Sicherheitsfachkräfte in Nöten

Themenwoche Gesundheit bei der INQA bis zum 28. Januar: http://www.inqa.de/DE/Lernen-Gute-Praxis/Experten-Tipps/Gesundheit/inhalt.html. (Auf den Link bin ich Dank haufe.de gestoßen.)
Darunter z.B. diese interessante Frage (http://www.inqa.de/DE/Lernen-Gute-Praxis/Experten-Tipps/Gesundheit/Themenwoche-2.html):

Psychische Gefährdungen am Arbeitsplatz zu erkennen und gegenzusteuern ist zweifellos wichtig. Wie aber soll die Sifa [Sicherheitsfachkraft] neben all den anderen Anforderungen und Aufgabenfeldern das auch noch leisten, ohne selbst Opfer psychischer Belastung zu werden?

(Link nachträglich eingetragen)
Das ist besonders dann ein Problem für die Sifa, wenn sie nicht genügend unabhängig vom Arbeitgeber ist. Manchmal habe ich auch den Eindruck, dass die Anforderungen an Sifas so konstruiert sind, dass sie zwar vorzeigbar sind, aber im Grunde nicht wirklich erfüllt werden können.
Das Verhältnis der Arbeitgeber zum Arbeitsschutz ist nämlich ambivalent: Einerseits hilft ihnen der ganzheitliche Arbeits- und Gesundheitsschutz, die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter zu erhalten oder vielleicht sogar zu steigern. Andererseits entstehen durch die Komplexität des Einbezugs psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz nicht vernachlässigbare Kosten, die in der großen Mehrzahl der Betriebe bisher vermieden werden konnten. Auch sehen sich Unternehmen mit einer starken Mitbestimmung konfrontiert.
Besonders gefählich kann Arbeitgebern insbesondere die Gefährdungsbeurteilung erscheinen, denn sie dokumentiert Mängel, für die das oberste Führungsgremium eines Unternehmens gegebenenfalls auch verantwortlich und sogar haftbar gemacht werden kann. Diese Furcht kann die Sifas behindern, wenn sie eine tatsachengerechte Gefährdungsbeurteilung durchführen wollen. Es wird dann zu Arbeitsschutzmaßnahmen kommen, denen keine ausreichende Gefährdungsbeurteilung zugrunde liegt. Die Sifa hat in solchen Situationen so oder so den schwarzen Peter.
Wird unter Sifas eigentlich diskutiert, wie sich Zielvereinbarungen auf sie und auf ihre Arbeit z.B. bei der Leistungsbeurteilung und dem Entgelt auswirken? Kann passieren, dass eine Sifa den Gesundheitsschutz besser darstellen muss, als er ist, um eine schlechte Leistungsbewertung zu vermeiden?
Ein unzureichender Gesundheitsschutz und eine mangelhafte Einbindung der Arbeitnehmervertretung in den Arbeitsschutz kann ja auch das Resultat von mehr oder weniger subtilen Behinderungen der Sifa durch den Arbeitgeber sein. Der Arbeitgeber kann z.B. die Arbeitsbedingungen und Ziele der Sifa so gestalten, dass auch konstruktive Kritik am Arbeitsschutz als persönlicher Angriff auf die Sifa umgedeutet werden kann. Dann richtet sich die Empörung vor allem gegen den Kritiker, und es wird schwierig, noch über Verbesserungen zu spechen.
Geschickte Sifas lassen sich von der Arbeitnehmervertretung helfen.

Trick 18

Können Unternehmen ein Zertifikat z.B. nach OHSAS 18001 für ihr Arbeitsschutzmanagementsystems (AMS) vorzeigen, dann fühlt sich die behördliche Aufsicht bei vom Unternehmen eigeninitiierten Überwachungsmaßnahmen entlastet und prüft darum weniger sorgfältig. Das kann zu Problemen für die zu schützenden Arbeitnehmer führen, denn die Zertifikatoren haben eine unterschiedliche Qualität. Deswegen sollt sich die behördliche Aufsicht nicht zu naïv auf Zertifikate verlassen.
Die Ergebnisse aktueller Forschungsprojekte zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung (aus einem Bericht von Ina Krietsch und Thomas Langhoff, Prospektiv GmbH, Dortmund für BAuA/GRAziL, 2007-09 – 2010-04) sehen immer noch so aus:

Unternehmen greifen ohne die Impulsgebung durch Gewerkschaften, Betriebsräte bzw. Arbeitsschutzbehörden (vereinzelt) das Thema »Psychische Belastungen« als Gegenstand der Gefährdungsbeurteilung (GB) i. d. R. nicht auf.

Diese Impulsgeber sind auch unter den Akteuren, die daran interessiert sind, eine hohe tatsächliche Qualität des Einbezugs psychisch wirksamer Belastungen in den Arbeitsschutz zu sehen:

  • Arbeitsschutzbehörden,
  • Berufsgenossenschaften,
  • Arbeitnehmer (ggf. vertreten durch den Betriebsrat oder den Personalrat).

Es gibt eine ganz gute Tradition der Zusammenarbeit zwischen diesen drei Beobachtern. Einen weiterer Akteur ist jedoch hinzugekommen:

  • Zertifizierungsgesellschaften


 
Mit diesen Zertifizierungsgesellschaften sind Arbeitnehmer und ihre Vertreter oft viel weniger gut vertraut. Das Thema ist den Betriebsräten und Personalräten zu trocken und zu kompliziert. Sie nehmen es nicht ernst. Das ist ein Fehler. Denn nun schreiben die Arbeitsschutzbehörden in ihren Grundsätzen der behördlichen Systemkontrolle (LASI: LV 54, Anhang, S. 42):

5. Umgang mit zertifizierten Systemen
Der erfolgreiche Abschluss einer Prüfung der Wirksamkeit eines Arbeitsschutzmanagementsystems (AMS) oder vergleichbaren Systems soll zu Entlastungen bei eigeninitiierten Überwachungsmaßnahmen führen. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Betrieb Bescheinigungen, Gütesiegel oder andere Zertifikate, die die Organisation des betrieblichen Arbeitsschutzes bewerten, vorlegt und diese die Inhalte und Anforderungen des Nationalen Leitfadens erfüllen. Anlassbezogene Maßnahmen der zuständigen staatlichen Behörden bleiben unberührt. Über die Ergebnisse werden die Unfallversicherungsträger ggf. informiert.

Trick 18: Gesundheit und ethische Überlegungen haben für viele Arbeitgeber im Arbeitsschutz einen niedrigeren Stellenwert, als die Notwendigkeit, Vorschriften einhalten zu müssen. Der Hauptmotivator ist also Rechtssicherheit. Diese zu gewinnen ist für Unternehmer ein wichtiger Grund, sich nach OHSAS 18001 zertifizieren zu lassen. Der Kontrolldruck durch überlastete Berufsgenossenschaften und Arbeitsschutzbehörden auf die Betriebsleitungen wird schwächer, wenn Betriebe eine Zertifizierung nach OHSAS 18001 (oder ähnliche Zertifikate) vorzeigen können. Damit gehen den Betriebsräten und den Personalräten die Berufsgenossenschaften und Arbeitsschutzbehörden als wichtige Partner teilweise verloren. Diese Organe werden aber zur Stärkung der Mitbestimmung benötigt. Mitarbeiter haben das Recht, sich an die Behörden wenden zu können, nicht aber in gleicher Weise an Zertifikatoren. Zertifizierten Unternehmen könnte es so gelingen, mit dem von einem Unternehmen der Privatwirtschaft erteilten Vorzeigezertifikat die Rechte der Arbeitnehmer zu schwächen, darunter auch das Recht auf Mitbestimmung.
Gegenstrategien:

  • Arbeitnehmervertreter arbeiten sich z.B. in OHSAS 18001:2007 ein, oder besser noch in OHSAS 18002:2008 (ein kleines und gut lesbares Lehrbüchlein). Wenn sie ganz professionell vorgehen wollen, dann lassen sie sich als interne Auditoren ausbilden. Das sollte innerhalb einer Woche zu schaffen sein. Wenn die Gewerkschaften aufwachen (es gibt da schon Leute, die’s gemerkt haben), dann könnten auch sie möglicherweise solche Auditoren trainieren, ggf. in Zusammenarbeit mit Zertifizierungsgesellschaften.
  • Kontrolle nach LV 54, ob sich das Unternehmen an die von ihm selbst gewählten Regeln hält.
  • Arbeitnehmervertreter müssen darauf achten, dass sich behördliche Aufsichtspersonen nicht unkritische auf zertifizierte Arbeitsschutzmanagementsysteme verlassen.
  • Arbeitnehmervertreter beteiligen sich an Audits und können den § 81 des Betriebsverfassungsgesetzes nutzen, um für eine kritische Überprüfung Einblick in Auditberichte zu erhalten.

 


http://netkey40.igmetall.de/homepages/sued-niedersachsen-harz/hochgeladenedateien/Dokumente/metallzeitung/2011/2011_06_LS_SNH.pdf

… Deshalb achtet der Betriebsrat besonders auch auf den Gesundheits und Arbeitsschutz. So sind die Seesener nach »OHSAS 18001« und Sicherheit mit System (SMS) zertifiziert und innerhalb der Ardagh-Group-Metal mit dem »Safety-Award 2010« ausgezeichnet. Zudem hat der Betriebsrat durchgesetzt, dass kostenlose Wasserspender aufgestellt wurden. …

Gratulation an den kämpferischen Betriebsrat.
Es gibt Unternehmen mit einem stolz vorgezeigten Zertifikat für OHSAS 18001, die jedoch die Gefährdungskategorie “psychische Belastungen” noch überhaupt nicht in ihrem Arbeitsschutz kennen. So ein Zertifikat wirkt schon ziemlich dämpfend auf die Aufmerksamkeit der Arbeitsschutzbehörden und Berufsgenossenschaften.

Anspruch und Wirklichkeit in Bayern

Vorbemerkung: Auf fachlicher Ebene bemüht sich die bayerische Aufsichtsbehörde, gute Arbeit zu leisten. Politiker, die hier etwas in Bewegung bringen wollen, müssen eigentlich nur noch für Ressourcen sorgen. Die Aufsichtsbehörde wird damit gut umgehen können, wenn sie das darf.
 
Die folgende Pressemitteilung ist vom April. Was hat die Ministerin inzwischen umsetzen lassen? Was machen die “Burnout-Detektive”? Wie passen in Bayern Anspruch und Wirklichkeit zusammen?
http://www.bayern.de/Gesundheit-.335.10373046/index.htm

Pressemitteilung
27.04.12
Arbeitsministerin Haderthauer: “Arbeitsschutz muss neue Wege gehen” – Welttag für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz
“Mit dem Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft haben sich die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten stark verändert. Dies bringt auch neue Herausforderungen im Bereich des Arbeitsschutzes mit sich. So steigen beispielsweise die Fehlzeiten wegen psychischer Erkrankungen immer weiter an. Mein Ziel ist es, dieser Entwicklung entgegen zu wirken. Dazu müssen wir im Arbeitsschutz neue Wege gehen. Stand früher die Verhütung von Körperschäden, wie Unfälle und körperliche Erkrankungen im Vordergrund, so gewinnt heute die Reduzierung psychischer Fehlbelastungen am Arbeitsplatz an Bedeutung. Wir müssen den arbeitenden Menschen ganzheitlich betrachten. Deswegen habe ich das Themenfeld psychischer Belastungen in die Beratungs- und Überwachungspraxis der Gewerbeaufsicht [die z.B. schon im Jahr 2002 und 2003 daran arbeitete und im Jahr 2010 ein gutes Weiterbildungskonzept für technische Aufsichtsbeamte entwickelt hatte] integriert und einen Schwerpunkt der Fortbildung der Gewerbeärzte und der Gewerbeaufsichtsbeamten in diesem Jahr auf die Vermeidung von psychischen Belastungen, zum Beispiel Burnout am Arbeitsplatz gelegt”, erklärte Bayerns Arbeitsministerin Christine Haderthauer heute in München mit Blick auf den Welttag für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz am 28. April. Der Welttag wurde von der International Labour Organisation (ILO) eingeführt, um das Bewusstsein für sichere, gesunde und menschenwürdige Arbeit zu stärken.
Haderthauer weiter: “Arbeitgeber und Führungskräfte haben eine besondere Verantwortung gegenüber ihren Mitarbeitern. So haben sie dafür Sorge zu tragen, dass aus den vielen Stressfaktoren bei der Arbeit keine psychischen Fehlbelastungen für die Mitarbeiter entstehen, die krank machen und beispielsweise auch zum Burnout-Syndrom führen können. Um auch das Thema psychische Belastungen am Arbeitsplatz in den Griff zu bekommen, empfehle ich den Betrieben die freiwillige Einführung eines Gesundheitsmanagements. Hervorragend eignet sich das ganzheitliche betriebliche Gesundheitsmanagementsystem – GABEGS -, das wir im Bayerischen Arbeitsministerium schon vor einigen Jahren entwickelt haben und dessen Einführung und Anwendung kostenlos ist. GABEGS ist ein effektives Hilfsmittel für die Betriebe, die Gesundheit ihrer Beschäftigten nachhaltig zu schützen und zu fördern. Und dies kommt auch dem Erfolg des Unternehmens zugute, denn nur gesunde Mitarbeiter sind auch produktive Mitarbeiter.”
Nähere Informationen zu GABEGS erhalten Sie unter: www.zukunftsministerium.bayern.de/arbeitsschutz/managementsysteme/gabegs.php
Pressemitteilung auf der Seite des Herausgebers

(Die Anmerkung in eckigen Klammern, Links und Hervorhebungen wurden nachträglich eingetragen.)
Etwa 70% der deutschen Unternehmen haben psychische Belastungen nicht vorschriftsmäßig in ihren Arbeitsschutzes einbezogen, aber die Ministerin schlägt ihnen in Bayern ein freiwilliges Gesundheitsmanagement vor. Wird da niemand stutzig?
Um auch das Thema psychische Belastungen am Arbeitsplatz in den Griff zu bekommen, empfehle ich den Betrieben, zunächst die vorgeschriebenen Gefährdungsbeurteilungen so sorgfältig anzufertigen, dass aus ihnen die Qualität des Einbezugs psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz klar und verständlich deutlich wird. Bevor nämlich ein schickes Gesundheitsmanagement aufgebaut wird, muss erst einmal der bestehende Zustand beurteilt werden. Höchstrichterlich ist (auf Betreiben eines Arbeitgebers) auch bestätigt, dass Arbeitsschutzmaßnahmen mit einer Gefährdungsbeurteilung begründet werden müssen.
Solange psychische Belastungen nicht in den Arbeitsschutz einbezogen sind, sind die Mitarbeiter gefährdeter, als wenn ein ganzheitlicher Arbeitsschutz bereits implementiert wäre. Darum muss ein fehlender Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz selbstverständlich in der Gefährdungsbeurteilung dokumentiert werden. Das ist nicht kompliziert, und Arbeitgeber sind gegebenenfalls verpflichtet, das sofort zu tun, denn auch ein unvollständiger Arbeitsschutz kann die Mitarbeiter gefährden.
Wenn alles mit rechten Dingen zugeht, dann wird die Beschreibung des fehlenden Einbezugs psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz der Einstieg vieler Unternehmen in den ganzheitlichen Arbeitsschutz sein. Das ist nicht nur eine lästige Pflichtübung bei der Einhaltung von Vorschriften, sondern eine wahrheitsgemäße, gut verständliche und vollständige Gefährdungsbeurteilung wird gebraucht,

  • damit Arbeitsschutzmaßnahmen aus konkreten Tatsachen abgeleitet werden können,
  • damit die Leistungsbedingungen der Mitarbeiter besser verstanden ond offen angesprochen werden,
  • damit sich Mitarbeiter sowie ihre Führungskräfte zu ihrem eigenen Schutz auf gegebenenfalls festgestellte Lücken im Arbeitsschutz (z.B. ein ungenügender oder mangelhafter Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitschutz) so lange einstellen können, bis der noch zu implementierende ganzheitliche Arbeitsschutz auch wirklich funktioniert.

Die Mitarbeiter müssen deswegen die zu ihren Arbeitsplätzen gehörenden Gefährdungsbeurteilungen natürlich auch kennen, verstehen und überprüfen können.
Es gibt jetzt schon Maßnahmen, die Christine Haderthauer zulassen muss, wenn sie es mit dem ganzheitlichen Arbeitsschutz ernst meint. Es darf in Bayern keine Betriebe mehr geben, die psychische Belastungen nicht ausreichend in ihren Arbeitsschutz integriert haben, aber nach einem Besuch der Gewerbeaufsicht gegenüber der Belegschaft behaupten können, sie hielten die Vorschriften des Arbeitsschutzes ein. Wenn der (mitbestimmte) Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz gar nicht geprüft wurde, dann vertrauen die die Mitarbeiter und die Führungskräfte auf einen Schutz, den es gar nicht gibt. Wenn die Gewerbeaufsicht zulässt, dass der Anspruch des Unternehmens, einen ausreichend ganzheitlichen Arbeitsschutz implementiert zu haben, von der krank machenden Wirklichkeit abweicht, dann richten unvollständige Prüfungen sogar Schaden an.
 
Siehe auch:

(Links aktualisiert: 2013-03-21)

Servus Zielvereinbarung

In http://blog.psybel.de/zielvereinbarung-mit-unternehmen/ berichtete ich von Zielvereinbarungen, die die bayerische Gewerbeaufsicht gegebenenfalls mit Unternehmen trifft. Im neuen Webauftritt finde ich das nicht mehr. Die interne Suchmaschine des bayerischen “Zukunftsministeriums” ist zur Zeit zwar noch erfolgreicher. Aber wenn man die von ihr gefundene Seite anklickt, kommt auch wieder eine Seite ohne “Zielvereinbarung”.
Vielleicht sind Christine Haderthauers “Burnout-Detektive” auch schon an die Kette gelegt worden. Ich hatte im Oktober 2011 die bayerische Ministerin darum gebeten, dass die Gewerbeaufsicht von Zielvereinbarungen auch Gebrauch macht. Kurz danach kam (wohl nicht sosehr als Folge meiner Anregung) die Burnout-Detektive-Schlagzeile. Und einige Monate danach verschwand die Zielvereinbarung.
Den Mut der Gewerbeaufsicht findet man also jetzt nur noch im Cache der bayerisch-ministeriellen Suchmaschine.

Arbeitsschutz 2002:Lücke zwischen Vorschriften und ihrer Umsetzung

http://www.boeckler.de/pdf/fof_zwischenbericht.pdf

Bertelsmann Stiftung
und
Hans Böckler Stiftung
Expertenkommission
Betriebliche Gesundheitspolitik
Zwischenbericht
(Gütersloh/Düsseldorf, 22. November 2002) …

S. 11 (PDF: S. 13/80):

… Betriebliche Gesundheitspolitik hat heute in den Unternehmen geringe Priorität – oft über alle Akteursgruppen hinweg. Unternehmen müssen für eine moderne betriebliche Gesundheitspolitik zumeist erst noch befähigt werden. Kleine und mittlere Unternehmen sollten dabei besondere Berücksichtigung finden. Aber auch in größeren und großen Unternehmen besteht aus unserer Sicht beträchtlicher Handlungs- und Entwicklungsbedarf. Befähigung durch Qualifizierung und Austausch von „best-practice“-Beispielen ist wichtig, reicht jedoch nicht aus, um das Eigeninteresse der Betriebe zu wecken. Auch der Gesetzgeber stößt hier an Grenzen, zumal seine Aufsichtsdienste immer mehr der Haushaltslage wegen abgebaut werden. Finanzielle Anreize sollten als „Hebel“ zur Aktivierung betrieblicher Gesundheitspolitik eingesetzt werden. …

S. 12 (PDF: S. 14/80):

Dass Arbeitsschutz eine klassische Aufgabe für Arbeitnehmervertretungen ist, wird nicht immer ausreichend wahrgenommen. Arbeitgeber halten dies oft für eine lästige Pflicht. Notwendigkeiten für ein modernes betriebliches Gesundheitsmanagement und auch seine Möglichkeiten werden oft nicht gesehen oder ernst genommen. …

… Der Staat hat mit seiner neuen Gesetzgebung wichtige Weichen gestellt. Es besteht jedoch eine Lücke zwischen Vorschriften und ihrer Umsetzung. Hier sieht die Kommission Handlungsbedarf. Wie zukünftig die Zusammenarbeit zwischen Staat (Bund, Ländern) einerseits und den Unternehmen andererseits zu gestalten sei – auch bei immer angespannterer Lage der staatlichen Haushalte – bedürfe dringend der Diskussion. Klar sei, dass der Staat sich einerseits „auf dem Rückzug“ befinde, andererseits durch die Notwendigkeit zum verstärkten Arbeiten mit finanziellen Anreizen vor neuen Herausforderungen stehe – auch was seine zukünftigen Prüfpflichten betrifft – Stichworte: externe Qualitätssicherung betrieblichen Gesundheitsmanagements und „neuer Interventionstyp“.
Ansätze für einen fortschrittlichen Arbeitsschutz und eine innovative betriebliche Gesundheitspolitik bieten das Arbeitsschutzgesetz seit 1996 und auch das Arbeitssicherheitsgesetz. Ebenso finden sich im SGB VII und SGB V Ansätze. Daher sind im materiellen Recht schon Ansätze vorhanden. Einigkeit besteht, dass es bei der Umsetzung mangelt, jedoch die Gesetze nicht Reformen be- oder verhindern. Die gesetzlichen Grundlagen sollen effizient genutzt werden. Darüber hinaus ist ein neuer Interventionstyp insbesondere für die überbetrieblichen Akteure erforderlich. …

(Hervorhebungen nachträglich eingefügt)
Die “Lücke zwischen Vorschriften und ihrer Umsetzung” ist also schon seit langer Zeit bekannt.
Die heute den Unternehmen von Ursula von der Leyen zugestanden “Unwissenheit und Hilflosigkeit” ist einfach nicht glaubhaft. Die Arbeitgeber haben versagt: Die Experten setzten im Jahr 2002 auf das Eigeninteresse und die Eigenverantwortung der Unternehmer. Heute wissen wir, dass das unrealistisch war. Der “neue Interventionstyp” hat offensichtlich nicht funktioniert, wohl auch wegen Illusionen hinsichtlich dessen, was Unternehmer motiviert. Die Unternehmer haben ihre Chance verspielt, die ihnen gewährte Schonfrist verschlafen und ließen (selbst nach Auffasung der Arbeitsministerin) das Thema der psychischen Belastung einfach schleifen. Der Hauptmotivator ist und bleibt also die Pflicht zur Erfüllung gesetzlicher Verpflichtungen. Da Einsicht seit mehr als 15 Jahren nicht funktioniert, muss die Erfüllung dieser Pflicht nun wohl doch mit Hilfe von strengeren Kontrollen und Sanktionen durchgesetzt werden. Neue Vorschriften sind eigentlich nicht nötig.

Kontrolldruck

http://www.sueddeutsche.de/bayern/hygiene-skandal-bei-mueller-brot-rote-ampel-fuer-den-verbraucherschutz-1.1285365

Hygiene-Skandal bei Müller-Brot
Rote Ampel für den Verbraucherschutz
16.02.2012, 10:14 Von Daniela Kuhr
Die Verbraucher hätten schon deutlich früher von den Missständen bei Müller-Brot erfahren. Wenn denn die Verbraucherschutzminister in 2011 eine Hygiene-Ampel eingeführt hätten. Haben sie aber nicht, denn ausgerechnet Bayern hat ein Veto eingelegt.
Mäusekot, Kakerlaken und Motten … … …

Na Mahlzeit. Die zurückhaltende Lebensmittelkontrolle bei Müller-Brot hatte Arbeitsplätze nicht gerettet, sondern sie vernichtet. Verantwortlich ist dafür eine wohl politisch gewollte Schwächung der staatlichen Aufsicht.
Die Lebensmittelkontrolleure fordern mehr Personal. Sie tun das nicht erst seit heute. Von Martin Müller (Vorsitzender des Bundesverbandes der Lebensmittelkontrolleure) erfahren wir (heute in B5 aktuell), dass 2500 Kontrolleure mehr als 1,1 Millionen Betriebe überwachen müssen. Fachleute wüssten seit langer Zeit, das es in vielen Betrieben Hygienemägel gebe. Aber die Kontrolleure könnten den “Kontrolldruck” nicht aufrecht erhalten, den viele Betriebe bräuchten.
Da Politiker das wussten, wollten sie nicht hinsehen. Diesen Vorsatz sehe ich auch bei der Überprüfung der Einhaltung der Arbeitsschutzvorschriften. An den Aufsichtsbeamten liegt das eher nicht, sondern an der politischen Führung. Auch hier stinkt der Fisch immer noch vom Kopf.

Wenn Fehlbelastungen Kakerlaken wären

http://www.nibelungen-kurier.de/?t=news&s=Aus aller Welt&ID=42207

… Mit Blick auf die aus Hygienegründen vorübergehend stillgelegte Großbäckerei Müller-Brot (Landkreis Freising) hat die Verbraucherschutzbeauftragte der Unionsfraktion im Bundestag, Mechthild Heil, eine zu laxe Lebensmittelaufsicht in Bayern kritisiert. …

(Quelle für den Nibelungen Kurier: FOCUS)
Ich dachte, dass Politiker eigentlich einen nicht ganz unerheblichen Einfluss auf die Ausstattung und Kompetenzen der Aufsichtsbehörden haben. Mit der Lebensmittelsicherheit kenne ich mich nicht so aus, aber im Arbeitsschutz ist es die Politik, die die Aufsicht ausbremst. Hoffen wir, dass nicht nur Mechtild Heil (CDU), sondern auch Christine Hadertauer (CSU) und Ursula von der Leyen (CDU) mal ein bisschen Forensik betreiben: Die Politik hat bisher auch billigend zugesehen, wie Unternehmen unter den schläfrigen Augen der Gewerbeaufsicht ganz entspannt den vorgeschriebenen Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz vernachlässigen durften.
Wenn arbeitsbedingte psychische Fehlbelastungen Kakerlaken wären, würden sich Politiker vielleicht intensiver damit befassen müssen.

Staatlich behinderte Gewerbeaufsicht

http://www.igmetall.de/cps/rde/xbcr/SID-577D2ED4-F01794B3/internet/Tipp43_V6_Finale_Screen_0180513.pdf

Gegenwärtig entscheidet jedes Bundesland nach Kassenlage und eigenem Gutdünken, wie viel Personal es für die Gewerbeaufsicht einsetzt. Ich dachte früher, dass eine Steuerprüfung das seltenste Ereignis ist, das einem Betrieb passieren kann. Aber der staatliche Arbeitsschutz schlägt das noch um Längen!

Das meinte Hans-Jürgen Urban (IG-Metall) zur Gewerbeaufsicht. Nun fordert er strengere Durchführungsverordnungen. Ich sehe das kritisch, aber vielleicht hat er leider doch recht.
Während Ursula von der Leyen (CDU) beklagt, dass die Unternehmen den Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz schleifen lassen und Christine Haderthauer (CSU) sogar nach Burnout-Detektiven ruft, versucht Edmund Stoiber (CSU) den Arbeitsschutz noch zusätzlich zu schwächen. Edmund Stoiber arbeitet auf europäischer Ebene daran, ein Instrument zu blockieren, mit dem sich Pflichtverletzungen der Arbeitgeber sehr konkret prüfen lassen. Die Bildschirmarbeitsverordnung ist Edmund Stoiber ein Dorn im Auge. In Betrieben mit Bildschirmarbeit kann man pflichtverletzenden Arbeitgebern mit den Kriterien der Bildschirmarbeitsverordnung sehr leicht ihre Vergehen nachweisen. Es geht da längst nicht mehr nur um Pixelauflösungen, Bildschirmflimmern und technische Parameter. Sondern es geht um die Benutzerfreundlichkeit von Software und die Belastung von Menschen durch Interaktion mit Benutzerschnittstellen. Wenn Arbeitgeber trotz Forderung beispielsweise des Betriebsrates keine Beurteilung der psychischen Belastung durch die Benutzerschnittstellen durchführen, kann auch gezeigt werden, dass sie eine Vorschrift des Arbeitsschutzes vorsätzlich missachten.
Auffallend ist auch die Zurückhaltung der Krankenkassen mit Kritik an der offensichtlichen Missachtung der Pflicht zum Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz bei einer Mehrheit der Unternehmen. Das Bundesarbeitsministerium stellte fest: Die psychische Belastung ist unabdinbarer Bestanddteil des Arbeitsschutzes. Die Pflichten der Arbeitgeber sind klar, aber die Kassen trauen sich nicht, die Versäumnisse der Arbeitgeber bei der Erfüllung ihrer gesetzlichen Pflichten als Rechtsbruch zu kritisiern.
Jetzt wird über eine Verpflichtung der gesetzlichen Kassen diskutiert, ihren Versicherten bei ärztlichen Fehlern zu helfen. Die Kassen sollten auch verpflichtet werden, ihrer Versicherten zu helfen, wenn deren Arbeitgeber gegen die Vorschriften des Arbeitsschutzes verstoßen. Was können wir hier von von den Krankenversicherern erwarten, wenn sie schon klaren Rechtsbruch nicht klar ansprechen? Mit Samthandschuhen gehen auch die Berufsgenossenschaften mit Unternehmen um, die den Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz schleifen lassen. Unternehmern, die Körperverletzungen ihrer Mitarbeiter schon so lange riskieren, das Vorsatz deutlich wird, wird mehr Verständnis entgegengebracht, als Kleinkriminellen. (Entschuldigung bitte, aber wenn Sie diesen Vorwurf zu krass finden, dann denken Sie bitte einmal darüber nach, was die Gewöhnung an Rechtsbruch mit uns selbst anrichtet.)
Die Aufsichtspersonen auf der unteren Ebene kann man für die Sabotage der Arbeitsschutzaufsicht übrigens nicht haftbar machen. Politiker behindern die Arbeitsschutzaufsicht ja nicht durch offene Anweisungen, aktiv wegzusehen. Sondern sie begrenzen einfach die Ressourcen der Aufsicht. Die kann dann erst aktiv werden, wenn sich die Wahrnehmung von Mängeln überhaupt nicht mehr vermeiden lässt. Auf einer Tagung meinte einmal eine Psychologin (die für eine Organisation im Bereich der Arbeitssicherheit Unternehmen beobachtet) zu mir, dass sie erst tätig werden dürfe, “wenn in einem Unternehmen Zustände herrschen wie bei France Télécom”.
Es muss also erst Tote geben. Und dann lassen sich Ursachenzusammenhänge immer noch kaum nachweisen. Als Haftungsgrund müsste ausreichen, mangelnde Prävention nachzuweisen. Dafür ist eine ausreichend mit Ressourcen und Sanktionsmitteln ausgestattete Aufsicht erforderlich. Das kann von der Zielvereinbarung mit kooperativen Unternehmen bis hin zur Einschaltung des Staatsanwalts reichen.

Burnout-Detektive

2011-10-17 (21:45): Hübsche Titelseite in der Abendzeitung (München): “Burnout-Detektive in Münchner Firmen – Arbeitsministerin Haderthauer: Aufpasser sollen psychische Risiken im Betrieb kontrollieren”. Und dann unter dem Artikel “Burnout-Aufpasser für Bayern” das schöne Interview auf Seite 16: “Burnout-Prophylaxe: Hier sagt die Ministerin, wie die Gewerbeaufsicht einschreiten soll”. Das Ganze ist auch gut verständliche Aufklärungsarbeit einer Zeitung und einer Ministerin, die wohl auch innerhalb der CSU ihren eigenen Kopf hat. Kompliment.
2011-11-04: Gestern wählte Horst Seehofer den “mental starken” Markus Söder als Nachfolger von Georg Fahrenschon zum neuen Finanzminister Bayerns aus. An dem Rollenbesetzungstheater nahm auch wieder einmal die Öffentlichkeit teil, also eine Gelegenheit der parteiinternen Gegner von Christine Haderthauer, sie ungefähr als so unbeleckt in Finanzfragen darzustellen, wie Markus Söder es ebenfalls ist. Die Wirtschaftslobby in der CSU will wohl ihren Spezln den Besuch von “Burnout-Detektiven” zwar ersparen, aber im Finanzministerium hätte Haderthauer die Steuerfahndung losschicken können. Christine Haderthauer bleibt nun doch Bayerische Staatsministerin für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, und ich freue mich, dass sie in diesem Amt ihre Arbeit (hoffentlich nicht nur Öffentlichkeitsarbeit im Boulevard) weitermacht.
Siehe auch: http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/47615/Haderthauer_fordert_politische_Initiative_gegen_Burnout.htm.
Nachtrag (2015): Die Entzauberung der Ministerin folgte dann später. Trotz meines Grantelns in diesem Blog sehe ich zunächst das Gute im Menschen.

Bayerische Gewerbeaufsicht: Zielvereinbarung mit Unternehmen

Verstöße gegen das Arbeitsschutzgesetz können als Ordnungswidrigkeiten geahndet werden, bei Vorsatz, bei Wiederholungen usw. auch als Straftat. Aber die Aufsichtsbehörden schlagen nicht gleich mit dem Knüppel zu. Sie können zunächst auch Zielvereinbarungen mit Unternehmern abschließen.
http://www.stmas.bayern.de/arbeitsschutz/arbeitsmedizin/psychologie.php
(2011-07-13)

Arbeitspsychologie
In der heutigen Arbeitswelt spielen psychische Belastungen eine immer größere Rolle. Angst vor Arbeitsplatzverlust, hoher Zeitdruck, Zunahme der Arbeitsmenge, Informationsmangel- oder Informationsüberflutung, Kommunikationsbarrieren, geringe Qualifizierungsmöglichkeiten oder zu wenig Handlungsspielraum können Kopfschmerzen, Lustlosigkeit, “Ausgebranntsein”, Schlafstörungen oder Erkrankungen verursachen.
Psychische Fehlbelastungen lassen sich vermeiden. Die bayerische Gewerbeaufsicht überprüft die Betriebe und legt die Abhilfemöglichkeiten in einer Zielvereinbarung fest.
In Fällen von Bournout, Mobbing, Gewalt am Arbeitsplatz oder posttraumatischer Belastungsstörung führt die Gewerbeaufsicht keine Konfliktberatungen durch. Sind keine Verstöße im arbeitsschutzrechtlichen Sinne festzustellen, so wird auf externe Berater und Beratungsstellen oder auf das Präventionsnetzwerk verwiesen.
Weiterführende Informationen: Arbeitspsychologie

Nachtrag (2012-06-25): Die Zielvereinbarung sind verschwunden. Inzwischen lautet ein ähnlicher Text unter unveränderter URL im neuen Webauftritt:

… Psychische Fehlbelastungen am Arbeitsplatz lassen sich jedoch vermeiden bzw. wesentlich reduzieren. Davon profitieren Gesundheit und Wohlbefinden der Beschäftigten, was wiederum dem gesamten Betrieb zugute kommt.
Der Arbeitgeber ist gemäß Arbeitsschutzgesetz dazu verpflichtet, psychische Belastungen im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung zu ermitteln und Maßnahmen zur Reduzierung negativer Belastungsfolgen durchzuführen.
Das Sozialministerium und die bayerische Gewerbeaufsicht unterstützen die Betriebe bei dieser Aufgabe. …

 
http://www.lgl.bayern.de/lgl/index.htm
(2011-07-13)

Das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) ist die zentrale Fachbehörde des Freistaats Bayern für Lebensmittelsicherheit, Gesundheit, Veterinärwesen und Arbeitsschutz/Produktsicherheit.
Das LGL ist dem Bayerischen Staatsministerium für Umwelt und Gesundheit (StMUG) und mit seinem Landesinstitut für Arbeitsschutz und Produktsicherheit dem Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen (STMAS) nachgeordnet.

(Hervorhebungen in den Zitaten nachträglich eingefügt)
Siehe auch: