Psycho-Tricks gegen Betriebsräte

Am 10. Februar nahmen 190 von 300 Mitarbeiter der Wellpappenherstellers P-Well in Bad Bentheim an einer Betriebsversammlung teil. Auf Grundlage des Betriebsverfassungsgesetzes hatte die Gewerkschaft Verdi dazu eingeladen. Es ging um die Gründung eines Betriebsrates. Die Unternehmensleitung war nicht begeistert.
Mehr dazu können Sie auf der ersten Seite des Wirtschaftsteils der Süddeutschen Zeitung nachlesen: “Was fällt Ihnen ein, hier aufzukreuzen!” Gewerkschafter wollten in einer niedersächsischen Fabrik einen Betriebsrat gründen – und wurden brachial daran gehindert.
Unternehmer scheinen sich in diesem Land beim flexiblen Umgang mit dem Betriebsverfassungsgesetz sehr sicher fühlen zu können.
Detlef Esslinger, der Verfasser des Artikels, schreibt
(http://www.betriebsrat.de/portal/themen/sz/gruendung-betriebsrat-bei-p-well-bad-bentheim.html):

… Generell beobachten Gewerkschaften seit einiger Zeit, dass Unternehmer, die Betriebsräte verhindern wollen, mit Psycho-Tricks arbeiten: Angst verbreiten, Kandidaten isolieren, Belegschaft spalten. Schwierig, das jeweils nachzuweisen. …

Neben dem Betriebsverfassungsgesetz gibt es ja auch noch das Arbeitsschutzgesetz. Wenn die Gewerbeaufsicht ihren Job mit genügend Begeisterung macht, sollte der Nachweis von Verstößen gegen das Arbeitsschutzgesetz in Betrieben, in denen tatsächlich Psycho-Tricks gegen Arbeitnehmer eingesetzt werden, ganz einfach sein. Dazu müssen sich die Aufsichtspersonen nur gründlich die Gefährdungsbeurteilungsprozesse (so es sie gibt) und die im Arbeitsschutzgesetz vorgeschriebene Dokumentation (so es sie gibt) ansehen.
Ursula von der Leyens Bundesministerium teilte kürzlich mit: “Die Aufsichtspersonen werden in Zukunft noch stärker prüfen, ob in den Gefährdungsbeurteilungen die im Betrieb existierenden psychischen Belastungen angemessen aufgegriffen werden und die entsprechenden Maßnahmen veranlasst und umgesetzt sind.” Ob dieses Bundesministerium bei konkreten Anhaltspunkten ein bisschen kräftiger bei den niedersächsischen Gewerbeaufsichtlern anklopft?
Interessant, was in Deutschland trotz Rechtsstaatlichkeit heute immer noch möglich ist.
Siehe auch: http://blog.psybel.de/das-hamsterrad/

Arbeitssucht

http://www.betriebsrat.de/portal/themen/sz/interview-mit-juergen-glaser-arbeitssucht-workaholic.html (Süddeutsche Zeitung)

Ungesunder Ehrgeiz
Fr., 17.02.2012
Workaholics können nicht mehr aufhören zu arbeiten. Das ist gefährlich, denn Arbeitssucht kann zu Burnout und Depressionen führen. Im schlimmsten Fall kann sie sogar tödlich enden. Psychologe Jürgen Glaser erklärt, was es mit der Krankheit auf sich hat.

Bahn-Chefs kassieren, wenn Mitarbeiter zufrieden sind

http://www.welt.de/wirtschaft/article13835797/Bahn-Chefs-kassieren-wenn-Kunden-zufrieden-sind.html:

Neues Vergütungssystem
Autor: Nikolaus Dol
Bahn-Chefs kassieren, wenn Kunden zufrieden sind

Gute Note, gutes Gehalt: Ein Drittel der Bezüge der Bahn-Vorstände soll künftig von der Bewertung durch Kunden und Mitarbeiter abhängen.
Die Fahrgäste und die Beschäftigten der Deutschen Bahn (DB) AG bestimmen künftig darüber mit, wie viel die Vorstände des Konzerns jährlich verdienen. “Wir haben zum ersten Mal die Zufriedenheit der Kunden und der Mitarbeiter in den Vergütungssystemen unseres Unternehmens verankert”, sagte Vorstandschef Rüdiger Grube in Berlin.

Der Bahn-Chef ist mit seinem Vorstoß zwar kein Vorreiter, denn in Deutschland gibt es bereits eine ganze Reihe von Unternehmen, die die Einschätzung von Kunden oder Beschäftigten für die Festlegung der Vorstandsvergütung heranziehen.

Nikolaus Doll hat’s nicht so richtig verstanden: Ein bisschen ist die Bahn hier schon Vorreiter, denn nicht nur die Kundenzufriedenheit, sondern auch die Mitarbeiterzufriedenheit wird gemessen. Um das würdigen zu können, müsste der Berichterstatter natürlich auch die Mitarbeiterzufriedenheit auf dem Radar haben.
 
Aufmerksam geworden bin ich auf diese Meldung aber nicht in der WELT, sondern in der Süddeutschen Zeitung (2012-01-28, S. 3).

Der Chef sei gut – oder schlecht bezahlt.
Die Bahn will das Gehalt ihrer Vorstände davon abhängig machen, wie sie ihre Mitarbeiter bezahlen.
Von Daniela Kuhr

Die Bahn muss nun zeigen, das die neue Vereinbarung nicht nur gut klingt, sondern auch gut ist: Sie muss die Befragung so gestalten, dass daraus ein realistisches Bild entsteht.

Daniela Kuhr hat’s verstanden.
 
Anmerkungen:

 
Interessant auch dieser Artikel (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2011-06-03, Nr. 12)
http://fazjob.net/ratgeber_und_service/beruf_und_chance/fuehrungskraefte/?em_cnt=119366:

Psychische Belastungen im Berufsalltag meistern

Von Hanka Knoche

Die BAHN-BKK scheint hier ein Gleichgewicht zwischen Verhältnis- und Verhaltensprävention gefunden zu haben.

Faktenvermeidung in der Süddeutschen Zeitung

http://www.sueddeutsche.de/karriere/stress-am-arbeitsplatz-einfach-mal-den-off-knopf-druecken-1.1265582

… Dauerhafte Fehlbelastung führe zu Erkrankungen und Störungen, sagt BAuA-Sprecher Feldmann. “Das gilt für zu geringe als auch zu starke Belastung.” Dazu hat er interessante Zahlen parat: 15 Prozent der Arbeitnehmer fühlen sich einer Studie zufolge fachlich unterfordert, nur fünf Prozent überfordert. “Bei der Leistungsfähigkeit ist das Bild genau anders herum: Da fühlen sich nur fünf Prozent unterfordert, aber rund 17 Prozent überfordert.” …

Das, um wenigstens mit etwas Positivem zu beginnen, war für mich der interessanteste Teil eines Artikels von Verena Wolff in der Süddeutschen Zeitung von heute. Aber retten konnte das den Artikel auch nicht mehr. Denn Verena Wolff missbrauchte die gestern durch die Presse gegangene Meldung zu den IGM-Forderungen nur als Aufhänger für Positionen, die wohl vor Allem die Anzeigenkunden der Karriere-Rubrik zufriedenstellen sollten. Nicht einmal eine anständige Kritik der IGM-Forderungen brachte Verena Wolff zustande, denn dann hätte sie sich damit ja auseinandersetzen müssen. So gab sie sich Mühe, eine wichtige Passage aus der IGM-Meldung einfach nicht wahrzunehmen:


Der Gesundheitswissenschaftler und Leiter der Forschungsgruppe Public Health, Rolf Rosenbrock, erklärt: “Das zentrale Problem ist nicht das Fehlen von allgemeinen gesetzlichen Vorschriften oder Mängel an gesichertem Wissen. Sondern der Unwille in der Mehrzahl der Unternehmen in Deutschland, den Vorschriften zu folgen und das Wissen zu nutzen.” Aus seiner gesundheitswissenschaftlichen und -politischen Sicht begrüßt er jede Initiative, die die Thematik auf die betriebliche und politische Tagesordnung bringt.

(Schon einmal in http://blog.psybel.de/erst-einmal-die-vorhandenen-arbeitsschutzregeln-durchsetzen/ zitiert)
Das passt in die wohl nicht mehr ganz so journalistisch orientierte Karriere-Rubrik der Süddeutschen Zeitung anscheinend nicht mehr so gut hinein, und dann wird schon einmal versucht, von dieser Tagesordnung schnell wieder abzulenken. Im Artikel von Verena Wolff blieb diese lästige Unannehmlichkeit dann auch unerwähnt. Gewiss, es gibt immer ein paar schwarze Schafe unter den ansonsten ja so verantwortungsvollen Arbeitgebern. Jedenfalls möchten wir das gerne glauben. Dass es nur wenige weiße Schafe unter den Unternehmern gibt, passt vermutlich nicht in das Weltbild der Karriere-Redaktion.

Wenn Hitler oder Jesus nicht mehr helfen

“Zur Not halfen immer Hitler oder Jesus …” als Heilmittel gegen sinkende Auflagen, so die Einleitung eines Artikels in der Süddeutsche Zeitung vom 13.1. (S. 15)zur Burn-out-Thematisierung in den Medien. Eine Nummer kleiner geht’s wohl nicht, wenn Werner Bartens auch etwas zum Burn-out schreibt: “Burn-out als Wunderwaffe: Wie eine Modediagnose die Auflage der Magazine schöner macht“. Zur Mode gehören dann auch Leute, die Übertreibungen mit Übertreibungen kritisieren, zur Pflege der Auflage der SZ gerne auch mit Hitler oder Jesus als origineller Einleitung.
Bartens meint, Burn-out sei ein so schickes Thema, weil die “Modediagnose” die Ursachen für eine Depression der Überarbeitung und der Umgebung des Betroffenen zuweise. Dass Bartens von dem Thema nicht so viel versteht, sieht man daran, dass ihm eine wesentliche Gemeinsamkeit der Thematisierung des Burn-outs in Magazinen nicht auffällt: Dort dominieren Ratschläge zur persönlichen Verhaltensprävention. Die Magazine empfehlen also überwiegend individuelle Verhaltensanpassungen. Der in den Unternehmen bis heute kaum umgesetzte Arbeitsschutz interessiert in den von Bartels genannten Magazinen nicht. Sie machen es sich so leicht, wie Bartens selbst und unterschlagen die Weigerung der Mehrheit der Arbeitgeber, die seit 1996 geltenden Regeln des ganzheitlichen Arbeitsschutzes auch im Bereich der psychisch wirksamen Beklastungen zu beachten. In diesen Regeln stellen nicht die Medien, sondern der Gesetzgeber die Verhältnisprävention über die Verhaltensprävention.
Ist es sowohl für die von Werner Bartens genannten Magazine wie auch für Bartens selbst schon zu realitätsfremd, die jahrelange Missachtung von Schutzgesetzen zu kritisieren? Sind die Regeln des ganzheitlichen Arbeitsschutzes zu langweilig, um auch damit die Seiten der Magazine und der SZ schöner machen zu können?
Im Arbeitsschutz geht es nicht darum, Arbeitgeber zum Sündenbock zu machen. Sondern es geht unter Anderem darum, Unternehmen erst einmal dazu zu bewegen, psychische Belastungen (ein neutraler Begriff) überhaupt zur Kenntnis zu nehmen und ernsthaft zu bewerten. Weil es aber Einstellungen wie die von Werner Bartens gibt, ist hierbei Aufsicht nötig: Dr. med. Werner Bartens ist Leitender Redakteur im Wissenschaftsressort der Süddeutschen Zeitung. Er hat vermutlich Führungsverantwortung. Es wird vielleicht Zeit, dass etwas genauer überprüft wird, wie in seinem Verantwortungsbereich das Arbeitsschutzgesetz und die Bildschirmarbeitsverordnung umgesetzt werden.
Siehe auch zur Bereicherung der Seiten der SZ: http://quiz.sueddeutsche.de/quiz/2081640121-stress-test

Die TAZ sagt auch noch etwas dazu

Mit acht Tagen Verspätung füllt die TAZ (die tageszeitung) auf Seite 6 noch ein kleines Spaltenstückchen mit einer Meldung über die Arbeitsministerin van der Leyen, die jetzt etwas gegen Überlastung am Arbeitsplatz tun will. Zwei Spaltensegmente auf Seite 16 belegte dazu noch Simone Schmollack unter dem Kommentartitel “Ministerin ganz ohne Burnout“. Sehr originell. Schmollack maulte, dass sich die Arbeitsministerin in Themen der Familienministerin und der Gesundheitsministers einmische. Dann widmete sie sich dem Burn-Out als Modebegriff. Das ist nach all den Ungenauigkeiten in der Diskussion zu dem Thema eben im Augenblick die Mode.
Klar, das Thema war in den letzten Monaten populärer geworden, und dann musste nach langer Enthaltsamkeit zu diesem Thema auch die TAZ etwas dazu sagen. Schmollak machte das wie Kristian Weber in der Süddeutschen Zeitung (2011-10-22, S. 24), nur kürzer.
Angesichts ihrer Zuständigkeiten im Arbeitsschutz auf Bundesebene kann man der Arbeitsministerin legitim eigentlich nur vorwerfen, dass sie die Überlastung am Arbeitsplatz erst jetzt aufgreift und nicht deutlich genug macht, dass die Mehrheit der Arbeitgeber seit 1996 (und trotz wichtiger BAG-Beschlüsse im Jahr 2004) ihre Pflichten im ganzheitlichen Arbeitsschutz fortgesetzt und wissentlich mißachtet hatte. Nicht nur die Bundesfamilienministerin und der Bundesgesundheitminister kamen der Bundesarbeitsministerin zuvor, sondern besonders deutlich (hoffentlich auch weiterhin) wurde hier bereits Christine Haderthauer, die Bayerische Staatsministerin für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen.
Es ist zwar ein bisschen verkehrt herum, aber die TAZ könnte vielleicht auch noch nach dem Kommentar etwas recherchieren. In der Redaktion weiß man vermutlich nicht, dass die große Mehrheit der Unternehmen seit Jahren gegen die Arbeitsschutzbestimmungen verstößt, weil diese Arbeitgeber die psychisch wirksamen Belastungen in ihn nicht mit einbeziehen. Wenn man Kommentare über die Arbeitsministerin und Burn-out schreibt, könnte es nicht schaden, die Aufgaben der Arbeitsministerin zu kennen. Möglicherweise ist das Thema der psychischen Belastungen am Arbeitsplatz aber auch nur uninteressant für die taffe TAZ. Oder vielleicht rafft sich ja doch aus dieser so vorbildlichen Redaktion noch jemand zu einer ordentlichen Recherche auf. (Ich hatte die Redaktion auch als TAZ-Genosse schon früher darum gebeten.) Zu der These “Zu viele Organisationen drücken sich vor dem Arbeitsschutz” könnte die TAZ damit in Berlin beginnen, also noch in Simone Schmollaks Nähe.
Anmerkung: Die Begeisterung der FDP-Gesundheitsminister für das Betriebliche Gesundheitsmanagement ist mit Vorsicht zu genießen. Siehe: Gesundheitsmanagement als Schleier.

Von der Leyen kündigt Kampagne an

http://www.rp-online.de/politik/deutschland/von-der-leyen-plant-kampagne-gegen-burn-out-1.2652967
Wie auch die Saarbrückener Zeitung meldet, plant Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen eine breit angelegte Kampagne zur Bekämpfung psychischer Überbelastungen in der Arbeitswelt. Mit den Tarifpartnern, Sozialversicherungsträgern sowie Länderexperten wolle sie im kommenden Jahr “wirksame Maßnahmen” gegen diese Probleme entwickeln, kündigte von der Leyen der Zeitung zufolge an.
Strengere Gesetze seien, so die Zeitung, nach Ansicht von der Leyens nicht nötig.

Schon jetzt gebe es strenge Arbeitsschutzbestimmungen auch mit Blick auf seelische Belastungen.
Studien zeigten aber, “dass sieben von zehn Unternehmen das Thema schleifen lassen – meist aus Unwissenheit oder Hilflosigkeit“. Daher müsse man besser informieren und Lösungswege aufzeigen. Dies solle die von ihr geplante “breit angelegte Kampagne” erreichen.

(Link und Hervorhebung nachträglich eingefügt)
Hier stimmt fast alles, vielleicht auch die “Hilflosigkeit”. (Gibt es erlernte Hilflosigkeit auch bei Organisationen?) Aber die “Unwissenheit” wurde von zu vielen Arbeitgebern geradezu proaktiv gepflegt. Mitarbeiter und Betriebsräte, die auf das Thema aufmerksam machten, wurden unter Druck gesetzt. Dokumentiert wird die Absichtlichkeit des Unwissens der Arbeitgeber einfach dadurch, dass die Gewerkschaften das Thema schon vor Jahren aufgriffen. Das ist gut dokumentiert. Die Arbeitgeber wussten, was sie taten und was sie unterließen: Tausendmal diskutiert, und doch ist nichts passiert.
Sehr gut ist, dass die Arbeitsministerin strengere Gesetze nicht für nötig hält. Strengere Gesetze wären meiner Ansicht nach sogar schädlich. Aber Arbeitgeber, die ohne einen ausreichenden Arbeitsschutz die Gesundheit ihrer Mitarbeiter riskieren, müssen leichte in Haftung genommen werden können.
Woran wir uns wieder gewöhnen müssen, ist ein Rechtsstaat, in dem Unternehmen geltene Schutzgesetze zu beachten haben und in dem Aufsichtbehörden diese Schutzgesetzen durchsetzen können und dürfen. Dabei gibt es häufig noch ein Problem: Manche Arbeitgeber schaffen es gerade noch, Betriebsräte “einzubeziehen”, das Wort “Mitbestimmung” fehlt dann häufig sogar schon in ihrem Vokabular. Das behindert die Umsetzung der als Rahmenbestimmungen formulierten Regeln des Arbeitsschutzes. Betriebsräte bestimmen mit. Es herrscht sogar Mitbestimmungspflicht! Es geht also nicht nur um mehr Respekt vor Schutzgesetzen, sondern auch um das Betriebsverfassungsgesetz und um die Förderung der Betriebsräte beim Aufbau der für ihre Aufgaben erforderlichen Kompetenzen.
Komplettes Interview: http://www.bmas.de/DE/Service/Presse/Interviews/interview-vdl-saarbruecker-zeitung-2011_12_27.html
 
Anmerkung: In der Süddeutschen Zeitung wurde im Oktober eine vermeintlich hysterische Verwendung des Begriffes “Burn-out” kritisiert. Die nüchtern geschriebene Meldung der Saarbrückener Zeitung gaben die Süddeutschen unter dem Titel “Von der Leyen plant Burn-out-Gipfel” wieder.

Jeder zweite geht in Frührente

http://www.google.de/search?q=2010+Jeder-zweite-geht-in-Frührente
Die Süddeutsche Zeitung fasste es heute zusammen: 2010 gingen 674000 Versicherte erstmals in die Altersrente. 47,5 Prozent der Versicherten wurde also die Rente gekürzt, weil sie sich vor Erreichen der Regelaltersgrenze zur Ruhe setzten. Im Jahr 2005 waren es noch 41,2 Prozent, im Jahr 2000 nur 14,5 Prozent.
Währenddessen wird in irgendeinem Paralleluniversum von Rente mit 67 gesprochen.

Tödliche Höflichkeit

Das Thema der psychisch wirksamen Belastung ist in Unternehmen oft eine “heiße Kartoffel”. Vorsicht und Höflichkeit sind gefragt. Ist das hilfreich? Wie kommt es, dass das Thema in vielen Unternehmen jahrelang herumgeschleppt wurde, obwohl zumindestens die Entscheider sahen, dass es angefasst werden muss? Wie gehen wir in Unternehmen mit anderen “sensiblen” Themen um?
Mir geht es nicht darum, der Unhöflichkeit das Wort zu reden. Aber moderne und auf Effizienz getrimmte Unternehmen sind so künstliche Umwelten wie die Cockpits von Flugzeugen. Mit einer Kommunikation, wie sie bei Hofe nötig war, kommen wir hier nicht weiter. Wir können auch ohne Höflichkeit miteinander sprechen ohne uns zu verletzen. Aber wir müssen die Kosten der Höflichkeit wohl erst noch besser verstehen. Dazu leistete Katrin Blawat in der Süddeutschen Zeitung heute einen Beitrag.
http://www.sueddeutsche.de/wissen/kommunikationspannen-die-dunkle-seite-der-hoeflichkeit-1.1244262

Die dunkle Seite der Höflichkeit
2011-12-27, 10:40
Von Katrin Blawat

Manche Menschen riskieren ihr Leben, weil sie nicht unhöflich sein wollen. Die vermeintliche Tugend kann irritieren, zu Missverständnissen führen und manchmal sogar tödlich sein.
Der Kapitän hat die Eisschicht offenbar nicht bemerkt, die Teile der Boeing 737 bedeckt. Vielleicht will er sie auch ignorieren und endlich abheben, immerhin hat der Flug fast zwei Stunden Verspätung. Während sie auf die Starterlaubnis warten, beginnt der Erste Offizier zaghaft, auf die Gefahr hinzuweisen. “Sieh mal, wie da hinten überall das Eis hängt”, sagte er. Pause. Dann der nächste Anlauf: “Siehst du all die Eiszapfen da hinten?” Und schließlich sein letzter Versuch: “Junge, das ist eine verlorene Schlacht hier.”
Dem Ersten Offizier war offenbar bewusst, dass ein derart vereistes Flugzeug zur Lebensgefahr werden kann. Warum aber wurde er nicht deutlicher? Wollte er vermeiden, den in der Hierarchie höher gestellten Kapitän durch harsche Kritik zu verärgern? Blieb er deshalb trotz der brenzligen Situation zurückhaltend und höflich? Endgültig klären lässt sich das nicht mehr. Kurz nachdem das vereiste Flugzeug vom Washington National Airport in Virginia gestartet war, stürzte es in den Potomac. 78 Menschen, unter ihnen der Erste Offizier und der Kapitän, starben an diesem 13. Januar 1982.

Es gibt noch andere Höflichkeitprobleme. Ich hatte insgesamt fast fünf Jahre in Japan gelebt, wo die Höflichkeit – um es höflich zu sagen – sehr ausgeprägt ist. Oft war es dort sehr schwierig, auf den Punkt zu kommen. Auch im Bereich der Nuklearenergie wurden dort wohl viele Probleme nicht angesprochen. Im früheren Japan war es für weniger mächtige Menschen sicherlich oft sehr ungesund, Mißstände offenzulegen. Mit den Technologien und Verfahren von heute ist es ungesund, das nicht zu tun.
 
Links (im Artikel nicht enthalten):

 
Weitere Artikel in der Süddeutschen Zeitung:

  • Emotionale Intelligenz in der Gehaltsverhandlung – Mehr Geld für die Sensiblen, 2011-10-31
  • Folgen von Doppelleben – Wenn das halbe Leben eine Lüge ist, 2011-09-15
  • Vernunft und Risikobereitschaft – Ablasshandel mit der eigenen Psyche, 2011-08-03
  • Absturz der Air France 447 – Ratlos im freien Fall, 2011-07-29
  • Absturz der Air France 447 – Tödliche Fehlerkette, 2011-07-29
  • Air-France-Katastrophe – Dreieinhalb Minuten Absturz, 2011-05-27
  • Sprechen über Gehälter – Nur Fische sind schweigsamer, 2011-02-06
  • Frau am Steuerknüppel – Emanzipation über den Wolken, 2010-12-28
  • Verhaltensforschung und Umweltschutz – Der Nachbar als Motivator, 2010-10-15
  • Beziehungsintelligenz – Wie Kollegen zu Verbündeten werden, 2010-09-29

Gejammer: Die Not der Psychiater

Andreas Meißner ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in München. Auch ist er
Mitglied im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Münchner Nervenärzte und Psychiater. Er schreibt heute in der Außenansichten-Rubrik (Seite 2) der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel Die Not der Psychiater:

Alle reden vom Burn-out, kaum einer von den Menschen mit Psychose oder Depressopn. Patienten und Helfer bleiben allein. …
… Studien haben gezeigt, dass ein Viertel der psychisch Kranken eine Psychotherapie machen, was jedoch drei Viertel des zur Verfügung stehenden Budgets verschlingt. Die anderen 75 Prozent der Patienten werden dagegen durch Nervenarzte und Psychiater behandelt – ihnen stehen lediglich die restlichen 25 Prozent des entsprechenden Honorartopfes zur Verfügung. Dadurch wächst die Gefahr, dass die psychotherapeutische Behandlung oft leichter, dafür eloquenter psychisch Kranker, die meist noch über ein stabiles soziales Netz und einen Arbeitsplatz verfügen, vieles an Ressourcen verbraucht. Ressourcen, die dann fehlen für die psychiatrische Versorgung von Patienten mit ausgeprägten Störungen wie schweren Depressionen und Psychosen.
Kassenärztliche Vereinigungen und Krankenkassen sind daher gefordert, die Schieflage in der Versorgung psychisch Kranker zu korrigieren …

Wenn Kassenärztliche Vereinigungen, Krankenkassen, Psychiater und Journalisten (auch der SZ) ihren Job ordentlich machen würden, dann wäre die seit vielen Jahren auch von den Kassen und Journalisten tolerierte Mißachtung der Pflicht der Unternehmen zum Einbezug psychisch wirksamer Belastungen in den Arbeitsschutz längst deutlich thematisiert worden. Die Krankenkassen (und damit ihre Kunden) hätten weniger Kosten und auch der von Andreas Meißner angepeilte nicht durch Fehlbelastungen am Arbeitsplatz geschädigte Rest der psychisch Erkrankten hätte weniger Wartezeiten in der Psychotherapie und der Psychiatrie. Andreas Meißner müsste dann auch nicht so sehr über fehlende Ressoucen jammern, die ihm die Psychotherapeuten mit ihren “eloquenten” Klienten angeblich wegschnappen.
(Nachtrag, 2011-11-28: Zum Burnout einer großen Gruppe von weniger “eloquenten” Betroffenen gibt es interessante Anmerkungen von Prof. Johannes Siegrist ab 53m30s im Podcast einer Sendung Ständig unter Druck bei dradio.de. Und noch etwas: “Der Trend ist klar. Und es trifft durchweg den Otto Normalverbraucher, der [wegen Burnout] dann still und heimlich und mit Abschlägen in der Erwerbsminderungsrente verschwindet.”)
Besonders erstaunlich finde ich in Andreas Meißners SZ-Beitrag, dass der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie anscheinend Psychotherapie nicht versteht:

… Dabei wäre oft gar nicht gleich eine tiefgehende Psychotherapie nötig, wie sie mit durchschnittlich 40 Stunden durchgeführt wird und mit einem festen Satz von 80 Euro pro Stunde schnell hohe Kosten verursacht. Nicht jeder Burnout-Betroffene muss seine Kindheit aufarbeiten – nicht jeder will das auch. …

Meißner hat wohl nicht bemerkt, dass schon seit einiger Zeit auch nicht jeder Psychotherapeut die Kindheit seiner Klienten aufarbeiten will. Kennt Meißner in der Psychotherapie nur die Psychoanalyse? Warum unterschlägt er das ganze Spektrum der verhaltenstherapeutischen Therapien? Damit schreckt Meißner Menschen vor der Psychotherapie ab, die eine Psychoanalyse weder brauchen noch wollen.