Der menschliche Faktor

https://www.psychologie-heute.de/beruf/39372-psychische-gesundheit-und-arbeit.html

Der menschliche Faktor
Viele Unternehmen kümmern sich zu wenig um die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter. Ein Gespräch mit dem Psychiater Werner Kissling.
Eva-Maria Träger , 11. Jul 2018 …

Zum Weiterlesen in PSYCHOLOGIE HEUTE muss man zahlen, und das ist gut so.
Einen Fehler gibt es in dem Interview: In einer Frage behauptet PSYCHOLOGIE HEUTE, dass es ab 2013 Pflicht sei, die Gefährdungsbeurteilung auch im Hinblick auf psychische Belastungen durchzuführen. Das behaupten auch viele Arbeitgeber gerne, um den Rechtsbruch, den sie früher begangen hatten, zu verbergen. Richtig ist dagegen, dass im Jahr 2013 nur eine Klarstellung seit 1997 geltenden(!) Rechts erfolgte. Es wird aber trotzdem immer wieder versucht, so zu tun, als ob der Schutz der psychischen Gesundheit erst ab 2013 vorgeschrieben sei. Die ständige Wiederholung des Falschen gab es natürlich schon vor Trump.
Das war ein Fehler von PSYCHOLOGIE HEUTE. Der Fokus des Psychaters Kissling liegt natürlich nicht auf rechtlichen Fragen. Er berichtet aber, dass immer noch nur 25% der Unternehmen psychische Belastungen in die Gefährdungsbeurteilung einbeziehen. Im Jahr 2012 waren es 20%, also eine tolle Leistung der immer noch verschlafenen behördlichen Aufsicht. Kissling beschränkt sich hier richtigerweise auf Fakten, ich dagegen kann mir auch Wertungen erlauben: Der mit 5% doch allzu überschaubare Fortschritt zeigt, wie verantwortungslos Politik und Unternehmern hier immer noch geblieben sind.
Inzwischen wissen wir ja, dass auch die Topunternehmen der deutschen Wirtschaft problemlos gegen Vorschriften verstoßen konnten, deren Einhaltung viel einfacher zu kontrollieren ist, als der Einbezug psychischer Belastungen in die Gefährungsbeurteilung. Und selbst wenn sie schon mit den Fingern in der Keksdose ertappt wurden, verstoßen Sie munter weiter gegen Recht und Gesetz. Sie machen das, weil sie’s können.
Nach meiner Erfahrung verstoßen Unternehmen gegen ihre Pflicht zu ordentlichen Gefährdungsbeurteilungen von Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen wo immer sie das können, d.h. wo immer nicht sorgfältig und kritisch geprüft wird. Bei der Gefährdungsbeurteilung ist der Grund für den gewohnheitsmäßigen Rechtsbruch einfach: Die Gefährdungsbeurteilung könnte Haftungsgründe dokumentieren. Das könnte teurer werden als Sanktionen bei Verstößen gegen das Arbeitsschutzrecht. Bei der derzeitigen “flexiblen” und “pragmatischen” Einstellung der Politik, der behördlichen Aufsicht und der deutschen Unternehmensleitungen zur Vorschriften und Normen wird es noch einige Zeit dauern, bis es glaubhafte Gefährdungsbeurteilungen von Arbeitsplätzen gibt.

Motivationsdruck auf Mitarbeiter

Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik
http://blog.psybel.de/grundsaetze-der-behoerdlichen-systemkontrolle/

… Ursachen für Arbeitsschutzmängel müssen aufgedeckt werden. Dabei kann die Ursachenprüfung nicht beim Fehlverhalten des Arbeitnehmers enden, denn allzu häufig finden sich Fehler in der Delegationskette, in der Bereitstellung von Informationen, oder es sind Zuständigkeiten oder Abläufe unklar. …

 
SPIEGEL WISSEN, Patient Seele – Wie die Psyche wieder ins Gleichgewicht kommt,
(132 Seiten, Druckauflage: ca. 240000, Feb. 2012), Nr. 1/2012, S. 115

… Wenn ein Mitarbeiter aber über längere Zeit nichts unternimmt, um sein Problem anzugehen, dann könnte der Vorgesetzte in weiteren Gesprächen auch den Motivationsdruck erhöhen, sagt er [Dr. Werner Kissling, CFDM]. Das könnte dann so klingen: “Wir werden nicht mehr zwölf Monate abwarten, bis Sie etwas unternehmen, um gesund zu werden. Durch klare Ansagen erreiche man oft doch, “dass professionelle Hilfe angenommen wird” …, meint der Psychotrainer. Das letztlich auch im Interesse des erkrankten Mitarbeiters.
Das Modell hat nur einen Haken: Wer auf der Burnour-Spirale schon weit hinabgerutscht ist, hat längst seinen unverstellten Blick dafür verloren, was Gesundheit für ihn mal bedeutet hat. …

Darum schlägt Werner Kissling ein solches “Modell” auch nicht so vor, wie es sich einem unkritischen SPIEGEL-Leser auf den ersten Blick darstellen könnte. In seinen Seminaren rät er Mitarbeitern und Vorgesetzten klar davon ab, Arzt zu spielen. Laien können und dürfen weder “Probleme” von Mitarbeitern als Krankheit diagnostizieren noch Mitarbeiter als psychisch “erkrankt” einstufen.
Werner Kissling ist kein “Psychotrainer”, sondern ein seriöser Psychiater, dessen Institut (der TU-München) Vorträge, Schulungen und Beratung anbietet. Dabei betont er, dass ein funktionierender Arbeitsschutz eine Grundvoraussetzung ist und dass Gefährdungen vorschriftsgemäß beurteilt werden müssen. Im Gegensatz zum SPIEGEL kennt und respektiert Werner Kissling den Arbeitsschutz und die Mitbestimmung. Er bietet auch Betriebsräten Schulungen an.
All das hat der SPIEGEL ignoriert und erweist damit sowohl seinen Lesern wie auch dem von ihm zitierten Arzt keinen Dienst. Auch in dem ganzen 132seitigen Heft habe ich nichts zum Arbeitsschutz und seiner Vernachlässigung durch die Mehrheit der Arbeitgeber gefunden. In Sachen Arbeitsschutz bleiben die Leser unwissend und hilflos.
Die Vernachlässigung der psychischen Belastungen im Arbeitsschutz dermaßen zu ignorieren, muss inzwischen ziemlich anstrengend für Journalisten geworden sein. Diese Vernachlässigung ist inzwischen klar belegt. Die meisten Journalisten ignorieren die Fakten trotzdem: Etwa 70% der Unternehmen beziehen psychisch wirksame Belastungen nicht in den Arbeitsschutz ein. Der SPIEGEL weiß, dass es hier Probleme gibt, kommt aber nicht auf die Idee, dass die beharrliche Missachtung wichtiger Regeln des ganzheitlichen Arbeitsschutzes das Risiko der Mitarbeiter erhöht, durch ihre Arbeitsbedingungen verletzt zu werden. Unter welchen Bedingungen arbeiten eigentlich die Mitarbeiter des SPIEGEL? Ist der Einbezug psychischer Belastungen an den Bildschirmarbeitsplätzen in der SPIEGEL-Redaktion ein Tabu?
Von wichtige Fakten ausblendende Journalisten zu Politikern, die sich eigentlich um die Gesundheit der Bürger kümmern sollten: Auf der Rückseite des Heftes wirbt das FDP-geführte Bundesministerium für Gesundheit (BMG):

Die Vermeidung von zu viel Stress am Arbeitsplatz ist eine gemeinsame Aufgabe. Daran haben alle ihren Anteil.
Ob Arbeitnehmer oder Arbeitgeber: Zu viel Stress schadet uns allen. Nehmen Sie die betriebliche Gesundheitsförderung nicht auf die leichte Schulter. Machen Sie auch mit: www.Unternehmen-unternehmen-Gesundheit.de

Die Bundesregierung erlässt Gesetze, an die sich die Arbeitgeber zu halten haben. Anstatt die Missachtung des Arbeitsschutzgesetzes anzusprechen und die Verantwortung der Arbeitgeber für den Arbeits- und Gesundheitsschutz anzusprechen, macht dieses Ministerium (im Gegensatz zum CDU-geführten Bundesarbeitsministerium) Täter und Opfer gleichermaßen für die Gesundheitsförderung verantwortlich. Dabei ist erwiesen, dass sich Arbeitgeber ohne Motivationsdruck durch die Aufsicht beim Arbeitsschutz mehrheitlich nicht an ihre Pflichten halten würden. Ein zu großer Teil der Klientel der FDP drückt sich davor, den gesetzlichen Verpflichtung zur Umsetzung des Arbeitsschutzgesetzes nachzukommen.
(Aktualisierung: 2012-03-19)

ifb-Fachtagung Psychische Belastungen

So wie die Schwerpunkte aussehen, müsste das Fachtagung Resilienz heißen. Auch das ist wichtig, obwohl Verhaltensprävention eben gerade nicht im Fokus des Arbeitsschutzes steht.
http://www.ifb.de/psychische-belastungen2011-09 zufolge sieht das Seminar so aus:

Die Geheimnisse des Glücks? Einen Lesetipp dazu gibt es im Artikel Die Glückslüge (Ein Hinweis auf einen Beitrag im NDR-Kulturjournal, Mai 2011).
Wie schon angemerkt, ist der Titel “Psychische Belastungen” etwas unglücklich gewählt. Es scheint sich bei dieser Fachtagung im September 2011 vorwiegend um Verhaltensprävention zu handeln, d.h. darum, wie Individuen mit ihrer Beanspruchung umgehen können, die im Bereich des Arbeitsschutzes eine Wirkung der von Arbeitsbedingungen ausgehenden Belastungen sind. Es ginge dann also eher um “psychische Beanspruchungen” und “Stärkung der Resilienz”. Der Arbeitsschutz verlangt dagegen strikt, dass Fehlbelastungen an der Quelle beseitigt werden. Dort sind die Belastungen. Das Seminar bietet nicht die Schwerpunkte, die ein Betriebsrat notwendigerweise braucht, wenn er im Arbeitsschutz arbeitet. Es ist allerdings wohl so, dass es Arbeitgebern leichter fällt, sich mit der persönlichen Psyche ihrer Mitarbeiter zu befassen, als mit ihrer eigenen Verantwortung für die Arbeitsumgebung dieser Mitarbeiter.
In http://www.ifb.de/psychische-belastungen2011-09/ schreibt Ines Heinsius (ifb):

Auf unserer Fachtagung vom 06. bis 08. September 2011 in München erfahren Sie, wie Sie Fehlentwicklungen offen beim Namen nennen und Abhilfe schaffen, wenn Grenzen überschritten werden. In spannenden Vorträgen und praxisnahen Workshops stellen wir Ihnen bewährte Maßnahmen und ganzheitliche Konzepte gegen psychische Fehlbelastungen vor. Wir sagen Ihnen, wie Betriebsräte dafür sorgen, dass die Arbeit die Kollegen nicht krank macht!

Die Themenauswahl ist aber mehr Verhaltensprävention als Verhältnisprävention. Und wie wird das ifb die Missachtung des Arbeitsschutzes durch die große Mehrheit der Arbeitgeber beim Namen nennen?
 
Siehe auch: http://www.google.de/search?q=fachtagung-psychische-belastung-2011+ifb
 


2012-12: Habe gute Erfahrungen mit dem ifb gemacht: http://blog.psybel.de/die-ueberlastungsanzeige-als-instrument-im-gesundheitsschutz/