Unerhört!

Süddeutsche Zeitung 2011-05-13:

Nun hat sich auch der neue Gesundheitsminister [Daniel Bahr] eingemischt und die Krankenkassen, die eine Übernahme von Versicherten aus der pleitegegangenen City BKK verweigern, scharf gerügt. “Dieses Vorgehen der Krankenkassen ist unerhört, und dieses Vorgehen ist rechtswidrig”, sagte ein Sprecher des Gesundheitsministeriums am Freitag in Berlin. Die Versicherten der City BKK hätten das Recht, ihre künftige Krankenkasse frei zu wählen.

Daniel Bahr bereitete bisher die Politik Philipp Röslers vor, nun kann er sie als Gesundheitsminister selbst machen. Seine Empörung über rechtswidriges Vorgehen ist aber unangebracht, denn sein eigenes Ministerium marginalisiert doch auch die Gesetze und die Rechtsprechung.
Beispiel: Die Mehrheit der deutschen Unternehmen setzt die Vorschriften des ganzheitlichen Arbeitsschutzes schon seit vielen Jahren einfach nicht um. Das Bundesgesundheitsministerium kommt aber in seinen Empfehlungen nicht auf die Idee, diesem rechtswidrigen Verhalten vieler Arbeitgeber wenigstens mit ordentlicher Aufklärung zu begegnen. Zitat (mit von mir eingefügten Erweiterungen und Korrekturen):

Die Betriebliche Gesundheitsförderung umfasst Maßnahmen, die auf das Verhalten von Menschen ausgerichtet sind (Verhaltensprävention) und Maßnahmen, die [auf die] Arbeitsbedingungen analysieren [ausgerichtet sind] (Verhältnisprävention). [Dabei beginnt die Verhältnisprävention mit der Analyse von Gefährdungen durch mögliche physische und psychische Fehlbelastungen.] Oftmals ist eine klare Trennung in der Praxis nicht möglich und auch nicht sinnvoll, da die Bereiche sich gegenseitig beeinflussen. [Hinsichtlich der Vorschriften des Arbeitsschutzes hat jedoch die Verhältnisprävention Vorrang vor der Verhaltensprävention: Der Arbeitsschutz fragt nicht nach “auffälligen” Mitarbeitern, sondern nach auffälligen Arbeitsplätzen!]
So verursachen z.B. Über- und Unterforderung von Beschäftigten Stress und Demotivation. Um diese Auswirkungen zu vermeiden sind neben Kursen zur Stressbewältigung auch Änderungen der Arbeitsbedingungen notwendig [können neben notwendigen Änderungen der Arbeitsbedingungen (vorgeschriebene Verhältnisprävention) beispielsweise auch Kurse zur Stressbewältigung angeboten werden (zusätzliche Verhaltensprävention)]. Nachfolgend sind mögliche Maßnahmen beispielhaft dargestellt:

Kategorie Verhaltensorientierte Maßnahmen Verhältnisorientierte Maßnahmen
Ganzheitlicher Arbeitsschutz Kurse der Gewerbeaufsicht für Firmenleitungen

Kurse der Gewerbeaufsicht für Betriebs- und Personalräte:

Klare Information der Aufsichtsorgane im Internet an Arbeitnehmer

Befolgung der Arbeitsschutzvorschriften und der Mitbestimmung beim Einbezug psychisch wirksamer Belastungen in den Arbeitsschutz, z.B.:

Ernährung Ernährungskurse, Ernährungsberatung gesunde Kantinenkost
Bewegung/Ergonomie Rückenkurse, Walking gesundheitsfördernde Arbeitsplatzgestaltung
Stressbewältigung Kurse zur Entspannung, Stressmanagement, Weiterbildung gesundheitsgerechte Mitarbeiterführung
Suchtprävention Kurse zur Tabakentwöhnung, Hilfs- und Beratungsangebote Rauchfreier Betrieb, Verbesserung des Betriebsklimas (Mobbing, Mitarbeiterführung)
Organisationsgestaltung   Etablierung von Gesundheitszirkeln, bauliche Maßnahmen zur Gesundheitsförderung
Arbeitsgestaltung   Arbeitsplatzwechsel, flexible Arbeitszeiten
Unternehmenskultur   Leitbild, transparente Kommunikation, Führungskompetenz, Mitbestimmung
Aufsicht   Ausreichende Ausstattung der Berufsgenossenschaften und Gewerbeaufsichten, damit Aufsichtspersonen wirklich ernsthaft prüfen können.

(Quelle: Bundesgesundheitsministerium. Da die Tabelle unvollständig ist, habe ich noch zwei Tabellenzeilen und ein Wort nachträglich hinzugefügt.)
Die folgende Behauptung im Web-Auftritt des Ministeriums ist schlicht falsch:

Die Betriebliche Gesundheitsförderung umfasst Maßnahmen, die auf das Verhalten von Menschen ausgerichtet sind (Verhaltensprävention) und Maßnahmen, die Arbeitsbedingungen analysieren (Verhältnisprävention).

Prävention (welcher Art auch immer) kann sich sich natürlich nicht nur auf die Analyse beschränken, sondern die Analyse ist nur ein Teil der Maßnahmen der Verhältnisprävention! Sie ist der erste Schritt für weitere Maßnahmen. Vergessen hat das BMG die Maßnahmenfestlegung, die Implementierung der Maßnahmen, die Wirksamkeitskontrolle der Implementierung sowie die all das begleitende Dokumentation und Unterweisung.
Eigentlich gehe ich davon aus, dass im Bundesgesundheitsministerium sowohl der Umfang der Verhältnisprävention wie auch der Vorrang der Verhältnisprävention vor der Verhaltensprävention bekannt sein sollte. Dann wäre dem Ministerium hier kein Fehler unterlaufen, sondern es würde Desinformation verbreiten, mit dem Ziel der Marginalisierung der Vorschriften und der Rechtsprechung zum Arbeits- und Gesundheitsschutz. Eine Alternative zu meiner Unterstellung ist Unwissen im Ministerium, zumindest bei der Überprüfung eines vielleicht von externen Beratern geschriebenen Textes. Das wäre aber auch keine gute Entschuldigung.
Zwar ist auf Bundesebene das Bundesministerium für Arbeit und Soziales für den Arbeitsschutz zuständig; wenn jedoch das Bundesministerium für Gesundheit Gesundheitsthemen in der Arbeitswelt aufgreift, dann sollte auch dieses Ministerium die Gelegenheit nutzen, seit 1996 nun wirklich nicht mehr unabsichtlich übersehene Pflichten der Arbeitgeber im Arbeitsschutz darzustellen. Es wäre allerdings ein Vorurteil, jetzt bei einem FDP-geführten Ministerium libertäre Nachsicht gegenüber unternehmerischen Pflichtverletzungen zu vermuten, denn bereits seit 1996 haben fast alle Parteien die Verwirklichung des ganzheitlichen Arbeitsschutzes vernachlässigt. Da die Bürger einen großen Teil ihres Lebens in der Arbeitswelt verbringen, ist der Arbeitsschutz jedoch keine unwichtige Nebensache.
 
Siehe auch: http://blog.psybel.de/2011/03/07/arbeitsschutz-in-bg/

Wenn Arbeit krank macht

Wenn Arbeit krank macht
Süddeutsche Zeitung, 2010-08-13, Seite 4
Gut beobachtet: Arbeitgeber vernachlässigen einerseits den Gesundheitsschutz im Bereich der psychischen Belastungen, versuchen aber andererseits, sich von den steigenden Krankenversicherungskosten abzukoppeln:

… Die Vorbehalte [der Firmen] gegenüber guter Prävention zeigen auch wieder, dass die Pläne von Gesundheitsminister Philipp Rösler falsch sind, den Arbeitgeberanteil am Krankenkassenbeitrag einzufrieren. Damit würden künftig die Arbeitnehmer alleine dafür zahlen, dass Firmen durch schlechte Vorsorge die Gesundheit ihrer Belegschaft gefährden.

TAZ, 2011-05-11:

… Nun wird der Mann, der abseits von Polittalkshows und Parlamentsdebatten wenig bekannt ist, auch offiziell einer der mächtigsten Politiker des Landes: Er soll Rösler im Amt des Bundesgesundheitsministers folgen.
[Daniel] Bahr gilt ohnehin als Mann hinter den Reformen des Ministers. Als Experte für die zähen Debatten mit Pharmafirmen und Krankenkassen, als Mann für die entscheidenden Details.

Siehe auch: Vorzeitiger unfreiwilliger Ruhestand, 2011-10-17

FDP: Prävention bei Arbeitsabläufen und durch psychische Stärkung

http://www.liberale.de/Roesler-will-Gesundheitsvorsorge-staerken/6336c10989i1p69/index.html:

FDP | Gesundheitspolitik
Rösler will Gesundheitsvorsorge stärken
Wer auf seine Gesundheit achtet, kann vielen Krankheiten vorbeugen.
(01.11.2010) Durch eine gute Vorsorge lassen sich viele Krankheiten vermeiden und Milliarden Euro an Gesundheitsausgaben sparen. Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) plant deshalb eine neue Präventionsstrategie. Mit der Honorarreform 2011 will er dafür sorgen, dass niedergelassene Ärzte besser für Gespräche mit den Patienten entlohnt werden. Außerdem soll die Prävention am Arbeitsplatz – auch was die psychische Belastung angeht – verbessert werden, sagte Rösler der Nachrichtenagentur „dpa“.
Rösler will mit seiner Präventionsstrategie nicht nur die Menschen erreichen, die ohnehin schon auf ihre Gesundheit achten, sondern auch diejenigen, die sich bisher gar nicht oder zu wenig mit Vorsorge beschäftigen. „Die Menschen sollen gar nicht erst krank werden“, so der Gesundheitsminister. „Dafür wollen wir einen Bewusstseinswandel anstoßen, dem dann auch eine Verhaltensänderung folgen soll.“
Den besten flächendeckenden Zugang zu den Menschen haben nach Ansicht Röslers die niedergelassenen Ärzte. Er will daher mit der Honorarreform 2011 dafür sorgen, dass die „sprechende Medizin“ besser entlohnt wird. Bisher hätten Ärzte kaum Anreize, im Gespräch mit ihren Patienten Prävention zu bestärken. Um die Gesundheitsvorsorge zu verbessern brauche es kein neues Präventionsgesetz, „wohl aber eine schlüssige Präventionsstrategie“.
Philipp Rösler Die zweite Säule seiner Initiative sei eine stärkere betriebliche Prävention, so Rösler. Besonders den großen psychischen Krankheiten wie Depression oder Burnout-Syndrom will der gelernte Mediziner entgegentreten. „So wichtig regelmäßige Rückenübungen, eine gute Belüftung und ein effektiver Lärmschutz ist: Es geht bei Prävention eben auch um ganz andere Sachen wie Arbeitsabläufe und psychische Stärkung.“ Hier stärker aktiv zu werden sei das Ziel für 2011, kündigte Rösler an.

(Hervorhebungen nachträglich eingefügt)