maßnahmen auf der Verhaltensebene fördern und nutzen Ressourcen des Mitarbeiters. […]

(Dr. Fritzi Wiessmann, Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologin, Frankfurt am Main)
Gemäß Arbeitsschutzgesetz sind individuelle Maßnahmen nachrangig zu anderen Maßnahmen. Das heißt, bevor individuelle Ressourcen gefördert werden, sind die Fehlbelastungen zu mindern oder zu beseitigen.
Das schließt nicht aus, dass ein Unternehmen die Verhältnisse so verändert, dass sie die Ressourcen der Mitarbeiter ihren verschiedenen Tätigkeiten gemäß verbessern. Dabei aber den einzelnen Mitarbeiter zuleibe zu rücken, ist gemäß Arbeitsschutzgesetz zu vermeiden. Wer damit als Arbeitsschützer nicht einverstanden ist, sollte sich eine Aufgabe außerhalb des Geltungsbereichs des Arbeitsschutzgesetzes suchen. Es kann nämlich leider auch sein, dass sich ein Arbeitgeber einem Mrtarbeiter so persönlich mit “Gesprächsangeboten”, “Coaching” usw. zuwendet, dass sich die Mitarbeiter nicht mehr trauen, Fehlbelastungen zu melden. Das ist fies.
Bei Fehlbelastungsmeldungen kommen Arbeitsverhältnisse auf die Couch, nicht die Mitarbeiter. Ich wiederhole mich hier, aber die Lernkurve bei den Arbeitsschützern ist in dieser Angelegenheit leider ziemlich flach.