"Ausreichender Schutz" im Gesetz, aber nicht in der Praxis

Online Portal von PROTECTOR und W&S
http://www.sicherheit.info/SI/cms.nsf/si.ArticlesByDocID/1125383?Open&Channel=SI-BI-MV

Laut einer Umfrage des Deutschen Gewerkschaftsbundes wird von fast jedem dritten Mitarbeiter oft oder sehr häufig erwartet, außerhalb der Arbeitszeiten per E-Mail oder Telefon erreichbar zu sein. Die Arbeitsschutzgesetze bieten ausreichend Schutz gegen den Verstoß von Verantwortlichen, ständige Erreichbarkeit einzufordern. Die Arbeitgeberverbände bezweifeln, das sich das Problem damit eingrenzen lässt. Psychische Probleme entstehen nicht durch fehlende vertragliche oder gesetzliche Vorgaben sondern durch Mängel der Arbeitsabläufe und der Arbeitszeit in den Unternehmen.

Die Arbeitsschutzgesetze böten ausreichend Schutz, wenn sie eingehalten werden würden. Psychische Probleme entstehen u.A. durch Mängel der Arbeitsabläufe und der Arbeitszeit in den Unternehmen, wenn gesetzliche Vorgaben zur Minderung von Fehlbelastungen ignoriert werden.

Gefährdungsbeurteilung und Erreichbarkeit

http://www.bwr-media.de/arbeitssicherheit/10690_psychische-belastungen-ursula-von-der-leyen-zur-arbeitszeit/

Von Martin Weyde, 19.06.2012
Psychische Belastungen: Ursula von der Leyen zur Arbeitszeit
Frage: Gehören psychische Belastungen durch Handy, E-Mail oder SMS außerhalb der Arbeitszeit in die Gefährdungsbeurteilung?
Antwort: Ja. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen hat gerade die Trennung von Arbeitszeit und Freizeit angemahnt. Geschäftliche Telefonate und Korrespondenz per Handy, E-Mail oder SMS außerhalb der Arbeitszeit werden als Arbeitszeit gerechnet. Sie gehören deshalb in Ihre Gefährdungsbeurteilung „Psychische Belastungen“. …

Von BWRmed!a landen oft einige nicht sehr zimperliche Ratschläge für Arbeitgeber in meiner E-Mail. Man kann dieses Unternehmen aber nicht vorschnell in den Arbeitnehmerfeinde-Topf schmeißen. Die Ratschläge sind oft ziemlich interessant – und immer gut gewürzt, gelegentlich auch skurril.
Sachlich ist der Hinweis zur Gefährdungsbeurteilung richtig. Und er hilft auch den Arbeitgebern, denn Gefährdungen zu beurteilen bedeutet nicht, dass alle Belastungen abgebaut werden, sondern dass eine Basis geschaffen wird, mit Risiken richtig umzugehen und dabei gesund zu bleiben.
Wichtig ist dabei allerdings die Mitbestimmung. Wehe den Arbeitnehmern, die keine guten Betriebsräte oder Personalräte haben! Ohne kompetente Arbeitnehmervertreter kann die Gefährdungsbeurteilung selbst zu einer Gefährdung der Mitarbeiter werden.
BWRmed!a weiter:

… Und behalten Sie im Auge, wie sich von der Leyens Worte auf die Arbeitspraxis auswirken.

Interessant wird auch sein, wie sich ihre Worte auf die Taten bei der Durchsetzung der Arbeitsschutzvorschriften auswirken. Kann und darf die Gewerbeaufsicht in den Ländern jetzt wirklich ernsthaft prüfen? Oder werden die Behörden noch weiter ausgedünnt?

Arbeitgeber knausrig mit flexiblen Arbeitszeitmodellen

http://www.tagesspiegel.de/meinung/kontrapunkt-ausgleichende-gerechtigkeit/6747134.html

Kontrapunkt
Ausgleichende Gerechtigkeit
14.06.2012 00:00 Uhr
von Anna Sauerbrey …

… Laut dem IT-Branchenverband Bitkom sind bereits 88 Prozent der Arbeitnehmer auch in ihrer Freizeit erreichbar, der DGB spricht von 60 Prozent, die nach Dienstschluss noch verfügbar sind.
Das kann Fluch oder Segen sein, zurzeit ist es für die Arbeitnehmer eher noch ein Fluch. Zwar erwarten viele Arbeitgeber ein hohes Maß an Flexibilität (Reisen, unorthodoxe Arbeitszeiten, lebenslanges Lernen), sind aber mit flexiblen Arbeitszeitmodellen eher knausrig. Zu lesen war dieser Tage die Geschichte der Leiterin des Marburger Kulturdezernats. Die Alleinerziehende möchte sich den Job gern teilen, der Oberbürgermeister ist einverstanden, doch das Regierungspräsidium sagte nein. Das ist Alltag.
Hier sollte Arbeitsmarktpolitik ansetzen. Statt den Chefs Anrufe bei ihren Mitarbeitern nach 18 Uhr zu verbieten, sollte von der Leyen sie dazu bewegen, bei Arbeitszeitmodellen endlich kreativer zu werden. …

Ursula von der Leyens "knallharter Strafenkatalog"

Die Arbeitsministerin nutzt in der BILD das anschauliche “jederzeit erreichbar”-Thema um ihr Engagement im Arbeitsschutz zu zeigen:
http://www.bild.de/digital/handy-und-telefon/arbeitsrecht/firmen-stoppen-handystress-24604238.bild.html

11.06.2012, 23:57 | Handy
Muss ich wirklich immer erreichbar sein? Firmen stoppen Handy-Stress
Ständig erreichbar, Mails und Anrufe vom Chef auch nach Feierabend – immer mehr Arbeitnehmer macht der Handy-Stress krank. Damit soll nun Schluss … mehr…

Volkswagen hatte da ja schon etwas zum Vorzeigen. Wer sagt denn, dass die Arbeitgeber hier nichts tun? Allerdings auch: Wer sagt schon, dass bei Volkswagen die große Mehrheit der Mitarbeiter gewerkschaftlich sehr gut organisiert ist? Da ist es einfach, den Arbeitgeber zur Beachtung der Vorschriften des Arbeitsschutzes zu bewegen. Die Bundesarbeitsministerin hängt sich hier an eine Errungenschaft an, die der VW-Betriebsrat bereits im Dezember 2011 durchsetzen konnte.

Mehrere deutsche Topunternehmen führen jetzt Regeln zur Erreichbarkeit in der Freizeit ein.

Bei genauem Hinsehen sind viele dieser “Regeln” allerdings nur das, was die Arbeitsschutz- und Arbeitszeitvorschriften ohnehin vorschreiben. Dass sich Arbeitgeber an gesetzliche Vorschriften halten, kann man heute eben schon als menschenfreundliche Großtat verkaufen.
Wird es nun bedrohlich für die Arbeitgeber?

Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU): “Auch das Arbeitsschutzgesetz verlangt mit seinem knallharten Strafenkatalog von jedem Chef, dass er Körper und Geist seiner Mitarbeiter aktiv schützt – werktags genauso wie am Wochenende. …”

Das ist albern, und dann auch noch im Wiederholungsprogramm. Was nützt ein “knallharter Strafkatalog”, der nach über 16 Jahren Mißachtung des ganzheitlichen Arbeitsschutzes so gut wie nie zum Einsatz kam? Außerdem sind Verstöße gegen Arbeitsschutzregeln in den meisten Fällen erst einmal nur eine Ordnungswidrigkeit. Und das ist gut so, denn über Ordnungswidrigkeiten kann man unverkrampfter reden, als über Straftaten. Sinnvollerweise wird es erst bei Wiederholung, bei grober Fahrlässigkeit und bei vorsätzlichen Verstößen gegen die Arbeitsschutzvorschriften strafrechtlich ernst für Arbeitgeber.
Was soll der Lärm der Ministerin jetzt? Es lag an Politikern, die die Aufsichtsdienste immer mehr der Haushaltslage wegen abgebaut hatten, dass die Mehrheit der Unternehmen den ganzheitlichen Arbeitsschutz bis heute noch nicht implementiert haben. Und nun fuchtelt Ursula von der Leyen zur Ablenkung mit einem Strafenkatalog herum. Das ist natürlich viel einfacher, billiger und populistisch wirksamer, als – eine Anregung an die Arbeitsministerin – es den Gewerbeaufsichten und den Berufsgenossenschaften endlich zu ermöglichen, Unternehmen kompetenter und aufmerksamer kontrollieren zu können. Das kostet nämlich richtiges Geld.
Und wer sind die “Chefs”, die ihre Mitarbeiter nun auch noch in den Wochenenden schützen sollen? Ein Großteil der Chefs will keine Mitarbeiter quälen, sondern mit ihnen mindestens ordentlich umgehen. Dazu kommt noch, dass viele Chefs außerdem selbst Opfer von Arbeitgebern sind, die seit 1996 den Arbeitsschutz in wichtigen Punkten nachhaltig (und zum Teil auch recht “aktiv”) mißachten. Dem unteren Management wird dabei vom höheren Management gerne Verantwortung für Arbeitsschutz, Gefährdungsbeurteilungen usw. zugeschoben, ohne dass die Menschen im unteren Management die im Arbeitsschutzgesetz vorgeschriebene Unterweisung erhalten haben. Es gibt genug untere Führungskräfte (Teamleiter, Projektleiter usw.), die sich nach einem starken und ernsthafteren Arbeitsschutz sehnen, der es dem höheren Managements verbietet, “stretched Targets” zu setzen, die nicht nur die Mitarbeiter, sondern auch diese Führungskräfte krank machen können. Statt dessen muss sich nun “jeder Chef” Drohungen von Politikern anhören, die den Kontakt zum heutigen Arbeitsalltag verloren haben.
Politik: Erst schlafen, nun viel Gedöns machen und dann auch noch Leute bedrohen, die ohnehin selbst schon genug psychisch fehlbelastet sind. Das ist zu billig und zu langweilig.
 
Siehe auch:

Stressstudien in der Schweiz

http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/schweiz/stress_ueberfordert_ganze_organsysteme_1.15036664.html

14. Februar 2012,
Neue Zürcher Zeitung
Stress überfordert ganze Organsysteme
Hektik und Zeitdruck am Arbeitsplatz begünstigen bei fehlender Erholung Erschöpfungszustände und Krankheiten
Dass die psychische Belastung am Arbeitsplatz in den letzten Jahren zugenommen hat, ist wissenschaftlich unbestritten. Weniger klar ist, ob mehr Ferien die Situation verbessern würden.
Alan Niederer
Termindruck, ständige Erreichbarkeit, mangelnde Wertschätzung, hohes Arbeitstempo, fehlende Arbeitsplatzsicherheit: Es gibt viele Gründe, warum sich Menschen am Arbeitsplatz gestresst fühlen. Das zeigen auch die im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) durchgeführten «Stressstudien». Um Zusammenhänge zwischen Arbeitsbedingungen, Personenmerkmalen, Befinden und Gesundheit zu erkennen, werden in der Schweiz die Erwerbstätigen regelmässig zu ihrer Situation befragt, das letzte Mal 2010.
Jeder Dritte ist gestresst
Dabei zeigte sich, dass sich ein Drittel der Befragten (34 Prozent) häufig oder sehr häufig gestresst fühlt. Im Jahr 2000 hatte dieser Anteil noch bei 27 Prozent gelegen. Das zeige, dass die Belastung am Arbeitsplatz in den vergangenen zehn Jahren deutlich zugenommen habe, sagt die Studienleiterin Simone Grebner von der Fachhochschule Nordwestschweiz …

(Links nachträglich eingefügt)

Arbeit und Erholungsfähigkeit

http://www.liga.nrw.de/themen/Arbeit_gestalten/ges_foerd/erholungsfaehigkeit/

Die Fähigkeit, sich zu erholen, wird durch die Anforderungen der modernen Arbeitswelt und Gesellschaft zunehmend beeinträchtigt: Psychische Belastungen stellen für viele Beschäftigte keine Ausnahmen dar, sondern bestimmen den beruflichen Alltag. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang v. a. Zeitdruck, hohe Verantwortung und Leistungsverdichtung. Hinzu kommen Belastungen durch Umstrukturierungsmaßnahmen, ungünstige Arbeitszeiten und die Angst, den steigenden Anforderungen nicht gerecht werden zu können und den Arbeitsplatz zu verlieren.
Auf Dauer bleibt das hohe Belastungsniveau nicht ohne Folgen: Viele Beschäftigte fühlen sich durch ihre Arbeit erschöpft, können aber in der Freizeit nicht abschalten, leiden unter Schlafstörungen, fühlen sich lustlos und ausgebrannt. Ständige Erreichbarkeit, die Veränderung privater Beziehungen und zunehmende Mobilität stellen zusätzliche Herausforderungen dar.
Maßnahmen der Arbeitsgestaltung können dazu beitragen, vermeidbare Belastungen und deren negative Folgen zu mindern. Die Möglichkeiten der Verhältnisprävention sind jedoch begrenzt, denn manche Arbeitsbedingungen lassen sich kaum verändern. Hier kommt dem eigenen Handeln auf der Grundlage gesundheitsförderlicher und sozial verträglicher Arbeitsbedingungen besondere Bedeutung zu. Die erholungswirksame Gestaltung der Freizeit ist dabei ein besonders wichtiger Aspekt.
 
Fachtagung “Die erschöpfte Gesellschaft? Arbeit und Erholungsfähigkeit im Blickpunkt der Wissenschaft.”
16. November 2010 in Bochum
Programm zur Fachtagung
“Die erschöpfte Gesellschaft? Arbeit und Erholungsfähigkeit im Blickpunkt der Wissenschaft.”
Grußwort
Grußwort von Dr. Eleftheria Lehmann, Präsidentin des LIGA.NRW
Präsentationen der Referenten:
Erkenntnisse der Schlafmedizin für die Arbeitswelt
Prof. Dr. Thorsten Schäfer, Ruhr-Universität Bochum
Erholung für die Arbeit – Was sagt die Psychologie?
Prof. Dr. Jarek Krajewski, Bergische Universität Wuppertal

Und nach der Arbeit: Regenerative Freizeitgestaltung vs. soziale Verpflichtungen
Prof. Dr. Tobias Esch, Hochschule für angewandte Wissenschaften Fachhochschule Coburg

Siehe auch: S. 40 in http://www.liga.nrw.de/_media/pdf/news/JB_2010_Inter_1.pdf

Ständige Erreichbarkeit

http://www.kda-bayern.de/fileadmin/user_upload/download/kda/Dokumente/Tutzing/2011/hano.pdf

Ständige Verfügbarkeit versus Privatsphäre – mit Konflikten neuer Art klug umgehen
Tagung:
Permanent online!?
– Betriebliche Herausforderungen der Erreichbarkeitsökonomie
Ev. Akademie Tutzing, 29.-30.Juni 2011

Position von Betriebsärzten und Gewerkschaft

In dem folgenden Positionspapier von Betriebsärzten und Gewerkschaft fand ich einen wichtigen Begriff: Primärprävention. Gemäß Arbeitsschutzgesetz hat Verhältnisprävention Vorrang vor der Verhaltensprävention. Die Verhältnisprävention auf Basis der Gefährdungsbeurteilung ist die Primärprävention. “… Sowohl aus sozialer, ökonomischer als auch aus medizinischer Sicht spricht alles dafür, der Primärprävention eine zentrale Bedeutung zu geben. … Dazu kann auch die betriebliche Gesundheitsförderung beitragen. Sie ist eine wichtige ergänzende Maßnahme zur Primärprävention …”. Es steht nicht im Belieben irgendwelcher Arbeitgeber, hier die Prioritäten zu verändern. Aus meiner Sicht kann Verhaltensprävention ohne Verhältnisprävention die Arbeitnehmer sogar zusätzlich gefährden.
 
http://www.ak-sozialpolitik.de/dukumente/2009-05-28-igm-vdbw.pdf und http://www.vdbw.de/Aktuell-Detailansicht.27+M579eb13db28.0.html?&tx_ttnews[year]=2009

Gemeinsames Positionspapier von IG Metall und VDBW
“Psychische Gesundheit in der Arbeit – eine gemeinsame Herausforderung der Arbeitswelt von morgen”
Angesichts dramatisch steigender Zahlen psychischer Erkrankungen und Beeinträchtigungen bei berufstätigen Menschen stehen die Betriebe vor großen Herausforderungen. Betriebsärzte und IG Metall setzen sich für die nachhaltige Verbesserung der psychischen Gesundheit in den Betrieben ein. Für die IG Metall und den Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte e.V. (VDBW) ist dies zu einem Schwerpunktthema geworden.

  1. Veränderungen in der Arbeitswelt
    IG Metall und VDBW sehen Gründe dieser Gefährdungen auch in den neuen Belastungen in der Arbeitswelt. Diese werden angesichts der Krise noch verschärft. Permanente Reorganisationsprozesse in den Unternehmen, die Weitergabe des Markt- und Kostendrucks an die Beschäftigten, der Einsatz von Informationstechnologien, die eine permanente Erreichbarkeit der Beschäftigten gewährleisten, tragen zu einer Entgrenzung von Arbeitszeiten und Leistung bei. Sie erhöhen insbesondere auch in den indirekten Tätigkeitsbereichen und in den Büroberufen den arbeitsbedingten Stress. Gegen gesundheitsgefährdende Belastungen, vor allem viele psychische Belastungen, kann insbesondere das Management in den Betrieben eine Menge tun. Denn Personalpolitik, Führungsstile und eine Arbeitsorganisation, die Menschen weder unter- noch überfordert, humane Arbeitszeiten und damit die gesamte Unternehmenskultur sind zentrale Aufgaben unternehmerischer Entscheidungen.
    Das Arbeitsschutzgesetz enthält deshalb auch eine eindeutige Verpflichtung für die Arbeitgeber, nicht nur Arbeitsunfällen und anderen arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren vorzubeugen, sondern auch die Arbeit menschengerecht zu gestalten. Dazu gehört auch, sich den psychischen Belastungen in der Arbeitswelt zu stellen. Unbestritten ist, dass sowohl betriebliche als auch außerbetriebliche Faktoren Ursache für psychische und psychosomatische Erkrankungen sein können. Ob die eigenen Ressourcen der Beschäftigten ausreichen, die Belastungen zu bewältigen, hängt auch von der persönlichen Situation, vom Lebensstil und dem Freizeitverhalten ab. Gemeinsamer Ansatzpunkt von IG Metall und VDBW ist vor allem der Betrieb als gemeinsames Handlungsfeld. Neben diesen betrieblichen Aktivitäten muss es für Menschen in Arbeitslosigkeit spezifische Maßnahmen zum Erhalt der psychischen Gesundheit geben.
  2. Neue Volkskrankheit
    IG Metall und VDBW stellen mit großer Besorgnis fest, dass die Auswirkungen der tiefen Krise und die Bedrohung von Arbeitsplätzen zu einer zusätzlichen Belastung der psychischen Gesundheit der Beschäftigten werden. Schon in den letzten Jahren haben Erkrankungen wie Depressionen und Burnout erheblich zugenommen und die Ausmaße einer neuen ,,Volkskrankheit” angenommen. Dies stellt zugleich nur die Spitze eines Eisberges von Gesundheitsgefährdungen dar. Sieht man sich die Arbeitsunfähigkeitsstatistiken an, so ist eine deutliche Zunahme der Erkrankungen aus dem psychischen Bereich zu erkennen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass bei vielen somatischen Erkrankungen eine wesentliche Mitursache in der Psyche liegt.
    Sowohl aus sozialer, ökonomischer als auch aus medizinischer Sicht spricht alles dafür, der Primärprävention eine zentrale Bedeutung zu geben. Dies verhindert menschliches Leid, erspart sowohl betrieblich als auch gesellschaftlich hohe Kosten und verhindert, dass die Belastungen, die auf den Menschen einwirken, letztlich zu manifesten Erkrankungen werden. Für die Entwicklung psychischer und auch psychosomatischer Erkrankungen sind die chronischen Auswirkungen psychischer Fehlbelastungen entscheidend. Nur durch umfassende Prävention und frühzeitige Intervention kann einer weiteren bedrohlichen Entwicklung entgegen gewirkt werden.
  3. Gefährdungsbeurteilung
    IG Metall und VDBW sehen angesichts dieser bedrohlichen Entwicklung Handlungsbedarfe und Interventionsmöglichkeiten vor allem in folgenden Bereichen: 

    1. In den Unternehmen sind Frühwarnsysteme für psychische Fehlbelastungen zu entwickeln, die auf allen Ebenen geeignete Interventionsmöglichkeiten schaffen. Schon beim Vorliegen von Befindlichkeitsstörungen bei den Beschäftigten wie z.B. Erschöpfungsgefühle, Gereiztheit, Kopfschmerz oder innere Unruhe, sind Reaktionen erforderlich. Ziel dabei ist es, Fehlbelastungen zu beseitigen und individuelle Bewältigungsfähigkeiten und Ressourcen der Beschäftigten zu stärken. Hierbei kommt den Betriebsärzten, beispielsweise im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen eine wichtige Aufgabe zu.
    2. Wir setzen uns dafür ein, das Thema psychische Gesundheit in der Arbeit zu enttabuisieren. Über Risikofaktoren und Gesundheitsgefährdungen muss in den Betrieben offen geredet werden können. Betriebsklima und Unternehmenskultur müssen dies befördern.
    3. Stressprävention muss in alle betrieblichen Entscheidungen eingebaut und Teil einer präventiv gestalteten Arbeitsorganisation werden. Insbesondere eine ganzheitliche Gefährdungsbeurteilung, die auch psychische und soziale Belastungen ermittelt, ist eine unverzichtbare Voraussetzung für die Einleitung eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses. Die Gefährdungsbeurteilung ist die Basis – die individuelle Beratung muss dies ergänzen. An dieser Stelle sind die Betriebsärzte besonders gefragt.
    4. Um die individuellen Bewältigungsfähigkeiten der Beschäftigten im Umgang mit Belastungen zu entwickeln, ist eine Stärkung ihrer Gesundheitsressourcen eine wichtige Aufgabe. Dazu kann auch die betriebliche Gesundheitsförderung beitragen. Sie ist eine wichtige ergänzende Maßnahme zur Primärprävention und trägt der komplexen Verursachung von Gefährdungen der psychischen Gesundheit Rechnung. Hinweise an die Beschäftigten für ihr Freizeitverhalten und die Motivation zu einem gesundheitsfördernden Lebensstil sind wichtige Bestandteile der ärztlichen Beratung und dürfen dabei nicht fehlen, um die Eigenaktivität der Menschen für Ihre Gesundheit zu stärken.
  4. Gute gesetzliche Basis
    In allen Fällen, in denen Beschäftigte länger erkranken, bietet das betriebliche Eingliederungsmanagement nach § 84 SGB IX ein wichtiges Instrument, um Arbeitsunfähigkeit zu überwinden, einer erneuten Erkrankung vorzubeugen und chronische Krankheiten zu verhindern.
  5. Betriebsärztliche Versorgung sichern
    Bei allen Beschäftigten, die ernsthaft psychisch erkrankt sind, ist eine fachliche Versorgung durch Betriebsärzte und andere Fachleute unabdingbar. Eine entsprechende Erweiterung der Qualifikation für alle Fragen der psychischen und psychosomatischen Faktoren ist dabei Voraussetzung.
    Wir stellen fest, dass die arbeitsmedizinische Betreuung an vielen Stellen derzeit nicht ausreichend ist und die ernste Gefahr besteht, dass das Niveau des Gesundheitsschutzes vor allem in kleinen und mittleren Betrieben weiter sinkt. Die Politik ist aufgefordert, die geeigneten rechtlichen Grundlagen zur Stärkung der betriebsärztlichen Vorsorge zu schaffen, die notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen und die arbeitsmedizinischen Lehrstühle auszubauen, anstatt einen weiteren Abbau zuzulassen .
  6. Zusammenarbeit notwendig
    Auf all diesen betrieblichen Handlungsfeldern halten IG Metall und VDBW eine gute Zusammenarbeit von Betriebs- und Werksärzten und den betrieblichen Interessenvertretungen der Beschäftigten für unerlässlich. Ohne eine gute Beratung, Information und Betreuung der Beschäftigten, ohne ihre aktive Einbeziehung in die Bewältigung der gestiegenen Anforderungen und die Nutzung ihrer Kompetenzen als ,,Experten ihrer eigenen Arbeit” werden die Probleme nicht zu lösen sein. Gerade bei dem sensiblen und nach wie vor tabuisierten Thema der psychischen Gesundheit ist eine vertrauensvolle Zusammenarbeit von Betriebs- und Werksärzten und betrieblichen Interessenvertretungen erforderlich. Da in der gegenwärtigen Krise die Gefahr droht, dass der Druck auf Kranke und weniger Leistungsfähige in den Betrieben steigen kann, treten VDBW und IG Metall für einen Schutz auch erkrankter Beschäftigter ein und setzen sich gemeinsam für eine Stärkung der Prävention ein.
    Medizinische Daten sind sensible und schützenswerte Informationen, deren Umgang geregelt ist. Betriebsärzte unterliegen der ärztlichen Schweigepflicht in vollem Umfang; Verletzungen der ärztlichen Schweigepflicht sind nach § 203 Strafgesetzbuch strafbewehrt. Beschäftigte können sich darauf verlassen, dass Betriebsärzte mit den ihnen anvertrauten gesundheitlichen Informationen sorgfältig umgehen und diese nicht weitergeben.
  7. Krise als Chance
    Die psychische Gesundheit in der Arbeit ist nach Meinung von IG Metall und VDBW auch für Politik und Wissenschaft eine Herausforderung für die Gesellschaft von morgen. Das Ziel, Erkrankungen zu vermeiden und zum Erhalt psychischer Gesundheit in der Arbeit beizutragen, bedarf der politischen Unterstützung wie auch der Weiterentwicklung von Erkenntnissen über Zusammenhänge und wirksame Gegenstrategien.
    Mittlerweile werden auf europäischer Ebene wie auch hierzulande etwa im Rahmen der Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) und der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) die Förderung der psychischen Gesundheit und die Prävention von psychischen Erkrankungen als wichtige Aufgaben betrachtet. Entsprechende Netzwerke und Kooperationen sind im Entstehen, benötigen aber ausreichende Ressourcen. Bei der jetzt von der Bundesregierung gestarteten Initiative ,,Neue Kultur der Arbeit” sollte das Thema ,,Psychische Gesundheit in der Arbeit” einen prominenten Stellenwert erhalten.
    Gerade in der aktuellen Situation muss an die Betriebe das Signal gehen, dass auch in Krisenzeiten die Gestaltung der Arbeitsbedingungen und die Prävention arbeitsbedingter Erkrankungen weiterhin eine hohe Priorität erfordern. Die Bewältigung der Krisenfolgen wird nur mit motivierten und kompetenten Beschäftigten möglich sein. Dazu muss man deren Interesse an gesundheitsförderlichen Arbeitsbedingungen ernst nehmen.

Karlsruhe/Frankfurt a.M., im Mai 2009

Siehe auch: