Sind psychische Belastungen beurteilbar?

Die Gesamtbetriebsvereinbarung von Bosch zu psychischen Belastungen hatte mich richtig erschrocken. Die Verfassung “belasteter” Mitarbeiter liegt bei Bosch im verhaltenspräventiven Fokus. Da hat sich ein Gesamtbetriebsrat über den Tisch ziehen lassen, denn vorgeschrieben ist die verhältnispräventive Erfassung, Beurteilung und Minderungen von Fehlbelastungen. Belastungen und Fehlbelastungen sind keine Eigenschaften der Mitarbeiter, sondern der Arbeitsplätze und der Arbeitsbedingungen.
Deswegen war dann die folgende Pressemeldung des TÜV Thüringen gleich wieder ein Lichtblick. Sie zeigt, dass es für psychische Belastungen verhältnispräventive Beurteilungsmöglichkeiten gibt, die Bosch anscheinend aber nicht so recht gefallen. Die Beurteilung psychischer Belastungen stellt nämlich auch bei Bosch Führungsstile auf den Prüfstand. Der moderne ganzheitliche Arbeitsschutz verändert Unternehmenskulturen. Für ein Unternehmen wie Bosch ist das sicherlich eine Herausforderung.
http://www.abg-net.de/aktuelles/nachrichten/datum/2015/08/22/ein-sicherheitshelm-fuer-die-seele-sind-psychische-belastungen-beurteilbar/

22.08.2015, 06:51 Uhr
Ein Sicherheitshelm für die Seele – sind psychische Belastungen beurteilbar?
Thüringer Arbeitssicherheitssymposium
Am 9. September tauschen sich auf dem Thüringer Arbeitssicherheitssymposium in Jena Experten zum Schutz von Leben und Gesundheit am Arbeitsplatz aus. Ganz aktuell stellen Arbeitsschützer eine deutliche Zunahme psychosomatischer Erkrankungen aufgrund von Stress und psychischen Belastungen fest. Gerade dafür will die Veranstaltung unter dem Motto „Mensch und Maschine im Einklang“ Lösungen anbieten.
In den letzten Jahren ist die Zahl der Arbeitsunfälle erfreulicher Weise weiter zurückgegangen. Trotz dieser positiven Entwicklung sollte das Thema Arbeitsschutz allerdings nicht als lästige Vorgabe des Gesetzgebers oder gar als Kostenfaktor abgetan werden. Neben den Gefahren am Arbeitsplatz, die von Technik ausgehen beziehungsweise aufgrund gesundheitsschädigender Arbeitsbedingungen wie Lärmauswirkungen oder dem Umgang mit Gefahrstoffen entstehen, spielen in unserer modernen und hochtechnisierten Arbeitswelt heute zunehmend psychische Belastungen eine Rolle.
Eine erste wichtige Handlungsanleitung, wie mit solchen Risiken umgegangen werden soll, liefert die Norm DIN EN ISO 10075. Arbeitsschutzexperte Ken Hauser vom TÜV Thüringen rät Unternehmen, sich umfassend in Sachen Arbeitsschutz beraten und die Arbeitsplätze hinsichtlich der Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben bewerten zu lassen.
„So kann das Risiko minimiert werden, dass Arbeitskräfte aufgrund psychischer Belastungen – und das oft für längere Zeit – ausfallen. Beispielsweise werden durch eine passende ergonomische Gestaltung des Arbeitsplatzes psychische Beanspruchungen vermindert. Daher soll [nein, sondern muss gemäß Arbeitsschutzgesetz] heutzutage [nein, sondern seit 1996] die ganzheitliche Gefährdungsbeurteilung auch die psychischen Aspekte am Arbeitsplatz in die Risikobetrachtung mit einbeziehen“, erläutert Hauser.
Das Thüringer Arbeitssicherheitssymposium beleuchtet genau diese Aspekte, betrachtet die wachsenden psychischen Belastungen am Arbeitsplatz und bietet zahlreiche Lösungsmöglichkeiten an, auch im Hinblick auf die zum 1. Juni 2015 in Kraft getretene novellierte Betriebssicherheitsverordnung. Hochkarätige Referenten wie beispielsweise Hans-Peter Raths vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales oder Frau Dr.-Ing. Kerstin Ziemer vom Thüringer Landesamt für Verbraucherschutz tragen neueste Erkenntnisse vor. In einem Best Practice Beispiel zeigt Rolf Schoch wie das Thema Arbeitssicherheit bei der Thüringer Energie AG umgesetzt wird.
Anmeldungen zum Thüringer Arbeitssicherheitssymposium am 9. September in Jena sind noch kurzfristig möglich. Im Internet unter: www.die-tuev-akademie.de oder telefonisch unter: 0800 555 8838.
TÜV Thüringen – Mit Sicherheit in guten Händen!
Jan Schnellhardt
Presse-/Öffentlichkeitsarbeit

Siehe auch: http://www.die-tuev-akademie.de/wir-zeigen-neue-wege-im-arbeitsschutz/
 
Der TÜV Thüringen zeigt, dass Verhältnisprävention auch im Bereich der psychischen Belastungen möglich ist. Bosch dagegen zeigt in seiner Pressemeldung überhaupt kein Interesse an einer verhältnispräventiven Vorbeugung gegen psychische Belastungen, mit der man den Mitarbeitern nicht mit auch in die Persönlichkeit eindringender “Fürsorge” auf die Pelle rückt. Es ist dem Unternehmen gelungen, seinen Gesamtbetriebsrat eine Betriebsvereinbarung unterzeichnen zu lassen, deren Schwepunkt verhaltensorientiert ist.
Haufe.de versteigt sich sogar in die Behauptung, Bosch sei ein Vorreiter in der Arbeitssicherheit. Das kommt davon, wenn man die Bosch-Werbung unkritisch übernimmt. Hier sieht man wieder, wie sehr OHSAS 18001 als Vorzeigezertifikat dienen kann. Viele Bosch-Betriebe sind nach OHSAS 18001 zertifiziert, aber was wissen die Mitarbeiter davon? Ich bin neugierig, ob die Arbeitnehmer bei Bosch überhaupt etwas vom Geist des BS OHSAS 18001 zu spüren bekommen. Sind die Betriebsräte gut damit vertraut gemacht worden? Schon bemerkt?: Von Bosch hört man in der Pressemeldung keinen Pieps über den arbeitsschützerischen Umgang mit psychischen Erkrankungen.
Der Zertifizierer von Bosch ist auch ein TÜV. Der sollte einmal genauer prüfen, wie viele Vorfälle erfasst wurden, die psychische Erkrankungen nur hätten zur Folge haben können, und zwar ohne Berücksichtigung der Schwere der Erkrankungen (Kategorie 1.2.2.1 in meiner Liste). Bosch hat tausenden von Mitarbeitern versprochen, derartige Vorfälle zu erfassen. Hier kann der TÜV bei Audits nach OHSAS 18001 ganz leicht überprüfen, ob Bosch tut was Bosch verspricht.
Und natürlich könnte sich auch der Betriebsrat die Vorfallsstatistik zeigen lassen. Wenn dann darin nichts über psychische Belastungen steht, dann verstehen wir, warum Bosch “Vertraulichkeit” so sehr schätzt. Kleiner Tipp and Bosch-Mitarbeiter: Wenn Betriebsräte OHSAS 18001 (oder andere den Mitarbeitern dienende Normen und Vorschriften) nicht kennen und nicht ernst nehmen, dann gehören sie abgewählt.
Weiterhin sollte der TÜV Süd überprüfen, wie bei Bosch Absatz 4.4.3.2 umgesetzt wird. Und wissen die Mitarbeiter, wie sie Vorfälle nach Absatz 3.9 (zusammen mit 3.8) zu melden haben? Die müssen nicht notwendigerweise als vertrauliche Geheimsache gemeldet werden, weil es bei der Vorfallsmeldung nämlich überhaupt keine Sorge um “Stigmatisierung” geben muss.
Arbeitsbedingte psychische Gefährdungen sind ohne Belästigung der Mitarbeiter beurteilbar. Verantwortungsbewusste Arbeitgeber wissen das. Wo sie psychische Fehrbelastungen verhältnispräventiv mindern, braucht man die Mitarbeiter nicht mit gut gemeinten Betriebsvereinbarungen, die sich verhaltensorientiert auf die psychologischer “Betreuung” bei “Überbelastung” konzentrieren, zu bedrängen. Das würde die Mitarbeiter dann noch zusätzlich fehlbelasten.
Der TÜV Süd könnte vielleicht vom TÜV Thüringen ein paar Anregungen gebrauchen.

Fürsorgliche Belagerung bei Bosch

Die folgende Pressemeldung zeigt, wie man unter der Flagge der “Enttabuisierung” die Tabuisierung gerade fördert. Die verhaltenspräventive, persönliche und vertrauliche Zuwendung zu einzelnen Mitarbeitern sieht auf den ersten Blick zwar gut aus, aber ohne einen primär verhältnisorientierten Arbeitsschutz haben wir hier wieder ein Beispiel für eine verhaltensorientierte “fürsorgliche Belagerung” individueller Mitarbeiter anstelle des vorgeschriebenen verhältnispräventiven Fokus auf die Arbeitsbedingungen.
http://www.bosch-presse.de/presseforum/details.htm?txtID=7308&locale=de

Ausbau der flexiblen Arbeitskultur
Bosch fördert psychische Gesundheit der Mitarbeiter

  • Gesamtbetriebsvereinbarung zur Förderung der psychischen Gesundheit
  • Gesundheitsförderung als Bestandteil einer flexiblen Arbeitskultur
  • Personalchef Kübel: „Psychische Fehlbelastungen erkennen und vermeiden“
  • Konzernbetriebsratschef Löckle: „Handeln, bevor es zu spät ist“

Pressetext

Stuttgart – Bosch erweitert seine flexible Arbeitskultur um einen Gesundheitsbaustein: Das Technologie- und Dienstleistungsunternehmen verpflichtet sich, insbesondere die psychische Gesundheit seiner Beschäftigten zu erhalten und zu fördern. Zusammen mit den Arbeitnehmervertretern erarbeitete Bosch eine entsprechende Gesamtbetriebsvereinbarung für seine Standorte in Deutschland. Die Vereinbarung soll ab 1. August 2015 gelten. Sie sieht vor, dass zusätzliche Präventions-, Rehabilitations- und Integrationsmaßnahmen das betriebliche Gesundheitsmanagement ergänzen. Ziel ist es, psychische Belastungen frühzeitig zu erkennen, Mitarbeiter und Führungskräfte dafür zu sensibilisieren sowie integrierte Hilfsangebote bereitzustellen. Die Vereinbarung soll zu einem offeneren Umgang mit dem Thema psychische Gesundheit innerhalb der Belegschaft beitragen. Belastungssituationen können sowohl durch Ursachen im privaten als auch im beruflichen Umfeld entstehen, wirken sich aber oftmals am Arbeitsplatz aus. Daher sieht das Unternehmen in den neuen Regelungen auch einen Beitrag zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben.
Gesundheit fördern, Belastungen vorbeugen
„Gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen erhalten die berufliche Leistungsfähigkeit und stärken auch das private Wohlbefinden“, sagt Christoph Kübel, Geschäftsführer und Arbeitsdirektor der Robert Bosch GmbH, zum Abschluss der neuen Gesamtbetriebsvereinbarung. „Deshalb wollen wir in unserer Belegschaft psychischen Fehlbelastungen vorbeugen und damit untereinander verantwortungsvoll umgehen. Solche Beschwerden sind heute eine Begleiterscheinung der modernen Lebenswelt, werden aber häufig zum Tabu erklärt.“ Es sei wichtig, auch in Unternehmen ein Klima des Verständnisses zu schaffen und offen über das Thema zu sprechen, so Kübel.
Jeder kann Betroffener sein: Aufklären und sensibilisieren
Mit der neuen Vereinbarung ergänzt Bosch sein betriebliches Gesundheitsmanagement insbesondere auf dem Gebiet der Prävention seelischer Beschwerden. Zum Einsatz kommen neue Informationsangebote für Mitarbeiter, wie zum Beispiel Merkblätter, Veranstaltungen, E-Learning-Kurse oder Foren im firmeneigenen Intranet. [Wo bleibt die Gefährdungsbeurteilung?] Führungskräfte erhalten darüber hinaus einen speziellen Handlungsleitfaden, der sie im Umgang mit Betroffenen unterstützt. „Jeder Mensch geht anders mit Druck- und Stresssituationen um. Daher ist es wichtig, sich Belastungssituationen bewusst zu machen und bei Überforderungen gemeinsam mit der Führungskraft Abhilfe zu schaffen“, erklärt Dr. Falko Papenfuß, Leitender Werkarzt bei Bosch. Ein Schulungsangebot für alle Führungskräfte soll daher spätestens 2016 verfügbar sein. „Auf diese Weise wollen wir alle Beschäftigten über Ursachen aufklären, die zu Belastungen führen, die sie negativ beeinflussen oder sogar dauerhaft die Gesundheit beeinträchtigen können.“
Bundesweites Netzwerk: Einfache Kontaktaufnahme
„Vor psychischer Überlastung ist niemand gefeit, sei der Auslöser auferlegter Druck oder Selbstüberforderung“, betont Alfred Löckle, Vorsitzender des Konzernbetriebsrates der Robert Bosch GmbH. „Aber präventive Hilfsangebote müssen von Führungskräften und Mitarbeitern angenommen werden, bevor es zu spät ist. [Niemand hindert den Arbeitgeber daran, die von Arbeitsplätzen ausgehend auf Mitarbeiter wirkenden Fehlbelastungen zu mindern.] Deshalb wollen wir mit dieser Vereinbarung das Stigma des Makels durchbrechen und den offeneren Umgang mit seelischen Belastungen [Arbeitsschutz: Arbeitsbedingte seelische Belastungen sind eine Arbeitsplatzeigenschaft] erleichtern.“ Bosch etabliert dafür ein umfassendes Netzwerk von Ansprechpartnern: Neben den direkten Führungskräften rücken künftig der werkärztliche Dienst, die betrieblichen Sozialberatungen und betriebliche Eingliederungsteams weiter in den Mittelpunkt. [Gibt es bei Bosch keinen Arbeitsschutzbeauftragten?] Außerdem stehen Arbeitnehmervertreter für einen vertraulichen Erstkontakt bereit. [nur Erstkontakt?] Sie werden zusätzlich an jedem Standort als so genannte betriebliche Ansprechpartner geschult [von wem?]. Bei der Rehabilitation und Integration [also wenn die Prävention nicht funktioniert hat] von betroffenen Mitarbeitern werden bestehende Hilfs- und Gesprächsangebote systematisch ausgebaut und vernetzt. [“Angebot?”. Prävention muss proaktiv sein.] Sie sollen Betroffene in schwierigen Belastungssituationen unterstützen und helfen, ihre Leistungsfähigkeit wiederherzustellen. [Arbeitschutzgesetz: Individuelle Maßnahmen sind nachrangig zu allen anderen Maßnahmen.]
Schutz: Anonymität und Privatsphäre wahren
Bei den Vorsorge- und Hilfsangeboten [an Arbeitsplätze?] wurde besonders auf die Einhaltung von Anonymität, Datenschutz und Privatsphäre geachtet. [Wieso? Die Daten zu Gefährdungen sind weder personenbezogen noch vertraulich.] Führungskräfte sind etwa gehalten, nach einem ersten Gespräch mit betroffenen Mitarbeitern die betrieblichen Fachstellen zu empfehlen. Deshalb unterstützen bei Bosch werkärztliche Dienste unter Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht Rehabilitations- und Wiedereingliederungsmaßnahmen [Rehabilitation und Wiedereingliederung fehlbelastender Arbeitsplätze?]. Die vertraulichen Beratungsleistungen erbringen die betrieblichen Sozialberatungen direkt oder zusammen mit externen Fachstellen. Bosch unterhält dazu zahlreiche Kooperations- und Leistungsvereinbarungen mit stationären und ambulanten Einrichtungen oder Trägern des öffentlichen Gesundheitssystems. Zum Beispiel erhalten versicherte Mitarbeiter der Bosch BKK schnellen Zugang zu Fachärzten wie etwa für Neurologie oder Psychosomatik. [Das hat nichts mehr mit dem vorgeschriebenen Arbeitsschutz zu tun.]
Psychische Erkrankungen in Deutschland
[Die Gewerbeaufsichten haben in Deutschland versagt. Ist Bosch zu einflussreich um kritisch geprüft zu werden?] Psychische Belastungen können inner- und außerbetriebliche Ursachen haben, deren Auswirkungen erst am Arbeitsplatz sichtbar werden. In Deutschland werden psychische Belastungen von Arbeitnehmern häufig nicht selbst erkannt, oftmals auch verdrängt oder aus Angst vor beruflichen Nachteilen verschwiegen. [Arbeitsschutzgesetz: Nicht die Arbeitnehmer, sondern die Arbeitgeber sind für die Erkennung verantwortlich.] Auch im Gespräch mit Hausärzten schildern Patienten meistens körperliche Symptome, aber sprechen selten psychische Beschwerden an. In Folge erkranken viele Arbeitnehmer ernsthaft oder fehlen häufiger am Arbeitsplatz. Betroffene sind laut BKK Gesundheitsreport 2014 mit durchschnittlich 40 Tagen länger krankgeschrieben als Arbeitnehmer mit Herz- und Kreislauferkrankungen. Sie fehlen durchschnittlich 22 Tage. Der Stressreport Deutschland 2012 weist darauf hin, dass ein gesundes Führungsverhalten die Mitarbeitergesundheit schützt: Erhalten Arbeitnehmer von ihrem Chef im Alltag Unterstützung, berichten nur 17 Prozent von gesundheitlichen Beschwerden. Erfahren sie hingegen selten oder keine Hilfe, steigt die Anzahl der Erkrankten auf 38 Prozent. Insgesamt sei nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales in Deutschland zwischen 2001 bis 2012 die Zahl der Fehltage wegen psychischer Erkrankungen von etwa 34 auf rund 60 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage gestiegen.
Hintergrundinformation:

Internet:

Video:

Journalistenkontakt:

  • Sven Kahn
    Telefon: +49 711 811-6415

Das Wort “Arbeitsschutz” scheint Bosch nicht gerne zu verwenden. Lieber sprechen die sicherlich sehr professionell arbeitenden Öffentlichkeitsarbeiter von Bosch von einem Gesundheitsmanagement, das um die Förderung der psychischen Gesundheit “erweitert” wird. Dieses Muster werden Sie auch bei vielen anderen Unternehmen finden, die jetzt erst den schon seit einigen Jahren gesetzlich geforderten Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz in der Öffentlichkeit als großen Fortschritt darzustellen versuchen.

[…] In Deutschland werden psychische Belastungen von Arbeitnehmern häufig nicht selbst erkannt, oftmals auch verdrängt oder aus Angst vor beruflichen Nachteilen verschwiegen. […]

Hallo?!
Es geht im Arbeitsschutz “nicht um psychische Belastungen von Arbeitnehmern”, sondern um von Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen ausgehende Fehlbelastungen, die zu psychische Fehlbeanspruchingen von Arbeitnehmern führen. Das ist Grundlagenwissen im Arbeitsschutz, das ansscheinend immer noch nicht bei Bosch angekommen ist.

  1. Gemäß Arbeitsschutzgesetz hat der Arbeitgeber psychische Belastungen zu erkennen und dann zu bewerten, ob das psychische Fehlbelastungen sind! Die Verantwortung dafür darf der Arbeitgeber nicht den Mitarbeitern zuschieben.
  2. Psychische Belastungen sind kein Problem. Aber psychische Fehlbelastung sind ein Problem. Das gehört zu den grundlegensten Kenntnissen im Arbeitsschutz.

Legt es hier wieder ein Arbeitgeber darauf an, dass sich Mitarbeiter überwinden müssen, Fehlbelastungen als persönliche Fehlbeanspruchung (oder als sogar als persönliche Erkrankung) zu behandeln – Freigegeben zum Abschuss nach einer vielleicht später gescheiterten Wiedereingliederung?
Hört es denn nie auf, dass Arbeitgebern es gelingt, für die Erkennung der von seinen Arbeitsplätzen ausgehende Fehlbelastungen die Mitarbeiter verantwortlich zu machen? Und auf der Arbeitnehmerseite: Unterstützen die Gewerkschaften die Betriebsräte nicht ausreichend? Die IGM will eine Anti-Stress-Verordnung haben, aber unterstützt die Betriebsräte nicht ausreichend um die Umsetzung des Arbeitsschutzgesetzes und der Betriebsssicherheitsverordnung sicherstellen zu können. So wurde auch aus der Anti-Stress-Verordnung nur eine weitere Vorschrift werden, die nur auf dem Papier steht.
Bei Bosch wurde wohl nicht verstanden, dass die Beurteilung der psychischen Belastungen, die ausgehend von Arbeitsplätzen auf die Mitarbeiter wirken, überhaupt kein “Stigma” ist. Im Arbeitsschutz sind Eigenschaften von Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen zu beurteilen, nicht die persönliche Verfassung von Mitarbeiter.
Angesichts des fürsorglichen “Schutzes” der Mitarbeiter wird die Idee erst gefördert, dass sie das Ansprechen von psychischen Fehlbelastungen (eine Arbeitsplatzeigenschaft) stigmatisiern können. Ist das gewollt oder nur ein fehlendes Verständnis für die Erfordernisse des Arbeitsschutzes?
Im Arbeitsschutz kommen die Arbeitsplätze auf die Couch, nicht die Arbeitnehmer.
Gefährdungsbeurteilungen von Arbeitsplätzen und Arbeitssituationen dürfen gar nicht vertraulich sein, denn die an diesen Arbeitsplätzen und in diesen Arbeitssituationen arbeitenden Mitarbeiter (sowie die Arbeitnehmervertreter) müssen offen über die in den Gefährdungsbeurteilungen erfassten physischen und psychischen Gefährdungen sprechen können. Bei der geforderten Verhältnisprävention gibt es keine Geheimnisse. Aber wie viele andere Unternehmen, die einen arbeitsschützerisches Angehen des Themas der psychischen Belastungen im Grunde nicht mögen, hat Bosch hier einen Weg gefunden, sich als fürsorglich darzustellen, aber eine Tabuisierung und damit Vermeidung des Themas der psychischen Belastungen gerade zu fördern.
Immerhin gibt es eine gute Regelung:

[…] Außerdem stehen Arbeitnehmervertreter für einen vertraulichen Erstkontakt bereit. Sie werden zusätzlich an jedem Standort als so genannte betriebliche Ansprechpartner geschult. […]

Allerdings: Viele Bosch-Betriebe haben ein nach OHSAS 18001 zertifiziertes Arbeitsschutzmanagementsystem. Das könnten kompetente Betriebsräte nutzen. Sind sie darauf eingerichten genug, konzeptionell im Arbeitsschutz arbeiten zu können bevor sie Mitarbeiter individuell als so genannte Ansprechpartner betreuen? Haben geeignete Betriebsratsmitglieder die Qualifiation erworben, an Audits ihres Arbeitsschutzmanagementsystems kritisch mitwirken zu können? Wissen sie, wie man OHSAS 18001 gut für die Mitarbeiter nutzt, bevor Ende 2016 mit der kommenden ISO 45001 Rückschritte zu erwarten sind?

Verantwortung ohne Gestaltungsfreiheit

http://www.taz.de/Betriebsrat-ueber-Anti-Stress-Kongress/!114986/ (TAZ 2013-04-23):

Betriebsrat über Anti-Stress-Kongress
„Systematische Überforderung“
Der Bosch-Betriebsrat Hans Peter Kern über „Verdichtung“ der Arbeit, Entschleunigungsprozesse und lebenslanges Lernen. Interview: Hannes Koch
[…]
Der Vorgesetzte überträgt den Mitarbeitern somit Verantwortung, die sie mangels Gestaltungsfreiheit aber oft nicht ausfüllen können.
[…]
Von psychischer Belastung ist im aktuellen Arbeitsschutzgesetz noch keine Rede. Die Novellierung und eine Anti-Stress-Verordnung würden die Basis dafür legen, dass die Betriebsräte überhaupt systematisch mit den Unternehmensleitungen über das Thema Stress verhandeln können. Dann erst hätten wir die Möglichkeiten, breite Verbesserungen durchzusetzen.

(Links nachträglich in das Zitat eingefügt)
Peter Kern irrt sich zu seinem eigenen nachteil: Psychische Belastungen wird zwar derzeit noch nicht ausdrücklich im Arbeitsschutzgesetz erwähnt, aber im Jahr 2009 bestätigte beispielsweise das Bundesarbeitsministerium, dass psychische Belastungen in den Arbeitsschutz einbezogen werden müssen. Es gibt klare Leitlinien vom LASI für die Gewerbeaufsicht. Beim Arbeitsministerium in NRW gibt es zum Thema “Psychische Fehlbelastungen in den gesetzlichen Vorschriften” noch weitere Informationen.
Wenn Betriebsräte und Gewerkschaften das nicht verstehen, werden die Arbeitgeber bald behaupten, dass sogar die Arbeitnehmervertretungen meinen, dass bisher psychische Belastungen nicht in den Arbeitsschutz hätten integriert werden müssen.

Ist Bosch wirklich ein Vorreiter?

http://www.haufe.de/arbeitsschutz/sicherheit/bosch-gilt-als-vorreiter-bei-der-arbeitssicherheit_96_156746.html

09.01.2013
Arbeitsschutzmanagementsystem
Bosch gilt als Vorreiter bei der Arbeitssicherheit

Mit Hilfe eines Arbeitsschutzmanagementsystems (AMS) lassen sich Arbeitsunfälle sowie arbeitsbedingte Verletzungen vermeiden. Potenzielle Unfall- und Gesundheitsrisiken lassen sich systematisch erkennen. Sind die Gefahrenquellen bekannt, können frühzeitig geeignete Präventionsmaßnahmen eingeleitet und die Mitarbeiter gezielt geschützt werden.
Ereignisse wie Unfälle oder Arbeitsausfälle werden dokumentiert. Anhand der Dokumentation lassen sich Zahlen und Werte vergleichen und Erfolge messen. Außerdem lassen sich neue Ziele vereinbaren und kontrollieren.

Bosch gehört international zu den Vorreitern bei der Umsetzung des Standards OHSAS 18001.

Haufe scheint hier einfach eine Pressemeldung von Bosch unkritisch übernommen zu haben. Der Fokus liegt hier auf Unfällen und Verletzungen. Bei Gesundheitsrisiken fehlt der Hinweis auf den Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz. Dieser Einbezug ist vorgeschrieben, wird aber immer noch zu oft missachtet. Wenn Bosch sich von der Mehrheit der Pflichtverletzer abgrenzen will, dann müsste das Unternehmen explizit beschreiben, wie es psychische Belastungen in seinen Arbeitsschutz einbezieht und wie dabei die Mitbestimmung der Arbeitnehmer beachtet wird. Denn auch die Mitbestimmung wird in OHSAS 18001 thematisiert. Hoffentlich kennen sich die Bosch-Betriebsräte mit OHSAS 18001 aus.
Beim Arbeitsschutz loben sich viele Unternehmen kräftig selbst. (In diesem Fall lobt haufe.de Bosch.) Es geht um Employer Branding. Darum ist Vorsicht angebracht: Nach OHSAS 18001 zertifizierte Unternehmen verdienen erst dann Lob, wenn sie der Öffentlichkeit und ihren Mitarbeitern deutlich mitteilen, dass sie nicht nur “klassische” Unfälle vermeiden, sondern alle Vorfälle nach Definition 3.9 in OHSAS 18001:2007. Dazu gehören natürlich auch psychische Belastungen, damit es keine “nachteiligen mentalen Zustände” gibt.
Wie definiert der Standard derartige “Vorfälle”? Das sind alle arbeitsbezogene Ereignisse, die eine Verletzung oder Erkrankung (ohne Berücksichtigung der Schwere) oder einen tödlichen Unfall zur Folge hatten oder hätten zur Folge haben können. Bei Erkrankungen gibt es demzufolge keine Schwelle, unterhalb derer sie aus der Beobachtung und der Statistik herausfallen. Dadurch entfallen Diskussionen über die Relevanz von Erkrankungen. Die Unternehmen unterwerfen sich dem Standard ja freiwillig. OHSAS 18001 erläutert weiter: Erkrankungen sind erkennbare, nachteilige physische oder mentale Zustände, die durch eine Arbeitstätigkeit und/oder durch eine Arbeitssituation entstanden sind und/oder verschlechtert wurden.
Die Kunden eines Arbeitsschutzmanagementsystems sind die Arbeitnehmer. Warum nur wissen in den nach OHSAS 18001 zertifizierten Betrieben die wenigsten Beschäftigten von den Segnung des Standards? Warum werden Unternehmen plötzlich schüchtern, wenn es darum geht, ihren Mitarbeitern OHSAS 18001 verständlich zu machen?
Die meisten Mitarbeiter zertifizierter Unternehmen werden sich OHSAS 18001 (besser OHSAS 18002, das ist OHSAS 18001 mit Hinweisen zur Umsetzung) kaum durchlesen. Da ist zum Beispiel eine Hürde: der Preis. Zu den aushangpflichtigen Vorschriften gehört der Standard leider nicht. Wenn also ein zertifiziertes Unternehmen nicht deutlich nach innen und nach außen kommuniziert, wozu sich das Unternehmen mit seinem Bezug auf OHSAS 18001 selbstverpflichtet hat, dann können die Mitarbeiter das Top-Management (in OHSAS 18001 als oberstes Führungsgremium bezeichnet) dieses Unternehmens nicht an seinen Ansprüchen messen. Ist das der Grund, warum man in den AMS-Handbüchern und in der Werbung zertifizierter deutscher Unternehmen vom “Geist” des Standards OHSAS 18001 so wenig spürt? Wenn eine Zertifizierungsgesellschaft einem Unternehmen das durchgehen lässt, sollten sich die Arbeitnehmer vielleicht einmal an die Deutsche Akkreditierunsstelle wenden.
Siehe auch: http://www.bosch.com/de/com/sustainability/issues/corporate_leadership/managementsystems/managementsystems_1.html