Psychische Belastungen bei 80% der Betriebe nicht beurteilt

2018-06-08: Bundestagsdrucksache 19/01011


Zur Einleitung (2012-07-21): Es gibt mindestens ein größeres Unternehmen, dass vor 2013 der Öffentlichkeit die Unwahrheit mitgeteilt hat. Er berichtete offiziell, dass sein Arbeitsschutz vollständig sei, obwohl ihm auch danach Prozesse zur Beurteilung psychischer Belastungen nachweislich fehlten. In der untenstehenden Statistik stehen die Großunternehmen besser da, als kleinere Unternehmen. Das mag einfach daren liegen, dass die Großunternehmen die Brisanz von Aussagen zum Einbezug psychischer Belastungen in ihrern Arbeitsschutz besser verstanden hatten und darum aus rechtlichen Gründen falsche Angaben machten, also lügen. Mangels Qualifikation konnten die Gewerbeaufsichten das nicht überprüfen. Ich vermute daher, dass im Jahr 2012 psychische Belastungen in noch mehr als 80% der Betriebe nicht beurteilt wurden.
Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Drucksache 17/10026, 2012-07-03
http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/102/1710229.pdf
(oder https://psybel.snrk.de/wp-content/uploads/2012/07/1710229vorab.pdf)
Aufsichtstätigkeit beim Arbeitsschutz

9. Wie häufig stellte sich nach Kenntnis der Bundesregierung bei Betriebsbesichtigungen pro Jahr seit 2005 bis heute absolut und prozentual zu allen geprüften Betrieben heraus, dass die geprüften Betriebe keine Gefährdungsbeurteilungen bzw. Gefährdungsbeurteilungen ohne die Beachtung von psychischen Gefährdungen durchgeführt haben (bitte nach Gewerbeaufsicht in den Ländern, Unfallversicherung und Berufsgenossenschaften differenzieren)?

Diese Daten werden in den Jahresberichten der staatlichen Arbeitsschutzbehörden der Länder bisher statistisch nicht erfasst, und auch die Unfallversicherungsträger verfügen nicht über verlässliche Aussagen.
Im Rahmen der Dachevaluation der 1. Periode zur Umsetzung der GDA wurden deutschlandweit über alle Wirtschafts- und Größenklassen insgesamt 6500 Arbeitgeber zur Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen befragt. Aus den Antworten ergibt sich, dass 52 Prozent der befragten Arbeitgeber für ihren Betrieb angaben, eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt zu haben. Je kleiner ein Betrieb desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Gefährdungsbeurteilung erstellt wurde. Ähnliche Ergebnisse ergab eine im Jahr 2009 von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) durchgeführte repräsentative Befragung von Inhaberinnen und Inhabern bzw. Geschäftsführerinnen und Geschäftsführern in Klein- und Kleinstunternehmen (BAuA: „Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von Inhaber/innen/Geschäftsführer/innen in Klein- und Kleinstunternehmen“, Dortmund/Berlin/Dresden 2011).

[Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen nach Größenklasse
(„Werden an den Arbeitsplätzen in Ihrem Betrieb Gefährdungsbeurteilungen durchgeführt?“)
Quelle: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD;
Drucksache 17/10026, 2012-07-03, “Aufsichtstätigkeit beim Arbeitsschutz”.
http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/102/1710229.pdf
Umfrage: Presseinformation “Arbeitsschutz auf dem Prüfstand: Qualitätsbarometer beschlossen”
(http://www.gda-portal.de/de/pdf/PM-Evaluation.pdf?__blob=publicationFile&v=2, 2011-05-11).]

[…] [Es] wird deutlich, dass der Schwerpunkt bei den Besichtigungen im ‘Technischen Arbeitsschutz’ liegt. Das Sachgebiet ‘Arbeitsplatz, Arbeitsstätte, Ergonomie’ wird bei jeder zweiten Besichtigung thematisiert, das Sachgebiet ‘Arbeitszeit’ bei jeder zehnten Besichtigung. Das Sachgebiet „psychische Belastung“ wird hingegen im Durchschnitt bei jeder neunzigsten Besichtigung behandelt. […]
[…] In der o. g. repräsentativen Befragung wurde nach der Einbeziehung der „psychischen“ Belastungsfaktoren „soziale Beziehungen“ und „Arbeitszeitgestaltung“ in die Gefährdungsbeurteilung gefragt. 44 Prozent bzw. 48 Prozent der befragten Betriebe, die eine Gefährdungsbeurteilung durchführen, gaben an, dass sie diese Belastungsfaktoren einbezogen haben. In der erwähnten Untersuchung wurde auch direkt nach der Einbeziehung psychischer Belastungen in die Gefährdungsbeurteilung gefragt. Bezogen auf die Grundgesamtheit der repräsentativen Stichprobe von 6500 Betrieben führen insgesamt 20 Prozent der befragten Betriebe eine Gefährdungsbeurteilung unter Einbeziehung von psychischen Belastungen durch. Die entsprechende Verteilung auf die Betriebsgrößenklassen zeigt die oben angeführte Abbildung.
[…]

In der Umfrage wurden Unternehmen (Geschäftsführungen beziehungsweise Arbeitsschutzfachleute) in den Betrieben befragt. Von großen Betrieben, die vor allem auf die Rechtssicherheit des Top-Managements achten, könnten auch Fehlangaben gekommen sein, damit keine Verstöße gegen Arbeitsschutzbestimmungen dokumentiert werden oder Zertifikate zurückgegeben werden müssen. Mir ist ein Betrieb bekannt, der hier bei Angaben zum Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz schlicht lügt.
Die Betriebsräte dieser Unternehmen könnten den den Gewerbeaufsichten gegebenenfalls nähere Angaben machen. Diese Schutzbehörden bleiben aber weiterhin unkritisch und fragen in den Betrieben nicht aktiv nach Belegen für behauptete Arbeitsschutzmaßnahmen im Bereich der psychischen Belastungen. Denn bei genauerer Kontrollen müssten Aufsichtspersonen feststellen, dass sie in der Vergangenheit den Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz der Betriebe in der Vergangenheit nicht gründlich und kompetent genug kontrolliert hatten. Das gemeinsame Versagen bindet Geprüfte und Prüfer darum enger aneinander, die zu schützenden Mitarbeiter haben das Nachsehen.
Es gibt Betriebe, die nach OHSAS 18001 zertifiziert sind, aber das Thema der psychischen Belastungen nicht ausreichend in ihren Arbeitsschutz integriert haben. Von Zertifikaten für Arbeitsschutzsysteme versprechen sich die Prüfer der Gewerbeaufsicht leider mehr, als diese Zertifikate wirklich bieten. Auch kann es vorkommen, dass Arbeitsschutzfachleute psychische Belastungen nicht ernsthaft beurteilen, den Begriff aber in der Gefährdungsbeurteilung zur Beruhigung überforderter Aufsichtsbeamter der Form halber ohne irgendwelche Aussagen zur Qualität des Arbeitsschutzes in diesem Bereich erwähnen. Sie können dann sagen, sie dass psychische Belastungen thematisiert worden seien. Und schon wieder gefährdet diese Scheinsicherheit die Arbeitnehmer.
Wegen dieser Situation hätten auch die Betriebsräte und die Personalräte in der bundesweite Umfrage befragt werden müssen, und zwar auch kritisch, denn viele Arbeitnehmervertretungen verstehen das Thema der psychischen Belastungen immer noch nicht gut genug.
Aber das Ergebnis ist so oder so eine Ohrfeige für die Arbeitsschutzpolitik aller seit 1996 dafür Verantwortlichen, nicht nur aus der Sicht des Arbeitsschutzes, sondern auch aus rechtsstaatlicher Sicht. Wir haben hier einen massenhaften Rechtsbruch, der sogar heute noch von den Behörden toleriert wird. Ich verlange ja nicht gleich Strafen, sondern wenigstens die Kontrolle leicht prüfbarer Dinge. Beispielsweise werden psychische Belastungen in vielen Unternehmen überhaupt nicht in die Arbeitsschutzunterweisung einbezogen. Unterlagen und Belege fehlen. Aber die Gewerbeaufsicht protokolliert nicht einmal solche eindeutigen Mängel.
Die Hoffnung auf unternehmerische Eigenverantwortung rechtfertigte den netten Versuch laxer Kontrolle vielleicht, aber dieser Versuch hätte früher beendet werden müssen: Mindestens die Hälfte der Großunternehmen missachtete über viele Jahre hinweg die Pflicht, die Gefährdungskategorie “psychische Belastungen” in den Arbeitsschutz zu integrieren. Eigentlich ist das Anarchie, aber sie erstaunt uns nicht mehr. Einerseits leben wir in einem Land, in dem Sozialhilfeempfänger penibel kontrolliert werden, damit sie keinen Cent zuviel bekommen. Andererseits trauen wir uns nicht, Unternehmer zu überwachen, deren Mehrheit auch heute noch die Gesundheit ihrer Mitarbeiter bis hin zur Körperverletzung auf das Spiel setzt. Angesichts der Geschichte kann heute die nachhaltige Respektlosigkeit dieser Unternehmer gegenüber den Arbeitsschutzbestimmungen eigentlich kein Versehen mehr sein.
-> Alle Beiträge zu dieser Kleinen Anfrage im Bundestag
 
Siehe auch:


 


2013-01-05
Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK):
https://psybel.snrk.de/wp-content/uploads/2013/01/Protokoll_ASMK_2012.pdf

Ergebnisprotokoll der 89. Konferenz der Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder am 28./29. November 2012 in Hannover

Umsetzungsdefizite
Dem Bedeutungswandel im Spektrum der Arbeitsbelastungen muss in der Gesetzgebung und in der betrieblichen Praxis Rechnung getragen werden: Ein Arbeitsschutz, der psychische Belastungsfaktoren nicht oder nicht angemessen in seinen Fokus nimmt, wird in der modernen Arbeitswelt das Ziel, arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren und Unfälle zu vermeiden und Arbeit menschengerecht zu gestalten, nicht erfüllen.
Trotz richtungsweisender Aktivitäten der Länder und anderer Arbeitsschutzakteure, trotz der Anstrengungen vieler Betriebe im Handlungsfeld psychischer Belastungen: Es mangelt an einer stärkeren Verbindlichkeit für die Betriebe und an mehr Handlungssicherheit für die Aufsichtsbehörden. Darüber hinaus muss auch die Kompetenz der verantwortlichen Akteure gefördert werden.
Defizite in Betrieben
Psychische Belastungen spielen keine oder nur eine untergeordnete Rolle in der Gefährdungsbeurteilung. So ergab eine Betriebsrätebefragung, dass in 58 Prozent der Betriebe mit mehr als neunzehn Beschäftigten eine Gefährdungsbeurteilung ganz oder teilweise durchgeführt wurde, darunter aber lediglich zwanzig Prozent auch psychische Belastungen ermittelten (WSI 2008/2009). Eine repräsentative Befragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz zeigte für Klein- und Kleinstbetriebe (< 50 Beschäftigte) ein noch schlechteres Ergebnis: Nur 38 Prozent dieser Betriebe hatte eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt, nur sechs Prozent ermittelten davon auch psychische Belastungen. (Sczesny, C., Keindorf, S., Droß, P. 2011, S.45ff.). Die jüngsten Ergebnisse der Dachevaluation der GDA bestätigen die unzureichende Umsetzung von Gefährdungsbeurteilungen. Von den befragten 6.500 Arbeitgebern antwortete nur jeder Zweite, dass in seinem Betrieb eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt wurde. Von diesen Betrieben berücksichtigte nur jeder fünfte Betrieb psychische Belastungen (soziale Beziehungen, Arbeitszeitgestaltung). Je kleiner der Betrieb, desto seltener lag eine Gefährdungsbeurteilung vor und desto geringer war der Anteil von Betrieben, die psychische Belastungsfaktoren ermitteln (BMA 2012, S. 10f.). Über die anschließende Umsetzung von Maßnahmen gibt es bisher keine Erkenntnisse. Die Gründe für die unzureichende Beurteilung von Arbeitsbedingungen und vermutlich noch geringere Umsetzung geeigneter Maßnahmen sind vielfältig. Es fehlt das Verständnis für psychische Belastungen, die Anforderungen sind unklar, es herrscht Unsicherheit über anzuwendende Instrumente und es mangelt an der Kompetenz der zuständigen Akteure. Die Begriffsdefinitionen, Verpflichtungen und Grundsätze im Arbeitsschutzgesetz (z.B. §§ 2, 3, 4, 5 ArbSchutzG) reichen offenbar nicht, um psychische Belastungen angemessen zu berücksichtigen und Arbeitsbedingungen menschengerecht zu gestalten. Auch andere geltende gesetzliche Regelungswerke werden nicht in erforderlichem Maße umgesetzt, obwohl die Beurteilung psychischer Belastungsfaktoren mittelbar oder unmittelbar enthalten ist (Arbeitssicherheitsgesetz [gemeint ist wohl “Arbeitsschutzgesetz”], Bildschirmarbeitsverordnung, etc.).
Defizite im Aufsichtshandeln
Wie in den Betrieben werden psychische Belastungen auch von den Gewerbeaufsichten in der Überwachungspraxis nicht angemessen berücksichtigt (Beck D., Richter G., Lenhardt U. 2012). Die Gründe dafür unterscheiden sich nicht wesentlich von denen in den Unternehmen. Es herrscht auch bei den Aufsichtsbeamtinnen und –beamten noch eine große Unsicherheit bei diesem Thema und die Beurteilungsmaßstäbe für die Angemessenheit von Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastungen sind unklar. Trotz bestehender Konzepte, existierender Handlungshilfen und Qualifizierungsoffensiven der Arbeitsschutzbehörden müssen sich die vorwiegend technisch ausgebildeten staatlichen Aufsichtspersonen den Zugang zu den „modernen“ Belastungen im Aufsichtshandeln noch besser erschließen. Die Veränderungen im Anforderungsprofil des Aufsichtspersonals durch Neueinstellungen oder Nachbesetzungen von Angehörigen anderer nicht technisch ausgebildeter Berufsgruppen, vollzieht sich nur langsam. Erschwerend kommt hinzu, dass die rechtliche Unverbindlichkeit dafür sorgt, dass im Spannungsfeld zwischen Unternehmensleitungen und staatlicher Aufsicht die Durchsetzungsfähigkeit für konkrete Forderungen an die Betriebe stark eingeschränkt ist.

(Link nachträglich eingefügt)
Zu guter Letzte: Es gibt Betriebe, die nach OHSAS 18001 zertifiziert worden sind, obwohl ihnen mitbestimmte Prozesse zum Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz fehlen. Manche Zertifizierungen durch externe Auditoren (auf die sich die Gewerbeaufsichten leider formal verlassen) sind also nur eine Farce.

Kunde bei OHSAS 18001 ist die Belegschaft

Die Präsentation von Heinrich Preiss ist eine gute Einführung in OHSAS 18001, ein britischer Standard für Arbeitsschutzmanagementsysteme (AMS), der international schon gut verbreitet ist.
Ing. Heinrich Preiss, KWI Consultants GmbH, 2011-02-24, http://www.voesi.at/Files/Grundlagen OHSAS 18001.pdf:

  • „Kunde“ bei ISO 14001 ist das Umfeld des Betriebs (Gesellschaft)
  • „Kunde“ bei OHSAS 18001 ist die Belegschaft

ISO 14001 System ist in der Regel auf OHSAS erweiterbar

Mitbestimmung der Beschäftigten durch Einbeziehung

  • Gefährdungserkennung, Risikobewertung, Maßnehmenfestlegung
  • Unfalluntersuchung
  • Entwicklung von Politik und Zielsetzungen
  • Beratung bei Veränderungen
  • Interessenvertretung
  • Beratung von Kontraktoren bei Änderungen

Anmerkungen:


 
Ich meine, dass es in Arbeitnehmervertretungen (mittlerer und großer Unternehmen) mindestens ein Betriebsrats- oder Personalratsmitglied geben sollte, das die Fähigkeit zur Durchführung eines internen Audits (1st-Party-Audit) hat. Arbeitnehmervertreter sind auch Vertreter der Kunden des Arbeitsschutzes. Daher sollten sie einen Lieferantenaudit (2nd-Party-Audit, manchmal auch Kundenaudit genannt) durchführen können. Beides geht nach ISO 19011:2011.
Außerdem sollten Betriebs- und Personalräte wenigstens grob verstehen, was der Arbeitgeber bei einem Zertifizierungsaudit (sowie dem jährlichen Überwachungsaudit und dem dreijährlichen Wiederholungsaudit) zu tun hat, welche Dokumente dabei vorgelegt werden müssen und welche Dokumente die Zertifizierungsgesellschaft anfertigt (ISO 17021:2011). Diese Dokumente (insbesondere der Abweichungsbericht) sind wichtig für die Betriebsratsarbeit, insbesondere im Zusammenhang mit der Unterrichtungs- und Erörterungspflicht des Arbeitgebers siehe auch (siehe auch §81 und §89 BetrVG).
Weitere Notizen in diesem Blog zur Einführung in OHSAS 18001: http://blog.psybel.de/stichwort/ohsas-18001-intro/
 


Als Alternative zu OHSAS 18001 bietet sich auch ILO-OSH an: http://blog.psybel.de/ams-standards/
 

Frustrierte Gewerbeaufsicht

Schon im März 2012 propagierte auch ver.di eine Art “Anti-Stress-Verordnung”
https://sozialpolitik.verdi.de/publikationen/sopoaktuell/2012/#sopo_aktuell-nr-118.

ver.di fordert schärfere Sanktionen bei fehlender Gefährdungsbeurteilung
Knapp zwei Drittel der Beschäftigten müssen nach eigenem Urteil seit Jahren immer mehr in der gleichen Zeit leisten, psychische Belastungen und Erkrankungen nehmen zu, ein Großteil der Beschäftigten glaubt nicht daran, die Tätigkeit bis zum Rentenalter ausüben zu können. Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit bis hin zum Verlust greifen mit all ihren Folgen für den Einzelnen und die Unternehmen immer weiter um sich. Das Instrument, das diesen Entwicklungen entgegenwirken soll, kommt in den Unternehmen uneingeschränkt bis gar nicht zur Anwendung.
Eine aktuelle Umfrage der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin bei 1.000 kleinen und mittelständischen Betrieben hat ergeben, dass 62 % dieser Betriebe keine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt und dass 93,7 % der Betriebe keine psychischen Gefährdungen erfasst haben.
Und das, obwohl psychische Störungen mit 9,3 % aller AU-Tage mittlerweile der vierthäufigste Grund für Arbeitsunfähigkeit ist.
Dieser Zustand ist nach mehr als 15 Jahren Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) völlig inakzeptabel. ver.di fordert deshalb eine Verschärfung von Sanktionen, wenn der Betrieb seinen Verpflichtungen aus dem Arbeitsschutzgesetz nicht nachkommt.
sopo_aktuell_Nr._118_v_07_03_2012 (PDF, 2 MB)


 
Und in https://sozialpolitik.verdi.de/publikationen/sopoaktuell/2012/data/sopoaktuell  118 Sanktionen bei fehlender Gefhrdungsbeurteilung_inkl Anlage.pdf (oder http://blog.psybel.de/wp-content/uploads/2012/07/sopo_aktuell_Nr._118_v_07_03_2012.pdf) findet man auf der PDF-Seite 29 dann dies:


Den Beratungsresistenten beikommen
Auf der vergangenen A+A in Düsseldorf (Oktober 2011) referierte Bernhard Räbel von der Gewerbeaufsicht in Sachsen-Anhalt zum Thema »Neue Wege in einer modernen Arbeitsschutzverwaltung«. Zur Frage der Sanktionen sagte er dort wörtlich: »Mag sein, dass die in Arbeit befindliche ‚Leitlinie Psychische Belastungen’ der GDA [Suche, GDA-Leitlinien] letztlich diesen Sollzustand teilweise beschreiben kann – doch eines muss unbedingt beachtet werden: Beratungsinstrumente und Empfehlungen für die Willigen haben wir genug, in nahezu unübersichtlicher Vielfalt – aber kein einziges die Beratungsresistenten zwingendes Instrument. Wir haben gewissermaßen die Fußgängerzone allseitig gekennzeichnet, dürfen aber keinen Poller stellen, dürfen den mit 130 durchrasenden nicht blitzen – erst wenn ein Kind überfahren ist, helfen, mit den Mitteln des Strafgesetzbuches zu handeln. Liebe Fachkollegen, es gilt, auch unsere Mitarbeiter vor Frust zu schützen.«

(Links und Hervorhebungen nachträglich eingetragen)
Thematisierung in den Medien: Bitte recherchieren. Werden Mitarbeiter der Gewerbeaufsicht unter Druck gesetzt, wenn sie sich so äußern?
PDF-Seite 27:


Arbeitsschutzregelwerk und Arbeitsschutzaufsicht brauchen stärkere Sanktionsmöglichkeiten
Das Regelwerk des Arbeitsschutzes und die entsprechende Aufsichtspraxis der Arbeitsschutzbehörden sind bisher zu wenig mit Sanktionsmöglichkeiten ausgestattet. Vor allem bei der anstehenden Neufassung der bisherigen BGV A1 (bzw. GUV-V A1 im öffentlichen Bereich) zur DGUV Vorschrift 1 böte sich aus Sicht der Gewerkschaftsvertreter in der Selbstverwaltung der Unfallversicherung die Gelegenheit, dies nachzuholen. Das Unterlassen oder Verweigern einer gesetzlich vorgeschriebenen Gefährdungsbeurteilung durch den Arbeitgeber wäre dann strafbar und könnte von den Aufsichtspersonen schärfer geahndet werden.
Unter den Akteuren der gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) wird derzeit eine Debatte darüber geführt, ob und wie die Sanktionsmöglichkeiten der Arbeitsschutzbehörden erweitert werden sollen oder können. Dies vor allem im Hinblick darauf, dass viele Arbeitgeber ihrer gesetzlichen Verpflichtung zu einer Gefährdungsbeurteilung nicht nachkommen. Hier sind zwei zentrale Probleme des dualen Arbeitsschutzsystems berührt, nämlich die Vollzugsdefizite vor allem auf Grund fehlender personeller und materieller Ressourcen und damit zusammenhängend die nicht ausreichenden Sanktionsmöglichkeiten auf der rechtlichen Ebene.
Kritik der SLIC-Kommission schon 2006
Diese Probleme hatten bereits im Jahr 2006 im Bericht zum deutschen Arbeitsschutzsystem des »Ausschusses hoher Aufsichtsbeamter« der EU (SLIC) [Senior Labour Inspectors Committee] eine wichtige Rolle gespielt (siehe Gute Arbeit. 6/2006, Seite 22-24). Dort war unterstrichen worden, anspruchsvollen Arbeitsschutzzielen müssten auch ausreichende Ressourcen der Vollzugsbehörden gegenüber stehen. Bereits auf der Basis der ihr vorliegenden Daten des Jahres 2002 hatte die SLIC-Kommission seinerzeit bezweifelt, dass dies z. B. für Deutschland der Fall sei.

Wieder PDF-Seite 29:


Der Vorschlag würde zur GDA-Leitlinie Gefährdungsbeurteilung passen
Dazu »passt« es, dass Vertreter der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände in der Selbstverwaltung diese Vorschläge geradezu reflexhaft ablehnen. …

Siehe auch: http://blog.psybel.de/stichwort/bundestagsdrucksache-1710229/

Motivierende Vorschriften

Die Autonomie von Einzelpersonen und Unterehmen wird durch Gesetze begrenzt. In einer Demokratie ist das legitim. Soweit zur Erinnerung. Zur zur weiteren Erinnerung an ein paar wichtige Fakten zu den Grenzen der Unternehmensautonomie zitiere ich hier einmal aus meinem eigenen Blog.
 
Auszug aus http://blog.psybel.de/2011/06/29/esner/ und http://blog.psybel.de/2011/10/07/dekra-burnout-der-moderne-arbeitsunfall/:

  • Antworten durch Arbeitsschutzverantwortliche der befragten Betriebe 1510 in Deutschland auf die Frage „Welche der folgenden Gründe haben Ihren Betrieb dazu veranlasst, sich mit psychosozialen Risiken zu befassen?:
    • 53% – Erfüllung gesetzlicher Verpflichtungen
    • 42% – Anforderungen seitens der Beschäftigten oder ihrer Vertreter
    • 22% – Anforderungen seitens der Kunden oder Bedenken hinsichtlich des Rufs der Organisation
    • 22% – Auflagen seitens der Gewerbeaufsicht oder Berufsgenossenschaft
    • 19% – Nachlassen der Produktivität oder der Qualität der Leistung
    • 11 % – Hohe Fehlzeitenrate“

    Michael Ertel, European Survey of Enterprises on New & Emerging Risks (ESENER)

  • Die Antworten von 600 von der DEKRA befragte Unternehmen zeigen: „Die Betriebe werden im Arbeitsschutz meist nur aktiv, weil sie gesetzliche Vorschriften befolgen müssen (84 Prozent der Nennungen) und nicht, weil sie den wirtschaftlichen Nutzen sehen (31 Prozent) oder aus „ethischen Gründen“ (38 Prozent).“
  • „Wie aus dem DEKRA Arbeitssicherheitsbarometer 2011 hervorgeht, installieren vier von fünf Unternehmen Maßnahmen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz in erster Linie, weil es gesetzlich vorgeschrieben ist.“

  •  
    Prof. Dr. Jochen Prümper ist Wirtschafts- und Organisationspsychologe in Berlin. Er meint (http://blog.psybel.de/zu-viele-organisationen-druecken-sich-vor-dem-arbeitsschutz/, 2011-07-09):

    Es gibt noch viel zu viele Organisationen, die sich bei dem Thema Arbeits- und Gesundheitsschutz zum “Jagen tragen lassen”, die sich viel zu wenig um die Gesundheit ihrer Beschäftigten sorgen und die sich sogar davor drücken, ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Umsetzung des Arbeitsschutzgesetzes nachzukommen. Die entsprechenden Entscheidungsträger handeln in meinen Augen nicht nur grob fahrlässig, weil sie es versäumen, ihrer Fürsorgepflicht nachzukommen und für das Wohlergehen ihrer Beschäftigten Sorge zu tragen, sondern sie stellen auch leichtfertig – gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und des sich abzeichnenden Fachkräftemangels – die Existenz ihrer Unternehmen aufs Spiel.

     
    Dr. Ursula von der Leyen meinte in einem Inteview mit der Saabrücker Zeitung (http://www.bmas.de/DE/Service/Presse/Interviews/interview-vdl-saarbruecker-zeitung-2011_12_27.html, 2011-12-27):

    Es gibt ein Thema, das bislang viel zu kurz gekommen ist: die psychischen Belastungen in der Arbeitswelt. … Nach dem Arbeitsschutzgesetz muss, wer den Arbeitsschutz auch in seelischer Hinsicht vernachlässigt, mit empfindlichen Strafen bis hin zu Gefängnis oder Betriebsstilllegung rechnen. Wir brauchen also keine schärferen Gesetze. Studien zeigen, dass sieben von zehn Unternehmen das Thema schleifen lassen – meist aus Unwissenheit oder Hilflosigkeit. Deswegen müssen wir besser informieren, Lösungswege aufzeigen, kontrollieren und die Beteiligten motivieren.

    Ihr Ministerium sagt (http://blog.psybel.de/bmas-psychische-gesundheit-im-betrieb/, 2011-12):

    Die Aufsichtspersonen werden in Zukunft noch stärker prüfen, ob in den Gefährdungsbeurteilungen die im Betrieb existierenden psychischen Belastungen angemessen aufgegriffen werden und die entsprechenden Maßnahmen veranlasst und umgesetzt sind.


     
    Welche Hemmnisse gibt es?
    Auszug aus http://blog.psybel.de/ganzheitlicher-arbeitsschutz-nur-bei-16prozent-der-betriebe/:

    Die Ergebnisse aktueller Forschungsprojekte zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung (aus einem Bericht von Ina Krietsch und Thomas Langhoff, Prospektiv GmbH, Dortmund für BAuA/GRAziL, 2007-09 – 2010-04) sehen immer noch so aus:

    1. Fehlende Handlungsbereitschaft: Unternehmen greifen ohne die Impulsgebung durch Gewerkschaften, Betriebsräte bzw. Arbeitsschutzbehörden (vereinzelt) das Thema “Psychische Belastungen” als Gegenstand der Gefährdungsbeurteilung (GB) i. d. R. nicht auf.
    2. Geringe Handlungskompetenz: Weder bei betrieblichen noch bei überbetrieblichen Arbeitsschutzakteuren ist in der Breite eine ausreichende Kompetenz zum Umgang mit dem Thema “Psychische Belastungen” vorhanden.
    3. Schwierige Kooperation: Von Betriebsrat, Arbeitgeber und betrieblichen Arbeitsschutzakteuren bei der GB zu psychischen Belastungen bzw. unzureichende Abstimmung der Akteure untereinander.

    (s.a.: http://www.arbeitstattstress.de/2011/07/wie-wird-die-gefaehrdungsbeurteilung-in-den-betrieben-umgesetzt/)
    Siehe auch: Ralf Bellmann, Holger Wellmann, Andreas Blume, Uta Walter, Betriebsräte als Motor der betrieblichen Gesundheitspolitik, Gute Arbeit 2012-03

     
    Gründe für fehlende Begeisterung der Unternehmern beim Thema der psychischen Belastungen sieht Perry Jordan (Arbeitsgestaltung & Betriebsorganisation) darin (http://blog.psybel.de/veraenderungen-gehen-ans-eingemachte/, 2011), dass:

    1. psychische Belastungen oft noch als individuelles Problem angesehen wird (man kennt sie ja, die Workaholiker oder unfähigen Zeitmanager …) bzw. eine gedankliche Trennung zwischen Mensch und Betrieb vornimmt,
    2. Führungskräfte ahnen/wissen, dass es bei ggf. erforderlichen Veränderungen häufig ans Eingemachte geht – Organisation, Personaleinsatz/ -entwicklung, Führung/ Kommunikation -und man dieses (Diskussions-) Risiko scheut,
    3. ganz einfach Zusammenhänge nicht klar sind.

     
    Das zeigt auch, woran Arbeitnehmervertretungen ansetzen müssen, wenn sie ihrer Mitbestimmungspflicht im Arbeitsschutz gerecht werden wollen. Ohne die Nutzung der motivierenden Kraft von Vorschriften wird Betriebsrats- bzw. Personalratsarbeit ein äußerst zähes und frustrierendes Geschäft werden.
     

    Macht Mitbestimmung Spaß?

    Mitglieder des Betriebsrats bilden eine besondere Risikogruppe, da sie mit überdurchschnittlich vielen psychosozialen Konflikten umgehen müssen. Dazu gibt es auch Seminare, z.B. vom Forschungs- und Beratungsinstitut GULMO
    Hinweise zu Seminaren mit interessanten Themen lasse ich in diesem Blog stehen, auch wenn die Termine schon in der Vergangenheit liegen. Hier ist so ein Seminar. Es geht um ein bisher ziemlich vernachlässigtes Thema:

    14.03. – 15.03.2011 in Heidelberg, Leonardo Hotel
    Wer kennt das nicht: Erst rackert man sich für die Kollegen ab und dann kommt noch nicht mal ein Dankeschön. Im Gegenteil, bei der nächstbesten Gelegenheit ist der Betriebsrat dann auch noch Blitzableiter für alle möglichen Probleme im Unternehmen – mit freundlicher Unterstützung des Arbeitgebers. Oft herrscht auch im Gremium, in Betriebsversammlungen oder bei Verhandlungen keine heile Welt, was zu zusätzlichem Ärger und Belastungen führt.
    Der Stresssituation von Arbeitnehmervertretern in Deutschland wurde von Dr. Norbert Gulmo an der Universität Heidelberg in einer umfangreichen Studie von 2006 bis 2007 nachgegangen. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse und mit Hilfe des von den Krankenkassen geförderten Konzepts „Gelassen und sicher im Stress“ werden im Seminar nützliche Problemlöse- und Stressbewältigungsmethoden vorgestellt und Wege aus verfahrenen und belastenden Situationen aufgezeigt.

    Montag, 14. März 2011
    09:30 Uhr Begrüßung und Einführung in das Seminar
    10:00 Uhr Stress für Arbeitnehmervertreter, gibt’s den überhaupt? Beispiele der betrieblichen Praxis
    10:30 Uhr Kaffeepause
    10:45 Uhr Macht Mitbestimmung Spaß? Ergebnisse der Studie zu Stress von Betriebsräten in der BRD
    11:30 Uhr Grundlagenwissen: Was ist Stress? Ursachen, Erscheinungsformen, Folgen für Gesundheit etc.
    12:15 Uhr Mittagspause
    13:30 Uhr Die eigenen Fähigkeiten nutzen
    – Drei Hauptwege zur Stressbewältigung
    14.15 Uhr Stress entsteht im Gehirn: Wie man sich selbst verrückt machen kann und was wirklich dran ist
    15:00 Uhr Kaffeepause
    15:30 Uhr Kloß im Hals oder Herzrasen: Cool bleiben durch Erregungskontrolle
    Dienstag, 15. März 2011
    09:00 Uhr Diskussion oder Diskreditierung?
    Über Kommunikation im Gremium und anderswo
    10:15 Uhr Kaffeepause
    10:30 Uhr Woher kommt eigentlich der Ärger?
    Ursachenanalyse und Problemlösemethoden für Stresssituationen, die nur Arbeitnehmervertreter kennen
    11:30 Uhr Enthusiasmus – Frustration – Resignation:
    Wege aus der Burnout-Falle
    12:15 Uhr Mittagspause
    13.30 Uhr Wenn`s wenigstens einen gibt, mit dem man reden kann: Was andere Menschen bewirken können
    14:15 Uhr Warum das alles? Ziele klären und mit sich selbst übereinstimmen
    15:00 Uhr Kaffeepause
    15:15 Uhr Wenn einem alles über den Kopf wächst:
    Zeitmanagement und Nein-Sagen können
    16:00 Uhr BR-/PR-Arbeit ist auch nicht alles:
    Work-Life-Balance
    16:30 Uhr Ende des Seminars

    Seminarkosten
    Seminargebühr: 590,-€
    Hotelkosten mit Vollpension 218,-€, bei Anreise am Sonntag 350,-€ incl. Abendessen; (Sollten Sie nicht im Hotel übernachten berechnet das Hotel eine Tagungspauschale von 86,-€). Alle Preise zzgl. MwSt.
    Zur Anmeldung.

    Norbert Gulmo begann seine berufliche Laufbahn als Schlosser, sammelte dann Erfahrung als Betriebsratsmitglied und Betriebsratsvorsitzender und arbeitet nun schon seit einigen Jahren als Berater, nachdem ein Psychologie-Studium mit einer Promotion abschloss. Ich konnte diese personifizierte Kombination aus Praxis und Theorie selbst in einem seiner Seminare kennenlernen.
     


    Nachtrag (2015-11): http://www.gulmo.de/seminare/klausurtagung/

    Tausendmal diskutiert und doch ist nichts passiert?

    • Resch, M. & Blume, A., 2004: Tausendmal diskutiert und doch ist nichts passiert? Computer-Fachwissen 2/2004, 9 – 14 und 3/2004, 8 – 13. (In einer Datei zusammengefasst: Resch-Blume-inCF2004-02u03.pdf)
    • Manuel Kiper, 2006: Psychische Belastungen, Computer-Fachwissen 7-8/2006

    Psychosoziale Kosten turbulenter Veränderungen


    erschöpfende Belastung

    Psychosoziale Kosten turbulenter Veränderungen
    (2008)
    Quelle der folgenden Einführung: Tom Levold, systemmagazin.de, 2009-05-20

    Eine Arbeitsgruppe um Rolf Haubl vom Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt und Günter Voß von der TU Chemnitz hat im Auftrag der DGSv ausgewählte SupervisorInnen nach ihren Einschätzungen gegenwärtigen Veränderungen von Arbeitsbedingungen in Organisation befragt. SupervisorInnen werden als “kritische Zeitzeugen” angesehen, die einen berufsspezifischen privilegierten Zugang zu den “Hinterbühnen” von Organisationen haben und daher besser als viele Außenstehende organisationale Wirklichkeiten beurteilen können. Die 8-seitige Dokumentation dieser Befragung ist für 5,- € bei der kassel university press erhältlich, kann aber auch im Internet kostenlos als PDF geladen werden.
    Das Fazit der Befragung: »Die befragten Supervisor/innen sind sich darin einig, dass sich zunehmend mehr Beschäftigte einer beschleunigten Dynamisierung und Ausdünnung von Orientierung gebenden Strukturen ausgesetzt erleben. Was den Beschäftigten als “Freiheit” versprochen wird, erweist sich bei genauerem Hinsehen als höchst ambivalente Selbstverantwortlichkeit.
    Bei allen Unterschieden im Einzelnen entwerfen die Supervisor/innen doch ein bemerkenswert ähnliches Bild einer tief greifenden Krise: Sie stellen vor allem heraus, dass der Druck sachlich, vor allem aber ökonomisch ununterbrochen hoch effizient sein zu müssen, weithin erheblich zunimmt und die psychophysischen Kräfte vieler Beschäftigter verschleißt. Insbesondere ist es die Anforderung, kontinuierlich innovativ sein zu müssen, die schnell überfordert.
    Unter diesen Bedingungen entstehen nur selten nachhaltige Problemlösungen. Oft sind im Gegenteil die Qualität und Professionalität der Arbeit gefährdet, was sich nicht wenige Beschäftigte als eigenes Versagen zuschreiben. Auffällig ist, dass angesichts des ständigen Wandels ein drängender Bedarf nach verantwortlicher und unterstützender Führung besteht, betriebliche Vorgesetzte sich dem aber oft nicht gewachsen zeigen. Sie verstehen sich primär als hart drängende Change-Agents, die den auf sie einwirkenden ökonomischen Druck nach unten weitergeben und ihre Mitarbeiter/innen mit den Folgen weitgehend allein lassen.
    Dass unter all dem Kollegialität leidet und die Einzelnen in ganz neuer Quantität und Qualität ihre Arbeit als erschöpfende Belastung erleben, wundert daher nicht. Die Beschäftigten stehen vor der Aufgabe, aktiv Selbstfürsorge zu betreiben, womit aber nicht wenige von ihnen überfordert zu sein scheinen. Nicht zuletzt ist es das Verhältnis von Berufstätigkeit und Privatsphäre, das in Mitleidenschaft gezogen wird. Die modische Rede von der Work-Life-Balance zeigt das Problem zwar an, trägt aber kaum etwas zu seiner Lösung bei.

    Inhalt:

    Ziel und Hintergrund der Befragung
    Methodische Anmerkungen
    Ergebnisse
      Effizienz
      Innovation und Veränderung
      Qualität
      Professionalität
      Führung
      Kollegialität
      Belastung
      Selbstfürsorge
    Fazit
    Ausblick

     
    Siehe auch: