Tabu-Thema in Redaktionen: Missachtung des Arbeitsschutzes

WELT-Online (2012-02-11) privatisiert in http://www.welt.de/debatte/kommentare/article13863024/Burn-out-Syndrom-ist-vom-Menschen-selbst-gemacht.html wieder einmal das “Burnout”-Syndrom als “Zivilisationskrankheit”.

Burn-out-Syndrom ist vom Menschen selbst gemacht
“Burn-out” ist nicht nur ein Fall für den Arzt, sondern ein Zivilisationsproblem. Aber nicht die moderne Vielfalt ist die Ursache, sondern unsere Unfähigkeit auszuwählen. …

Klar ist das Burnout-Syndrom vom Menschen selbst gemacht. Aber welche Menschen sind am Burnout des Einzelnen beteiligt? Ich frage mich hier auch, wie es in den Redaktionen (on- und off-line) der WELT zugeht.
In der WELT meint Gerd Held zu wissen: “Überforderung kommt von innen”. Der Streit, ob “Burnout” von den von ihm Betroffenen “selbst gemacht” ist, oder von den Arbeitsbedingungen verursacht wurde, ist uralt. In den Redaktionen wird das Thema in überwiegend als individuelles Verhaltensproblem behandelt. Über den tägliche Rechtsbruch im Arbeitsschutz wird dagegen kaum berichtet.
Liegen die Ursachen für psychische Fehlbelastungen bei den Arbeitsbedingungen oder beim Ausgebrannten? Dumme Frage. Tatsächlich trifft beides zu. Noch etwas tiefer geht beispielsweise ein Dreiebenenmodell.
Tatsache ist jedoch auch, dass ein Großteil der Arbeitgeber die Pflicht zum Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz missachtet. Das ist konkreter darstellbar, als das komplexe Ursachengemenge für psychische Fehlbelastungen, an dem in den Redaktionen schon seit langer Zeit herumspekuliert wird. Die Bundesarbeitsministerin meinte Ende Dezember 2011 zu seelischen Belastungen am Arbeitsplatz, “dass sieben von zehn Unternehmen das Thema schleifen lassen” (Von der Leyen kündigt Kampagne an, 2011-12-28). Es gibt inzwischen genug Untersuchungen, die Ursula von der Leyens Feststellung bestätigen. Interessant ist nun, dass der Rechtsbruch der Unternehmen, die seit 1996 die Regeln des ganzheitlichen Arbeitsschutzes missachten, in den Medien kaum angesprochen wird. Bis zu wichtigen BAG-Beschlüssen im Jahr 2004 war das vielleicht noch nicht so klar. Aber angesichts des heute vorhandenen Wissens muss inzwischen bei vielen Fällen wohl von einer vorsätzlichen Verschleppung des Einbezugs psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz ausgegangen werden. Das gesetzeswidrige Verhalten der Mehrheit der Arbeitgeber ist dermaßen offensichtlich und nun auch offiziell bestätigt, dass sich auch DIE WELT geradezu anstrengen muss, diese Tatsache zu ignorieren.
Dabei sind Redaktionsarbeitsplätze überwiegend Bildschirmarbeitsplätze, an denen sich dank der Bildschirmarbeitsverordnung besonders einfach überprüfen lässt, ob der Arbeitgeber die Regeln des Arbeitsschutzes beachtet. Wenn Sie selbst als Redakteurin oder Redakteur an so einem Arbeitsplatz sitzen, dann stellen Sie einmal die Frage, “wie bei der Beurteilung der Arbeitsbedingungen bei Bildschirmarbeitsplätzen die Sicherheits- und Gesundheitsbedingungen insbesondere hinsichtlich psychischer Belastungen ermittelt und beurteilt werden, sowie welche konkreten Prozesse und Beispiele es dazu im Betrieb gibt.” Oder stellen sie die Frage lieber nicht, weil Sie Nachteile befürchten? Diese Furcht wäre dann schon eine Antwort auf die Frage nach dem Funktionieren des Arbeitsschutzes in Ihrer Redaktion. (Und ihren braven Betriebsrat müssten Sie wohl auch erst einmal aufwecken.)
Eine möglicher Grund dafür, dass die “vierte Gewalt” (die Journalisten) offensichtlichen Rechtsbruch nicht thematisiert, könnte darin bestehen, dass Rechtsthemen wie “Arbeitsschutz” einfach zu unsexy sind. Vielleicht ist es aber heute auch uncool, auf Schutzbestimmungen zu vertrauen. Aus Sicht von konflikterprobten Journalisten brauchen vielleicht nur Weicheier und Warmduscher einen Arbeitsschutz. Echte Kämpfer sorgen eigenverantwortlich für ihre Gesundheit. Sie lassen sich nicht von irgendwelchen “Arbeitsschutzbürokraten” bevormunden.
Auch könnte es sein, dass der vorgeschriebene Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz nicht für realistisch gehalten wird. “Gefährdungsbeurteilung? Wie soll das funktionieren?” Darüber könnte man ja durchaus diskutieren, aber selbst Kritik an der Arbeitsschutzgesetzgebung ist in den Medien nicht zu finden.
Vielleicht gibt es noch eine ganz praktische Erklärung: In den Unternehmen ist das Thema der psychischen Belastungen eine ganz heiße Kartoffel. Die meisten Arbeitnehmer wissen nichts über den Einbezug psychischer Belastungen in die Gefährdungsbeurteilung und sollen es wohl auch nicht wissen. (Wie würden Sie in Ihrem Betrieb eingeschätzt werden, wenn Sie danach fragen? Probieren Sie es doch einfach mal aus.) Auch Zeitungen sind Unternehmen mit Arbeitnehmern. Vermutlich wird auch in diesen Unternehmen mehrheitlich gegen die Bestimmungen des Arbeitsschutzes verstoßen. Scheuen sich Journalisten also, das Thema der seelischen Belastungen am Arbeitsplatz anzusprechen, weil dann Konflikte mit den Redaktionsleitungen zu befürchten sind, die – wie die Bundesarbeitsministerin das so schön ausdrückte – das Thema schleifen lassen?
Besonders wenn sich Journalisten, die in ihrem Unternehmen eine Führungspositionen haben, über “Burnout” auslassen, sollten sich Leser, Zuseher und Zuhörer also fragen, ob diese Führungskräfte versuchen, mit ihren Äußerungen ihre eigenen Pflichtverletzungen zu verdrängen. Ihre Mitarbeiter dagegen haben möglicherweise zum Schutz ihrer Karriere die Schere im Kopf. Schwächlinge kann keine Redaktion gebrauchen.
Siehe auch: http://blog.psybel.de/2012/06/08/manager-magazin-burn-out-ranking/#MedienStress

Mit dieser Berufsgenossenschaft stimmt etwas nicht

http://www.bghw.de/aktuelles/nachrichten/raus-aus-der-stressfalle

… Hier finden Beschäftigte anschauliche Beispiele für die häufigsten Ausprägungen psychischer Belastung mit exemplarischen Beschreibungen schwieriger Arbeitssituationen sowie eine Vielzahl von Tipps und Übungen, mit denen man der Stressfalle entkommt.

Ratschlag: Sind sie Arbeitnehmer, dann wählen Sie eine Arbeitnehmervertretung, die den Arbeitgeber kräftig motiviert, Stressfallen zu eliminieren. Es hilft nicht, den Mitarbeitern den Schwarzen Peter zuzuschieben. Sieben von zehn Unternehmen lassen den Einbezug seelischer Belastungen in den Arbeitsschutz schleifen. Sie greifen ohne die Impulsgebung durch Gewerkschaften, Betriebsräte bzw. Arbeitsschutzbehörden (vereinzelt) das Thema “Psychische Belastungen” als Gegenstand der Gefährdungsbeurteilung (GB) i. d. R. nicht auf. Nicht Einsicht und Verantwortungsbewusstsein, sondern gesetzliche Verpflichtungen sind der stärkste Motivator für Unternehmen, sich mit psychosozialen Risiken zu befassen. Betriebsräte müssen sich damit auskennen.
Im Arbeitsschutz ist der Arbeitgeber für die Vermeidung schädlichen Stresses verantwortlich. Zwar haben auch die einzelnen Beschäftigten in den Betrieben eine Verantwortung für sich selbst, aber Arbeitgeber, die psychische Belastungen nicht ordentlich in den Arbeitsschutz einbeziehen, verlieren ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie an die Eigenverantwortung von Mitarbeitern appellieren ohne zuvor ihre vorgeschriebenen Hausaufgaben gemacht zu haben. Der Großteil der Unternehmen in Deutschland hat hier versagt.
Mängel beim Arbeitsschutz müssen offen angesprochen werden können. Das ist schwer, wenn sich nicht einmal eine Berufsgenossenschaft (s.u.) traut, deutlicher die Tatsache anzusprechen, dass die Mehrheit der Unternehmen die Vorschriften des ganzheitlichen Arbeitsschutzes noch immer ungestraft missachten darf. Die Aufsichtspersonen der BGHW sucht nicht proaktiv nach leicht feststellbaren Regelverstößen. Das ist keine Aufsicht. Dafür gibt die Berufsgenossenschaft den Mitarbeitern jedoch schlaue Ratschläge, wie sie Belastungen besser aushalten können.
Auch dieBerufsgenossenschaft soll erst einmal ihre Arbeit machen und bei ihren Firmenbesuchen genauer und kritischer hinsehen. Speziell die Überprüfung des Gefährdungsbeurteilungsprozesses ist ganz einfach. Wenn es einen mitbestimmten Einbezug der psychisch wirksamen Belastungen in solch einen Prozess nicht gibt oder wenn das Unternehmen nur so tut, als ob es ihn gäbe, dann müsste man sich schon kräftig anstrengen, das nicht zu bemerken. Was bedroht/motiviert die BG, hier Mängel durchgehen zu lassen?
Hier läuft irgendetwas sehr falsch.
Mehr dazu in Stephan Lists Blog, das mich auf das Handbuch aufmerksam gemacht hat: http://www.arbeitstattstress.de/2012/02/bghw-handbuch-psychische-belastungen-am-arbeitsplatz/

Erst einmal die vorhandenen Arbeitsschutzregeln durchsetzen

http://www.igmetall.de/cps/rde/xchg/SID-4C613046-9BAEA969/internet/style.xsl/psychische-belastung-am-arbeitsplatz-9358.htm

Psychische Belastung am Arbeitsplatz
Wir brauchen Schutz vor Stress
24.01.2012 – Die IG Metall ist ein wesentlicher Treiber beim Thema Arbeitsstress. Sie fordert mit ihrer Anti-Stress-Initiative, dass es endlich eine verbindliche Verordnung gibt, an die sich die Unternehmen halten müssen. Denn die Erfahrung zeigt: Die bisherige “freiwillige Rahmenvereinbarung” bringt so gut wie nichts.

Das Arbeitsschutzgesetz setzt bereits den heute von der IGM geforderten vorgeschriebenen Rahmen. An den haben wir uns zu halten. Das ist nicht freiwillig.


Die “Anti-Stress-Initiative” der IG Metall hat das Ziel, den Schutz vor psychischer Gefährdung in der Arbeit in eine konkrete Verordnungen zu fassen. Das Arbeitsschutzgesetz gibt dafür den Rahmen vor. “Ich fordere Arbeitsministerin Ursula von der Leyen auf, die Schutzlücke bei psychischen Gefährdungen zu schließen”, sagte Hans-Jürgen Urban auf einer Pressekonferenz in Berlin. Es geht Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, um eine Verbindlichkeit, an die sich Arbeitgeber halten müssen.

(Links nachträglich in das Zitat eingefügt)
Die Verbindlichkeit gibt es doch schon längst. Neue und zusätzliche betriebsübergreifende Regelungen bergen die Gefahr in sich, dass man sich hier auf niedrigstem Niveau einigt und dann Alle meinen, ihre Hausaufgaben gemacht zu haben. Gewerkschaften, Arbeitgeber, Bundesarbeitsministerin usw. sehen dann gut aus, aber den Menschen in den Unternehmen hilft das nicht.
Hier verstehe ich die Forderungen meiner Gewerkschaft nicht (oder ich verstehe sie vielleicht auch nur falsch). Der Schwerpunkt der Arbeit muss doch darauf liegen, dass überhaupt erst einmal die bestehenden Arbeitsschutzregeln eingehalten werden und genügend Aufsichtspersonal zur Verfügung steht. Diese Fachleute müssen dann den Arbeitsschutz in den Betrieben wirklich aufmerksam und nachhaltig beaufsichtigen dürfen. Auch müssen die Arbeitnehmervertreter (Betriebs- und Personalräte) verstehen, dass Arbeitsschutzrechte unabdingbar sind. Arbeitnehmervertreter haben beim Einbezug psychisch wirksamer Belastungen in den Arbeitsschutz die Pflicht zur Mitbestimmung.
Die IGM schreibt doch selbst:


Der Gesundheitswissenschaftler und Leiter der Forschungsgruppe Public Health, Rolf Rosenbrock, erklärt: “Das zentrale Problem ist nicht das Fehlen von allgemeinen gesetzlichen Vorschriften oder Mängel an gesichertem Wissen. Sondern der Unwille in der Mehrzahl der Unternehmen in Deutschland, den Vorschriften zu folgen und das Wissen zu nutzen.” Aus seiner gesundheitswissenschaftlichen und -politischen Sicht begrüßt er jede Initiative, die die Thematik auf die betriebliche und politische Tagesordnung bringt.

Aber dann wieder:

…Ohne Regeln und Kontrolle passiert zu wenig. 68 Prozent der IG Metall-Betriebsräte gaben in einer Umfrage an, dass seit der Wirtschaftskrise Stress und Leistungsdruck stark oder sehr stark zugenommen haben. Ein wirklich wirksamer Schutz der Beschäftigten kann nur zustande kommen, wenn es Regeln gibt, die zum Handeln führen. Alle Akteure brauchen dafür einen verbindlichen Rahmen.

Die fehlende Kontrolle ist aus meiner Sicht das Hauptproblem. Es ist einfach so, dass der Zwang zur Erfüllung gesetzlicher Regeln das wichtigste Motiv von Unternehmern ist, sich mit psychosozialen Risiken im Betrieb zu befassen. Die Regeln gibt es, den Zwang nicht. Ohne Durchsetzung sind die Regeln für die Tonne. Gesetze zum Vorzeigen haben wir schon genug. Nicht die Regeln fehlen, sondern ihre Durchsetzung in einem Land, in dem wir uns schon zu sehr an einen sehr “flexiblen” Umgang mit rechtlichen Verpflichtungen gewöhnt haben. Der “Unwille in der Mehrzahl der Unternehmen in Deutschland, den Vorschriften zu folgen” sollte in einem Rechtsstaat keine unüberwinbare Hürde sein.
Falls Sie es in diesem Blog noch nicht gelesen haben sollten: Die Mehrheit der Arbeitgeber durfte seit 1996 (und auch nach der Konkretisiertung im Jahr 2004 durch das BAG) ohne ein Einschreiten der Gewerbeaufsicht und der Berufsgenossenschaften straflos ihre Pflicht zum Einbezug psychisch wirksamer Belastungen missachten.
Die mangelnde Thematisierung dieser Tatsache in den Medien zeigt aber, dass diese Art der Rechtsbruchs bei uns heute schulterzuckend toleriert wird. Unternehmer, die die Schutzrechte von Arbeitnehmern ignorieren, gehören wohl zur akzeptierten Lebenswirklichkeit und scheinen journalistisch uninteressant zu sein.
Siehe auch: http://blog.psybel.de/petition20090202/

Von der Leyen kündigt Kampagne an

http://www.rp-online.de/politik/deutschland/von-der-leyen-plant-kampagne-gegen-burn-out-1.2652967
Wie auch die Saarbrückener Zeitung meldet, plant Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen eine breit angelegte Kampagne zur Bekämpfung psychischer Überbelastungen in der Arbeitswelt. Mit den Tarifpartnern, Sozialversicherungsträgern sowie Länderexperten wolle sie im kommenden Jahr “wirksame Maßnahmen” gegen diese Probleme entwickeln, kündigte von der Leyen der Zeitung zufolge an.
Strengere Gesetze seien, so die Zeitung, nach Ansicht von der Leyens nicht nötig.

Schon jetzt gebe es strenge Arbeitsschutzbestimmungen auch mit Blick auf seelische Belastungen.
Studien zeigten aber, “dass sieben von zehn Unternehmen das Thema schleifen lassen – meist aus Unwissenheit oder Hilflosigkeit“. Daher müsse man besser informieren und Lösungswege aufzeigen. Dies solle die von ihr geplante “breit angelegte Kampagne” erreichen.

(Link und Hervorhebung nachträglich eingefügt)
Hier stimmt fast alles, vielleicht auch die “Hilflosigkeit”. (Gibt es erlernte Hilflosigkeit auch bei Organisationen?) Aber die “Unwissenheit” wurde von zu vielen Arbeitgebern geradezu proaktiv gepflegt. Mitarbeiter und Betriebsräte, die auf das Thema aufmerksam machten, wurden unter Druck gesetzt. Dokumentiert wird die Absichtlichkeit des Unwissens der Arbeitgeber einfach dadurch, dass die Gewerkschaften das Thema schon vor Jahren aufgriffen. Das ist gut dokumentiert. Die Arbeitgeber wussten, was sie taten und was sie unterließen: Tausendmal diskutiert, und doch ist nichts passiert.
Sehr gut ist, dass die Arbeitsministerin strengere Gesetze nicht für nötig hält. Strengere Gesetze wären meiner Ansicht nach sogar schädlich. Aber Arbeitgeber, die ohne einen ausreichenden Arbeitsschutz die Gesundheit ihrer Mitarbeiter riskieren, müssen leichte in Haftung genommen werden können.
Woran wir uns wieder gewöhnen müssen, ist ein Rechtsstaat, in dem Unternehmen geltene Schutzgesetze zu beachten haben und in dem Aufsichtbehörden diese Schutzgesetzen durchsetzen können und dürfen. Dabei gibt es häufig noch ein Problem: Manche Arbeitgeber schaffen es gerade noch, Betriebsräte “einzubeziehen”, das Wort “Mitbestimmung” fehlt dann häufig sogar schon in ihrem Vokabular. Das behindert die Umsetzung der als Rahmenbestimmungen formulierten Regeln des Arbeitsschutzes. Betriebsräte bestimmen mit. Es herrscht sogar Mitbestimmungspflicht! Es geht also nicht nur um mehr Respekt vor Schutzgesetzen, sondern auch um das Betriebsverfassungsgesetz und um die Förderung der Betriebsräte beim Aufbau der für ihre Aufgaben erforderlichen Kompetenzen.
Komplettes Interview: http://www.bmas.de/DE/Service/Presse/Interviews/interview-vdl-saarbruecker-zeitung-2011_12_27.html
 
Anmerkung: In der Süddeutschen Zeitung wurde im Oktober eine vermeintlich hysterische Verwendung des Begriffes “Burn-out” kritisiert. Die nüchtern geschriebene Meldung der Saarbrückener Zeitung gaben die Süddeutschen unter dem Titel “Von der Leyen plant Burn-out-Gipfel” wieder.

Wir brauchen keine neuen Gesetze

http://www.focus.de/finanzen/karriere/psychiater-mathias-berger-gewerbeaufsicht-soll-gegen-burn-out-einschreiten_aid_695332.html

Psychiater Mathias Berger: Gewerbeaufsicht soll gegen Burn-out einschreiten
Sonntag, 18.12.2011, 17:21
Unfallschutz im Betrieb ist Pflicht. Zum Schutz vor psychischen Erkrankungen aber gibt es keine Regeln. Das muss sich ändern, fordert der Freiburger Psychiatrieprofessor Mathias Berger im Gespräch mit FOCUS.
Berger forderte die Politik auf, einzugreifen. Gewerbeaufsicht und Betriebsärzte müssten die Möglichkeit haben, in Betrieben Risiken für so genanntes Burn-out abzustellen.
Deutschland brauche eine Regelung, die klarstelle, dass Arbeitgebern die Fürsorgepflicht auch im Falle psychischer Belastung obliege, sagte der Leiter der Freiburger Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie dem FOCUS.

Das ist (trotz guter Absicht) nicht ganz richtig: Es gibt diese Regeln schon seit vielen Jahren, nämlich u.A. das Arbeitsschutzgesetz. Deswegen haben die Gewerbeaufsicht und die Betriebsärzte längst die Möglichkeit, “in Betrieben Risiken für so genanntes Burn-out abzustellen”. Nur hatten sie in der Vergangenheit von diesen Möglichkeiten nicht ausreichend Gebrauch gemacht. Die Politik muss also nicht mit neuen Gesetzen eingreifen, sondern sie muss z.B. aufhören, die Gewerbeaufsichten zu schwach zu halten und damit eine ernsthafte Umsetzung der Arbeitsschutzgesetzes auszubremsen.
In Deutschland waren es bislang vorwiegend die Betriebsräte, die hier gegen die nachhaltige Missachtung der Pflicht zum Einbezug psychischer Belastungen vorgingen.

Kaum ein Unternehmen handelt

http://www.arbeitssicherheit.de/de/html/nachrichten/anzeigen/696/Burnout/

Stressbedingte Arbeitsausfälle | 07.12.2011
Burnout: Kaum ein Unternehmen handelt
Betrachtet man den Schaden, den Burnout nicht nur Betroffenen, sondern auch den Firmen und der deutschen Wirtschaft verursacht, stellt sich die Frage, warum nicht aktiver gegen die stressbedingte Erkrankung vorgegangen wird. Ein möglicher Grund: Es gibt zu wenig Therapeuten!

Gefahr erkannt, aber nicht gebannt
Da stellt sich die Frage, warum nicht aktiver gegen die psychische Belastung angegangen wird, und zwar dort wo sie ursächlich entsteht: am Arbeitsplatz. Denn für Burnout machen Experten schließlich schlechte Arbeitsbedingungen verantwortlich. Doch die Resonanz ist gering. Einer Studie der EU-Osha zufolge sind zwar vier von fünf europäischen Managern besorgt angesichts des steigenden Stressaufkommens in den Unternehmen. Dagegen unternehmen tun aber nur weniger als ein Drittel der Firmen. Im europaweiten Vergleich schneidet Deutschland schlechter ab. Nur etwa 15 Prozent der Firmen sind in Sachen Burnout aktiv, in Europa immerhin 26 Prozent im Schnitt.

Unternehmen stehen in der Pflicht
Unterdessen empfiehlt die Prüfgesellschaft Dekra, dass Unternehmen stärker gegen eine stressbedingte Belastung am Arbeitsplatz vorgehen. Denn das Krankheitsbild de Burnouts entwickle sich zunehmend zum »modernen Arbeitsunfall«. Betriebe schenkten der Gesundheitsprävention ihrer Angestellten einfach zu wenig Aufmerksamkeit.

Hervorhebung nachträglich eingefügt
In dem Artikel wird die Kritik an mangelnder Verhältnisprävention mit mangelnder Patienten-Versorgung vermischt. Und Burnout wird wieder als Krankheit dargestellt, dabei sind in der Regel die daraus resultierenden Depressionen die Krankheit. Aber leider findet das Thema anscheinend nur dann Aufmerksamkeit, wenn “Burnout” gerufen wird.
Im Kern trifft der Artikel den Punkt: Die große Mehrheit der Unternehmen ignoriert ihre Pflichten. Wenn man die Verantwortlichen daraufhin anspricht, reagieren sie auch noch beleidigt oder lenken vom Problem mit Wohltaten irgend eines auf Vorzeigbarkeit hingetrimmten “Gesundheitsmanagements” ab, die nichts mit der vorgeschriebenen Verhältnisprävention zu tun haben. Die betreffenden Unternehmen scheinen sich das leisten zu können, obwohl ihre Missachtung des ganzheitlichen Arbeitsschutzes eindeutiger belegbar ist, als ein in vielen Fällen (jedoch nicht in allen Fällen) bestehender Zusammenhang zwischen psychischer Fehlbelastung und Erkrankung. Anscheinend ist der Verstoß gegen die Regeln eines vollständigen Arbeitsschutzes bei den heutigen Möglichkeiten von Unternehmen, ziemlich unbehelligt Recht zu brechen, nicht aufsehenerregend genug, um in den Medien so häufig thematisiert zu werden, wie die unüberraschenden Folgen des Rechtsbruchs, der “Burnout”.

Missachtung des Arbeitsschutzgesetzes in Saarbrücken

SaarbrückerZeitung, Gregor Haschnik
http://www.saarbruecker-zeitung.de/aufmacher/Saarbruecken-Verdi-Belastung-Druck-Stress;art27856,4006083

… Es werde viel über Burnout geredet, aber fast nichts getan: „Die Fälle häufen sich. Doch statt mehr Personal einzustellen und die Zielvorgaben zu senken, machen viele Führungskräfte private Probleme ihrer Mitarbeiter für deren Erschöpfung verantwortlich.“
Die Arbeitskammer (AK) hat in ihrem Betriebsbarometer kürzlich alarmierende Ergebnisse veröffentlicht. 231 Mitarbeitervertreter, die 90 000 Beschäftigte repräsentieren, nahmen an der Befragung teil. Demnach stuften 72 Prozent der Befragten den Leistungsdruck als hoch oder sehr hoch ein. Nur rund 14 Prozent der Arbeitgeber untersuchten die psychische Belastung ihrer Arbeitnehmer vollständig, 29 Prozent teilweise, der Rest gar nicht. …

Diesen Rechtsbruch lassen auch die Aufsichtsbehörden in Saarbrücken 15 Jahre nach Einführung des Arbeitsschutzgesetzes immer noch zu.

Vorzeitiger unfreiwilliger Ruhestand

http://www.sueddeutsche.de/karriere/
vorzeitiger-unfreiwilliger-ruhestand-aufhoeren-weil-die-seele-leidet-1.1165601

Aufhören, weil die Seele leidet
16.10.2011, 17:23
Von Thomas Öchsner
Psychische Erkrankungen sind mittlerweile der Hauptgrund für den unfreiwilligen Vorruhestand – und der kommt immer früher: Wer vor 30 Jahren vorzeitig aus dem Berufsleben ausscheiden musste, war im Durchschnitt 56 Jahre alt. Heute sind vor allem diejenigen, die wegen seelischer Leiden aufhören, wesentlich jünger. Das hat mehrere Gründe. …

Auf Seite 4 (SZ 2011-10-17) gab es dann von “tö” den Kommentar “Wenn Arbeit krank macht”. Der Kommentarschreiber liest anscheinend seine eigene Zeitung nicht. Und er suchte auch nicht in ihrem Archiv: “Wenn Arbeit krank macht” war an gleicher Stelle schon einmal der Titel eines Kommentars, und zwar in der SZ 2010-08-13.
“tö” fragt: “Was zu tun ist?”. Seine Antworten: “Arbeitnehmer müssen lernen, an sich selbst keine überzogenen Ansprüche zu stellen, und die Arbeitgeber dürfen ihre Untergebenen nicht als moderne Arbeitssklaven behandeln …”
Davon, dass diese beiden (die Situation nicht ganz nicht falsch, aber auch nicht ausreichend beschreibenden) Klischees wiedergekäut werden, werden sie auch nicht hilfreicher. Sie lenken von einem ganz anderen Problem ab: Wieso kommt der Kommentator nicht auf die Idee, zu fragen, ob überhaupt ehrlich und diszipliniert gefragt wird, “was zu tun ist”? Einiges, was zu tun ist, ist nämlich seit vielen Jahren vorgeschrieben, wird aber nicht getan. Je nach Quelle kann man erfahren, dass seit Jahren 16% bis (sehr optimistisch geschätzt) 50% der Unternehmer psychisch wirksame Belastungen nicht in die vorgeschriebenen Gefährdungsbeurteilungen mit einbeziehen. Seit spätestens 2004 verstößt die Mehrheit der Unternehmen gegen die Vorschriften des Arbeitsschutzgesetzes und die dazu gehörnden Urteile. Was wäre dagegen zu tun? Aufsicht! Und dass es an Aufsicht fehlt, sollte bei der SZ inzwischen auch bekannt sein.
Wenn die Leute locker bei Rot über die Ampel fahren dürften, würde sich sich doch auch niemand wundern, wenn mehr Verkehrsunfälle passieren. Es kann da doch keine allzu große geistige Herausforderung sein, zu fragen, wie sich der gewohnheitsmäßige Verstoß gegen die Pflicht der Arbeitgeber zum Einbezug psychisch wirksamer Belastungen in den Arbeitsschutz (schon ganz am Anfang, also beim Fragen nach Gefährdungen) auf psychische Erkrankungen auswirkt.
SZ 2010-08-13, S. 4:

… Die Vorbehalte [der Firmen] gegenüber guter Prävention zeigen auch wieder, dass die Pläne von Gesundheitsminister Philipp Rösler [(damals war er das noch)] falsch sind, den Arbeitgeberanteil am Krankenkassenbeitrag einzufrieren. Damit würden künftig die Arbeitnehmer alleine dafür zahlen, dass Firmen durch schlechte Vorsorge die Gesundheit ihrer Belegschaft gefährden.

 



http://www.tagesschau.de/inland/fruehrente100.html

Zahlen im vergangenen Jahr laut Zeitung angestiegen
Psychische Erkrankungen häufiger Grund für Frührente
Die Zahl der Arbeitnehmer, die wegen einer psychischen Erkrankung vorzeitig in Rente, ist im vergangenen Jahr gestiegen. Das berichtet die “Süddeutsche Zeitung” unter Berufung auf neue Zahlen der Deutschen Rentenversicherung.
Demnach mussten sich im Jahr 2010 bundesweit fast 71.000 Frauen und Männer wegen seelischer Störungen vor Erreichen der Altersgrenze von 65 Jahren in den Ruhestand verabschieden. 2009 waren es noch knapp 64.500 gewesen. …

 


Abendzeitung München / dpa:
http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.rente-mit-depression-still-und-heimlich-in-die-fruehverrentung.c4d6a420-17fd-4ca7-878e-15e61e25d746.html

Mit Depression still und heimlich in die Frühverrentung
… Burnout ist kein neues Phänomen, aber es breitet sich aus wie ein Ölfleck auf dem Wasser. Die internationalen Konzern-Verflechtungen bei zunehmendem Konkurrenzdruck führen zu höheren Anforderungen an die Arbeitnehmer. Dabei spielen individuelle Fähigkeiten auch eine wichtige Rolle: Manche sind stress-resistenter als andere, die dann auch früher ans Limit kommen.
Um die fatale Entwicklung zu bremsen, muss nach Überzeugung aller Experten in den Betrieben vorbeugend gegengesteuert werden: Das Bundesgesundheitsministerium will dazu in Zusammenarbeit mit Firmen demnächst ein Stressabbauprogramm für Beschäftigte auflegen. …

Nicht falsch, aber nur die halbe Wahrheit. Warum weist die DPA auf die Bedeutung der individuellen Resilienz hin ohne auch die einfach nachprüfbare Missachtung der Arbeitsschutzregeln durch die Mehrheit der Unternehmen zu erwähnen? Warum will das Bundesgesundheitsministerium ein Stressabbauprogramm auflegen anstatt die Unternehmen endlich durch gründliche Gewerbeaufsicht zur Einhaltung bereits bestehender Vorschriften bewegen?
Die gute Nachricht: Wie man es richtig macht, zeigte jüngstens (entgegen meinen eigenen Vorurteilen) ausgerechnet eine CSU-Landesministerin. Und bereits im Jahr 2009 bohrte (entgegen meinen weiteren Vorurteilen) die FDP in Berlin an den richtigen Stellen nach. Hier sind ein paar Politiker der Presse voraus.

IG Metall warnt vor Folgen zunehmender psychischer Erkrankungen in den Betrieben

http://www.igmetall.de/cps/rde/xchg/internet/style.xsl/6763-8555.htm

Pressemitteilung Nr. 41/2011
IG Metall warnt vor Folgen zunehmender psychischer Erkrankungen in den Betrieben
27.09.2011
Berlin – Die IG Metall hat vor den Folgen zunehmender psychischer Erkrankungen in der Arbeitswelt gewarnt und von Arbeitgebern und Politik mehr Bereitschaft zur Prävention gefordert. “Mit der rasanten Zunahme von arbeitsbedingtem Stress und psychischer Erkrankungen tickt eine gesellschaftliche Zeitbombe”, sagte Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall am Dienstag in Berlin. Stress und Burnout hätten längst in Werkstätten, Fabrikhallen und Büros in einem Tempo und einem Ausmaß um sich gegrifen, dass es fahrlässig sei, diese Problem unter ferner liefen zu behandeln. “Wir wollen alle Akteure, die zur Bewältigung dieses Problems beitragen können, aufrütteln”, betonte Urban.
Der Gewerkschafter verwies auf die Ergebnisse einer Umfrage unter Betriebsräten. Danach wird von 86 Prozent der Befragten der Anstieg psychischer Erkrankungen in den Betrieben als ernst zu nehmendes Problem wahrgenommen. Rund 40 Prozent der Betriebsräte geben an, dass psychische Erkrankungen stark bzw. sehr stark im Unternehmen zugenommen haben. Insgesamt 68 Prozent der Betriebsräte geben an, dass arbeitsbedingter Stress und Leistungsdruck in den Unternehmen besonders seit der Krise erheblich gestiegen sind.
Urban stellte eine eklatante Diskrepanz zwischen öffentlicher Wahrnehmung des Problems und den tatsächlichen Hilfs- und Präventionsangeboten in den Betrieben fest. In 43 Prozent der Betriebe gab es keine Hilfen und in 26 Prozent zu wenige Hilfen für Burnout-Betroffene. Insgesamt 73 Prozent der Betriebsräte sind der Meinung, dass in den Betrieben mehr für den Gesundheitsschutz getan werden müsste.
Der Sozialexperte kündigte an, die IG Metall werde arbeitsbedingten Stress und seine gesundheitlichen Folgen zum Thema in den Betrieben und gegenüber der Politik machen. “Gesundheit darf nicht hinter betriebswirtschaftlichen Erfolgszahlen und der Wettbewerbsfähigkeit zurückstehen”, kritisierte Urban. Arbeitgeber müssten mehr in den Gesundheitsschutz investieren.
Die IG Metall wolle die Betriebsräte beim Thema psychische Erkrankungen, wie Burnout, stärker unterstützen. Urban stellte die Arbeitshilfe “Burnout. Betriebsräte als Lotsen für Burnout-Betroffene” vor.
Der Gewerkschafter kritisierte, dass bei Gesundheitsgefahren durch arbeitsbedingten Stress und psychische Belastungen eine eklatante Schutzlücke bestehe, die dringend geschlossen werden müsse. “Bei allen klassischen Gesundheitsgefährdungen wie Gefahrstoffe und Lärm gibt es konkrete Präventionsregeln. Bei arbeitsbedingtem Stress: Fehlanzeige”, kritisierte Urban. Hier müsse endlich mit einer Anti-Stress-Verordnung nachgebessert werden.

 
Die “Anti-Stress-Verordnung” gibt es doch schon seit langer Zeit: Arbeitsschutzgesetz (1996) und BAG-Beschlüsse (2004). Und die Bildschirmarbeitsverordnung ist derart konkret, dass die Stoiber-Kommission sie loswerden will. Wie so oft, mangelt es heute nicht an Gesetzen, sondern an deren Durchsetzung. Ansonsten stimmt Vieles in der Pressemeldung der IG-Metall, aber bitte besser fragen! Fragt die Betriebsräte bei solchen Blitzumfragen:

  • Gibt es in Euren Betrieben Gefährdungsbeurteilungen, in die psychisch wirksame Belastungen einbezogen sind?
  • Wenn ja, habt Ihr das mit einer Betriebsvereinbarung geregelt?

Mit diesen Fragen kann man ganz leicht harte Tatsachen ermitteln, die sich nicht so leicht wegdiskutieren lassen wie das Stimmungsbild, das Ihr hier wiedergebt. Nicht das Fehlen einer “Anti-Stress-Verordnung” ist das Problem, sondern die mangelhafte Aufsicht durch die Behörden. Auch fehlt Arbeitgebern oft der Respekt vor der Mitbestimmungsplicht der Betriebsräte.
Siehe auch: http://blog.psybel.de/kategorie/statistik/ (darin speziell: http://blog.psybel.de/ganzheitlicher-arbeitsschutz-nur-bei-16prozent-der-betriebe/)
 
PS: Es mag überraschen, aber ausgerechnet bei der FDP fand ich ein Beispiel für gute Fragen.
 


2011-10-14: Andere Meinung zur Regelungslücke: http://blog.psybel.de/regelungsluecke-psychische-belastungen-schliessen/

Zu viele Organisationen drücken sich vor dem Arbeitsschutz

http://www.sapler.igm.de/news/meldung.html?id=45990

19.07.2011 Prof. Dr. Jochen Prümper ist Wirtschafts- und Organisationspsychologe. Er nimmt Stellung zum Thema Stress in der Arbeitswelt und den Möglichkeiten, diesem nachhaltig entgegen zu treten.

Wie sieht die Situation, der Umgang mit Arbeits- und Gesundheitsschutz in der betrieblichen Praxis aus?
Prümper: Die Situation in der betrieblichen Praxis ist sehr unterschiedlich. Auf der einen Seite gibt es eine Reihe von Unternehmen, öffentlichen Verwaltungen und Non-Profit-Organisationen, die die Bedeutung des Themas Arbeits- und Gesundheitsschutz verstanden haben, sehr ernst nehmen, und in denen die Geschäftsführung zusammen mit dem Betriebs- oder Personalrat gemeinsam, proaktiv und mit Hilfe professioneller Unterstützung ein systematisches betriebliches Gesundheitsmanagement aufgebaut haben. Viele gehen dabei auch weit über die gesetzlichen Verpflichtungen zum Arbeitsschutz hinaus, weil sie begriffen haben, dass – neben der betrieblichen Gesundheitsförderung im engeren Sinne – eine Verbesserung der Führungskultur, bessere Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf und eben auch die Gestaltung alternsgerechter Arbeit sowohl die Gesundheit und Motivation nachhaltig fördert, als auch die Produktivität, Produkt- und Dienstleistungsqualität und Innovationsfähigkeit des Unternehmens erhöht.
Sie sagten “Auf der einen Seite …” Gibt es noch eine andere Seite?
Prümper: Leider ja. Es gibt noch viel zu viele Organisationen, die sich bei dem Thema Arbeits- und Gesundheitsschutz zum “Jagen tragen lassen”, die sich viel zu wenig um die Gesundheit ihrer Beschäftigten sorgen und die sich sogar davor drücken, ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Umsetzung des Arbeitsschutzgesetzes nachzukommen. Die entsprechenden Entscheidungsträger handeln in meinen Augen nicht nur grob fahrlässig, weil sie es versäumen, ihrer Fürsorgepflicht nachzukommen und für das Wohlergehen ihrer Beschäftigten Sorge zu tragen, sondern sie stellen auch leichtfertig – gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und des sich abzeichnenden Fachkräftemangels – die Existenz ihrer Unternehmen aufs Spiel.

(Hervorhebung nachträglich eingefügt)


Spielten psychische Erkrankungen schon immer eine solch schwerwiegende Rolle, oder ging der heutigen Situation eine Entwicklung voraus?
Prümper: Die Ergebnisse einer Studie des Landesinstituts für Gesundheit und Arbeit des Landes NRW zeigen, dass für die Beschäftigten heutzutage vor allem psychische Belastungen, wie hoher Zeitdruck, hohe Verantwortung und die zu leistende Arbeitsmenge, eine bedeutsame Rolle spielen. Hinzu kommen Belastungen durch Umstrukturierungsmaßnahmen und die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Körperlich belastend werden insbesondere Zwangshaltungen, Lärm und die klimatischen Bedingungen am Arbeitsplatz empfunden. Im Längsschnitt zeigt sich, dass in den letzten Jahren besonders deutliche Zunahmen in den Belastungseinschätzungen bezüglich der Faktoren hoher Zeitdruck und Überforderung durch die Arbeitsmenge zu verzeichnen ist. Damit hat sich in den letzten Jahren insbesondere das psychische Belastungsniveau ständig erhöht, der Leistungsdruck am Arbeitsplatz ist immer stärker geworden. Entsprechend lassen sich Trends im Beanspruchungserleben aufzeigen.

  • Der Anteil Beschäftigter, die angaben, unter Erschöpfung zu leiden, stieg von 28 % im Jahr 1999 auf 48 % im Jahr 2008,
  • und der Anteil derer, die angaben, nicht abschalten zu können von 23 % im Jahr 1999 auf 47 % im Jahr 2008.
  • Nach einer aktuellen Studie der AOK sind Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen seit 1999 um nahezu 80 % angestiegen.
  • Und diese führen zu langen Ausfallzeiten: Mit 23,4 Tagen je Fall dauern psychische Erkrankungen doppelt so lange wie der Durchschnitt mit 11,6 Tagen – Tendenz steigend.
  • Und dieser Trend geht weiter: Nach dem aktuellen Gesundheitsbericht der DAK nahm der Anteil der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen im vergangenen Jahr erneut zu. Ihr Anteil am Krankenstand lag im vergangenen Jahr bereits bei 12,1 % aller Fehltage.
  • Psychische Erkrankungen bilden damit heutzutage die viert wichtigste Krankheitsgruppe, Anfang der Neunzigerjahre nahmen sie gerade einmal den siebten Rang ein und waren vorher nahezu bedeutungslos.

(nachträgliche Layoutänderungen im Zitat)
Zitiert habe ich Prof. Prümper von einer Seite der IG-Metall. Man kann es sich nun leicht machen und ihn in die Gewerkschaftsschublade einordnen. Wie seine Kritik am DGB-INDEX “Gute Arbeit” zeigt, gehört er aber in diese Schublade nicht hinein.
Dass bisher die Mehrheit der Unternehmen die Vorschriften des Arbeitsschutzes missachten durfte, ist offensichtlich: http://blog.psybel.de/stichwort/keine-gb/.