"Fürsorgliche Gespräche" bei Bosch

In der metallzeitung vom August 2016 der IGM (https://www.igmetall.de/20160728_metall_08_2016_11dc5f0494d262cc9d8864166080a4c86870f4ee.pdf) berichtet Jan Chaberny auf Seite 8 über die Vergabe des Betriebsrätepreises 2016. Auch der Gesamtbetriebsrat von Bosch wurde nominiert. Es geht um zwei Gesamtbetriebsvereinbarungen (GBVs):

  • Ganzheitliche Gefährdungsbeurteilung
  • Psychische Gesundheit

[…] Hervorzuheben ist vor allem der Abschluss der Gesamtbetriebsvereinbarung
»Psychische Gesundheit«. In der Vereinbarung wird betont, dass psychische Erkrankungen kein Makel sind und dass Geschäftsführung und Arbeitnehmervertretungen Betroffene gemeinsamdazu ermutigen, sich in sogenannten »fürsorglichen Gesprächen« ihrer Führungskraft anzuvertrauen. »Ziel dieser Gespräche ist, die Belastungen und deren Ursachen zu erkennen und den Betroffenen Hilfe anzubieten«, sagt der Nürnberger Betriebsratsvorsitzende Ludwig Neusinger, der die Vereinbarungmit ausgehandelt hat. […]

Was ist denn daran “hervorzuheben”? Bosch wollte doch immer schon hin zu einem individualpsycholigisch und verhaltenspräventiv orientierten Gesundheitsmanagement, das in das persönliche Seelenleben hilfsbedürftiger Mitarbeiter eindringt. Damit kann der Arbeitgeber zu leicht Gründe für eine verhaltensbedingte Kündigung sammeln, denn die Führungskraft, an die sich Mitarbeiter wenden können, ist im Konfliktfall weder Vater noch Mutter. Bei der eher sozial- und organisationspsychologisch orientierten verhältnispräventiven Beurteilung der Arbeitsplätze lässt sich Bosch nur alle drei Jahre in die Karten gucken. Darauf kann ein Betriebsrat nicht stolz sein.
Ludwig Neusinger, BR-Vorsitzender, Robert Bosch GmbH (http://betriebsraetetag.de/programm/wir-fuer-psychische-gesundheit-bei-bosch.html):

Mit den beiden Gesamtbetriebsvereinbarungen „Ganzheitliche Gefährdungsbeurteilung“ und „Psychische Gesundheit“ ist dem Gesamtbetriebsrat der Robert Bosch GmbH der große Wurf gelungen: Mit der „Psychischen Gesundheit“ bekennen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretungen gemeinsam dazu, dass das Erkennen von psychischen Belastungen, Gefährdungen und Erkrankungen und Gegenmaßnahmen zur deren Beseitigung eine Führungsaufgabe ist. Hauptaugenmerk liegt auf dem optimalen Schutz der Beschäftigten in Fertigung, Forschung und Entwicklung und in der Verwaltung mit dem Ziel, den Beschäftigten konkrete Hilfen anzubieten. Die GBV regelt das Verfahren und die Verantwortlichkeiten. Die Umsetzung der beiden Gesamtbetriebsvereinbarungen wird begleitet von einer Informationskampagne des Gesamtbetriebsrates und der lokalen Arbeitnehmervertretungen Richtung Beschäftigte und mit Schulung der Führungskräfte. […]

Richtig wäre: »Mit der „Ganzheitlichen Gefährdungsbeurteilung“ bekennen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretungen gemeinsam dazu, dass das Erkennen von psychischen Belastungen, Gefährdungen und Erkrankungen und Gegenmaßnahmen zur deren Beseitigung eine Führungsaufgabe ist.« Vor allem entspräche das der vorgeschriebenen Umsetzung des Arbeitsschutzgesetzes.
Ein großer Wurf sieht anders aus. Der Gefährdungsbeurteilung widmet der GBR-Vorsitzende keinen Kommentar, obwohl genau da in Deutschland der größte Nachbesserungsbedarf besteht. Die ganzheitliche Gefährdungsbeurteilung könnte der Bosch-GBR stolz hervorheben, wenn darin der in vielen Bosch-Betrieben geltende Standard OHSAS 18001 für Arbeitsschutzmanagementsysteme eingeflossen wäre. Das wäre ungewöhnlich, denn nur wenige Betriebsräte nehmen die Standards für Arbeitsschutzmanagementsysteme, nach denen ihre Betriebe zunehmend häufiger zertifiziert sind, genügend ernst. Die Vernachlässigung der disziplinierten Anwendung von Arbeitsschutz-Standards ist ein Fehler, den Betriebsräte viel zu häufig begehen – und dann noch stolz darauf sind. Die Kenntnis und Nutzung der Maßstäbe, auf die sich der Bosch selbst verpflichtet hat, hätte besonders bei der für eine ordentliche Gefährdungsbeurteilung erforderliche Regelung der Vorfallserfassung und Vorfallsanalyse viel Klärungsbedarf bei Verhandlungen zur Betriebsvereinbarung vermieden.
Aus dem Arbeitsschutzgesetz ergibt sich, dass individuelle Maßnahmen nachrangig zu allen anderen Maßnahmen sind. Die Verhältnisprävention hat Vorrang vor einer “fürsorglichen” Verhaltensprävention, weil sich mit letzterer “psychische Auffälligkeiten” von Mitarbeitern zu leicht individualisieren lassen. Aus meiner Sicht wurde der Bosch GBR hier vom Arbeitgeber in die falsche Richtung gelockt und verdient keinen Preis dafür. Noch habe ich aber die beiden Betriebsvereibarungen nicht gesehen und kann mir darum noch kein ausreichend fundiertes Urteil bilden.

Missbrauch des Datenschutzes

Es gibt noch einen Grund, der Arbeitgeber motivieren könnte, anstelle des im Arbeitsschutzgesetz geforderten verhältnispräventiven Vorgehens ein verhaltensorientiertes Vorgehen zu bevorzugen: Bei der nur auf den ersten Blick fürsorglich aussehenden verhaltenspräventiven Zuwendung zu einzelnen Mitarbeitern kann eine Dokumentation persönlicher Daten entstehen, also auch individueller medizinischer Daten. Das können Arbeitgeber dazu missbrauchen, die Transparenz von Gefährdungsbeurteilungen und Vorfallsuntersuchungen einzuschränken. Damit kann dann auch die Arbeit von Betriebstäten bzw. Personalräten erschwert werden.
Der sicherste Datenschutz ist die Vermeidung sensibler Daten.

INSITE interventions

INSITE Interventions ist eines von jenen bei Arbeitgebern beliebten Beratungsunternehmen, die verhaltenspräventiv arbeiten. Die Verhaltensprävention setzt im Bereich der arbeitsbedingten psychischen Belastungen im Wesentlichen am individuellen Verhalten der einzelnen Mitarbeiter an. Stichworte: Stressmanagement, Resilienz, Eigenverantwortung usw.
Die Mitarbeiter werden in die Verantwortung für ihre eigene Gesundheit genommen – allerdings von Arbeitgebern, deren ganz große Mehrheit bis 2012 ihrer eigenen Verantwortung nicht gerecht wurde, die von ihnen im ganzheitlichen Arbeitsschutz seit 1997 geforderte Verhältnisprävention umzusetzen. Unsere Rechtskultur ist inzwischen so weit, dass Unternehmer, die ein Schutzgesetz für falsch halten, ganz locker dagegen verstoßen können. Anstatt ihre Ressourcen in die Erfüllung ihrer Pflichten zu stecken, konzentrieren sie sich auf angenehmere Kür: Lieber betreiben die Arbeitgeber mit viel Werbegetrommel ihr Vorzeige-Gesundheitsmanagement, anstatt die Arbeitsverhältnisse durch die vorgeschriebene Gefährdungsbeurteilung auch psychischer Belastungen transparent zu machen. Lieber wenden sie sich der fürsorglichen Belagerung “psychisch auffälliger” Mitarbeiter zu, anstatt mit der Dokumentation auffälligre Arbeitsbedingungen ihre Berichterstattung zur Corporate Social Responsibility (CSR) zu belasten.
Anlässlich der Verleihung des Corporate Health Awards 2015 hielt Dr. Hansjörg Becker einen Vortrag, in dem es um den aus Dr. Beckers Sicht übertriebenen Aufwand für die Gefährdungsbeurteilung sowie um die angeblichen Vorzüge der Verhaltensprävention gegenüber der Verhältnisprävention ging. Bei genauerem Hinsehen gewinnt in dem Vortrag aber die Verhältnisprävention.
Betriebsräte in Unternehmen, die sich von INSITE Interventions beraten lassen und/oder den/das EAP (Employee Assistance Plan, Employee Assistance Program) von INSITE Interventions nutzen, sollten einen eigenen Organisationspsychologen als Berater hinzuziehen, damit die gesetzliche Prioritäten des Arbeitsschutzes besser beachtet werden können.
Es ist doch klar, dass Verhältnisprävention und die Gefährdungsbeurteilung nicht helfen, wenn die Unternehmen unter den Augen der Gewerbeaufsicht der Verhaltensprävention den Vorzug geben und die Beurteilung psychischer Belastungen nicht vorschriftsmäßig durchführen. Sie haben ja von der Gewerbeaufsicht keine schmerzhaften Sanktionen zu befürchten. Bei diesen anarchischen Zuständen im deutschen Arbeits- und Gesundheitsschutz ist es kein Wunder, dass auch in fast 20 Jahren seit Bestehen des ganzheitlich und verhältnispräventiv orientierten Arbeitsschutzgesetzes nur wenig Erfahrungen mit der Beurteilung psychischer Belastungen und mit der Verhältnisprävention generiert werden konnten. Den von den Unternehmern zu verantwortenden Mangel an verhältnispräventiver Praxis zur Argumentation gegen die Verhältnisprävention und gegen die Wichtigkeit der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen zu verwenden, ist nicht seriös.
Gefährdungsbeurteilung dokumentiert mögliche Haftungsgründe
Die Gefährdungsbeurteilung birgt Risiken für Arbeitgeber. Die Arbeitgeber mögen die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen wohl auch deswegen nicht so sehr, weil sie mögliche Haftungsgründe dokumentieren könnte. Wird ein Mitarbeiter physisch oder psychisch so verletzt (z.B. Arbeitsunfall oder arbeitsbedingte psychische Erkrankung), kann er Ansprüche zwar grundsätzlich nur gegenüber der Berufsgenossenschaft geltend machen, aber das hat auch nachteilige Auswirkungen auf den Arbeitgeber.
Psychische Fehlbelastungen sind ein so angenehm unscharfes Thema; ohne Dokumentation bleibt für arbeitsbedingt psychische erkrankte Mitarbeiter die Beweisführung bei der Berufsgenossenschaft und vor Gericht extrem schwierig. Konkret dokumentierte psychische Fehlbelastungen sind den Arbeitgebern aus haftungsrechtlichen Gründen darum eher unangenehm, unsbesondere wenn er sie hätte abstellen müssen. Als Argument gegen die Gefährdungsbeurteilung werden Arbeitgeber das aber nicht offen ins Feld führen.
Lieber werden Arbeitgeber mit wissenschaftlich aussehenden Argumenten versuchen, die Dokumentation (und ggf. auch die Vorfallserfassung) von psychischen Fehlbelastungen zu marginalisieren. Das Mittel dazu sind Ausweichstrategien, mit denen sich Arbeitgeber zur Vermeidung einer ihnen unangenehmen Verhältnisprävention scheinbar menschenfreundlich dem einzelnen Mitarbeiter zuwenden. Ein EAP ist sinnvoll und hilfreich, aber wenn es als Arbeitsschutzmaßnahme der ersten Wahl verkauft wird, müssen Betriebsräte hier besonders aufmerksam die Einhaltung des Arbeitsschutzgesetzes überwachen und eine fürsorgliche Belagerung der Mitarbeiter verhindern (Die Gewerbeaufsicht wird dabei wenig helfen, denn sie lässt sich zu leicht verhaltenspräventiven Projekten des Gesundheitsmanagements beeindrucken.) Dabei haben Betriebsräte einen Anspruch auf einen ihre Interessen vertretende Beratung.

Fürsorgliche Belagerung bei Bosch

Die folgende Pressemeldung zeigt, wie man unter der Flagge der “Enttabuisierung” die Tabuisierung gerade fördert. Die verhaltenspräventive, persönliche und vertrauliche Zuwendung zu einzelnen Mitarbeitern sieht auf den ersten Blick zwar gut aus, aber ohne einen primär verhältnisorientierten Arbeitsschutz haben wir hier wieder ein Beispiel für eine verhaltensorientierte “fürsorgliche Belagerung” individueller Mitarbeiter anstelle des vorgeschriebenen verhältnispräventiven Fokus auf die Arbeitsbedingungen.
http://www.bosch-presse.de/presseforum/details.htm?txtID=7308&locale=de

Ausbau der flexiblen Arbeitskultur
Bosch fördert psychische Gesundheit der Mitarbeiter

  • Gesamtbetriebsvereinbarung zur Förderung der psychischen Gesundheit
  • Gesundheitsförderung als Bestandteil einer flexiblen Arbeitskultur
  • Personalchef Kübel: „Psychische Fehlbelastungen erkennen und vermeiden“
  • Konzernbetriebsratschef Löckle: „Handeln, bevor es zu spät ist“

Pressetext

Stuttgart – Bosch erweitert seine flexible Arbeitskultur um einen Gesundheitsbaustein: Das Technologie- und Dienstleistungsunternehmen verpflichtet sich, insbesondere die psychische Gesundheit seiner Beschäftigten zu erhalten und zu fördern. Zusammen mit den Arbeitnehmervertretern erarbeitete Bosch eine entsprechende Gesamtbetriebsvereinbarung für seine Standorte in Deutschland. Die Vereinbarung soll ab 1. August 2015 gelten. Sie sieht vor, dass zusätzliche Präventions-, Rehabilitations- und Integrationsmaßnahmen das betriebliche Gesundheitsmanagement ergänzen. Ziel ist es, psychische Belastungen frühzeitig zu erkennen, Mitarbeiter und Führungskräfte dafür zu sensibilisieren sowie integrierte Hilfsangebote bereitzustellen. Die Vereinbarung soll zu einem offeneren Umgang mit dem Thema psychische Gesundheit innerhalb der Belegschaft beitragen. Belastungssituationen können sowohl durch Ursachen im privaten als auch im beruflichen Umfeld entstehen, wirken sich aber oftmals am Arbeitsplatz aus. Daher sieht das Unternehmen in den neuen Regelungen auch einen Beitrag zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben.
Gesundheit fördern, Belastungen vorbeugen
„Gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen erhalten die berufliche Leistungsfähigkeit und stärken auch das private Wohlbefinden“, sagt Christoph Kübel, Geschäftsführer und Arbeitsdirektor der Robert Bosch GmbH, zum Abschluss der neuen Gesamtbetriebsvereinbarung. „Deshalb wollen wir in unserer Belegschaft psychischen Fehlbelastungen vorbeugen und damit untereinander verantwortungsvoll umgehen. Solche Beschwerden sind heute eine Begleiterscheinung der modernen Lebenswelt, werden aber häufig zum Tabu erklärt.“ Es sei wichtig, auch in Unternehmen ein Klima des Verständnisses zu schaffen und offen über das Thema zu sprechen, so Kübel.
Jeder kann Betroffener sein: Aufklären und sensibilisieren
Mit der neuen Vereinbarung ergänzt Bosch sein betriebliches Gesundheitsmanagement insbesondere auf dem Gebiet der Prävention seelischer Beschwerden. Zum Einsatz kommen neue Informationsangebote für Mitarbeiter, wie zum Beispiel Merkblätter, Veranstaltungen, E-Learning-Kurse oder Foren im firmeneigenen Intranet. [Wo bleibt die Gefährdungsbeurteilung?] Führungskräfte erhalten darüber hinaus einen speziellen Handlungsleitfaden, der sie im Umgang mit Betroffenen unterstützt. „Jeder Mensch geht anders mit Druck- und Stresssituationen um. Daher ist es wichtig, sich Belastungssituationen bewusst zu machen und bei Überforderungen gemeinsam mit der Führungskraft Abhilfe zu schaffen“, erklärt Dr. Falko Papenfuß, Leitender Werkarzt bei Bosch. Ein Schulungsangebot für alle Führungskräfte soll daher spätestens 2016 verfügbar sein. „Auf diese Weise wollen wir alle Beschäftigten über Ursachen aufklären, die zu Belastungen führen, die sie negativ beeinflussen oder sogar dauerhaft die Gesundheit beeinträchtigen können.“
Bundesweites Netzwerk: Einfache Kontaktaufnahme
„Vor psychischer Überlastung ist niemand gefeit, sei der Auslöser auferlegter Druck oder Selbstüberforderung“, betont Alfred Löckle, Vorsitzender des Konzernbetriebsrates der Robert Bosch GmbH. „Aber präventive Hilfsangebote müssen von Führungskräften und Mitarbeitern angenommen werden, bevor es zu spät ist. [Niemand hindert den Arbeitgeber daran, die von Arbeitsplätzen ausgehend auf Mitarbeiter wirkenden Fehlbelastungen zu mindern.] Deshalb wollen wir mit dieser Vereinbarung das Stigma des Makels durchbrechen und den offeneren Umgang mit seelischen Belastungen [Arbeitsschutz: Arbeitsbedingte seelische Belastungen sind eine Arbeitsplatzeigenschaft] erleichtern.“ Bosch etabliert dafür ein umfassendes Netzwerk von Ansprechpartnern: Neben den direkten Führungskräften rücken künftig der werkärztliche Dienst, die betrieblichen Sozialberatungen und betriebliche Eingliederungsteams weiter in den Mittelpunkt. [Gibt es bei Bosch keinen Arbeitsschutzbeauftragten?] Außerdem stehen Arbeitnehmervertreter für einen vertraulichen Erstkontakt bereit. [nur Erstkontakt?] Sie werden zusätzlich an jedem Standort als so genannte betriebliche Ansprechpartner geschult [von wem?]. Bei der Rehabilitation und Integration [also wenn die Prävention nicht funktioniert hat] von betroffenen Mitarbeitern werden bestehende Hilfs- und Gesprächsangebote systematisch ausgebaut und vernetzt. [“Angebot?”. Prävention muss proaktiv sein.] Sie sollen Betroffene in schwierigen Belastungssituationen unterstützen und helfen, ihre Leistungsfähigkeit wiederherzustellen. [Arbeitschutzgesetz: Individuelle Maßnahmen sind nachrangig zu allen anderen Maßnahmen.]
Schutz: Anonymität und Privatsphäre wahren
Bei den Vorsorge- und Hilfsangeboten [an Arbeitsplätze?] wurde besonders auf die Einhaltung von Anonymität, Datenschutz und Privatsphäre geachtet. [Wieso? Die Daten zu Gefährdungen sind weder personenbezogen noch vertraulich.] Führungskräfte sind etwa gehalten, nach einem ersten Gespräch mit betroffenen Mitarbeitern die betrieblichen Fachstellen zu empfehlen. Deshalb unterstützen bei Bosch werkärztliche Dienste unter Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht Rehabilitations- und Wiedereingliederungsmaßnahmen [Rehabilitation und Wiedereingliederung fehlbelastender Arbeitsplätze?]. Die vertraulichen Beratungsleistungen erbringen die betrieblichen Sozialberatungen direkt oder zusammen mit externen Fachstellen. Bosch unterhält dazu zahlreiche Kooperations- und Leistungsvereinbarungen mit stationären und ambulanten Einrichtungen oder Trägern des öffentlichen Gesundheitssystems. Zum Beispiel erhalten versicherte Mitarbeiter der Bosch BKK schnellen Zugang zu Fachärzten wie etwa für Neurologie oder Psychosomatik. [Das hat nichts mehr mit dem vorgeschriebenen Arbeitsschutz zu tun.]
Psychische Erkrankungen in Deutschland
[Die Gewerbeaufsichten haben in Deutschland versagt. Ist Bosch zu einflussreich um kritisch geprüft zu werden?] Psychische Belastungen können inner- und außerbetriebliche Ursachen haben, deren Auswirkungen erst am Arbeitsplatz sichtbar werden. In Deutschland werden psychische Belastungen von Arbeitnehmern häufig nicht selbst erkannt, oftmals auch verdrängt oder aus Angst vor beruflichen Nachteilen verschwiegen. [Arbeitsschutzgesetz: Nicht die Arbeitnehmer, sondern die Arbeitgeber sind für die Erkennung verantwortlich.] Auch im Gespräch mit Hausärzten schildern Patienten meistens körperliche Symptome, aber sprechen selten psychische Beschwerden an. In Folge erkranken viele Arbeitnehmer ernsthaft oder fehlen häufiger am Arbeitsplatz. Betroffene sind laut BKK Gesundheitsreport 2014 mit durchschnittlich 40 Tagen länger krankgeschrieben als Arbeitnehmer mit Herz- und Kreislauferkrankungen. Sie fehlen durchschnittlich 22 Tage. Der Stressreport Deutschland 2012 weist darauf hin, dass ein gesundes Führungsverhalten die Mitarbeitergesundheit schützt: Erhalten Arbeitnehmer von ihrem Chef im Alltag Unterstützung, berichten nur 17 Prozent von gesundheitlichen Beschwerden. Erfahren sie hingegen selten oder keine Hilfe, steigt die Anzahl der Erkrankten auf 38 Prozent. Insgesamt sei nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales in Deutschland zwischen 2001 bis 2012 die Zahl der Fehltage wegen psychischer Erkrankungen von etwa 34 auf rund 60 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage gestiegen.
Hintergrundinformation:

Internet:

Video:

Journalistenkontakt:

  • Sven Kahn
    Telefon: +49 711 811-6415

Das Wort “Arbeitsschutz” scheint Bosch nicht gerne zu verwenden. Lieber sprechen die sicherlich sehr professionell arbeitenden Öffentlichkeitsarbeiter von Bosch von einem Gesundheitsmanagement, das um die Förderung der psychischen Gesundheit “erweitert” wird. Dieses Muster werden Sie auch bei vielen anderen Unternehmen finden, die jetzt erst den schon seit einigen Jahren gesetzlich geforderten Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz in der Öffentlichkeit als großen Fortschritt darzustellen versuchen.

[…] In Deutschland werden psychische Belastungen von Arbeitnehmern häufig nicht selbst erkannt, oftmals auch verdrängt oder aus Angst vor beruflichen Nachteilen verschwiegen. […]

Hallo?!
Es geht im Arbeitsschutz “nicht um psychische Belastungen von Arbeitnehmern”, sondern um von Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen ausgehende Fehlbelastungen, die zu psychische Fehlbeanspruchingen von Arbeitnehmern führen. Das ist Grundlagenwissen im Arbeitsschutz, das ansscheinend immer noch nicht bei Bosch angekommen ist.

  1. Gemäß Arbeitsschutzgesetz hat der Arbeitgeber psychische Belastungen zu erkennen und dann zu bewerten, ob das psychische Fehlbelastungen sind! Die Verantwortung dafür darf der Arbeitgeber nicht den Mitarbeitern zuschieben.
  2. Psychische Belastungen sind kein Problem. Aber psychische Fehlbelastung sind ein Problem. Das gehört zu den grundlegensten Kenntnissen im Arbeitsschutz.

Legt es hier wieder ein Arbeitgeber darauf an, dass sich Mitarbeiter überwinden müssen, Fehlbelastungen als persönliche Fehlbeanspruchung (oder als sogar als persönliche Erkrankung) zu behandeln – Freigegeben zum Abschuss nach einer vielleicht später gescheiterten Wiedereingliederung?
Hört es denn nie auf, dass Arbeitgebern es gelingt, für die Erkennung der von seinen Arbeitsplätzen ausgehende Fehlbelastungen die Mitarbeiter verantwortlich zu machen? Und auf der Arbeitnehmerseite: Unterstützen die Gewerkschaften die Betriebsräte nicht ausreichend? Die IGM will eine Anti-Stress-Verordnung haben, aber unterstützt die Betriebsräte nicht ausreichend um die Umsetzung des Arbeitsschutzgesetzes und der Betriebsssicherheitsverordnung sicherstellen zu können. So wurde auch aus der Anti-Stress-Verordnung nur eine weitere Vorschrift werden, die nur auf dem Papier steht.
Bei Bosch wurde wohl nicht verstanden, dass die Beurteilung der psychischen Belastungen, die ausgehend von Arbeitsplätzen auf die Mitarbeiter wirken, überhaupt kein “Stigma” ist. Im Arbeitsschutz sind Eigenschaften von Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen zu beurteilen, nicht die persönliche Verfassung von Mitarbeiter.
Angesichts des fürsorglichen “Schutzes” der Mitarbeiter wird die Idee erst gefördert, dass sie das Ansprechen von psychischen Fehlbelastungen (eine Arbeitsplatzeigenschaft) stigmatisiern können. Ist das gewollt oder nur ein fehlendes Verständnis für die Erfordernisse des Arbeitsschutzes?
Im Arbeitsschutz kommen die Arbeitsplätze auf die Couch, nicht die Arbeitnehmer.
Gefährdungsbeurteilungen von Arbeitsplätzen und Arbeitssituationen dürfen gar nicht vertraulich sein, denn die an diesen Arbeitsplätzen und in diesen Arbeitssituationen arbeitenden Mitarbeiter (sowie die Arbeitnehmervertreter) müssen offen über die in den Gefährdungsbeurteilungen erfassten physischen und psychischen Gefährdungen sprechen können. Bei der geforderten Verhältnisprävention gibt es keine Geheimnisse. Aber wie viele andere Unternehmen, die einen arbeitsschützerisches Angehen des Themas der psychischen Belastungen im Grunde nicht mögen, hat Bosch hier einen Weg gefunden, sich als fürsorglich darzustellen, aber eine Tabuisierung und damit Vermeidung des Themas der psychischen Belastungen gerade zu fördern.
Immerhin gibt es eine gute Regelung:

[…] Außerdem stehen Arbeitnehmervertreter für einen vertraulichen Erstkontakt bereit. Sie werden zusätzlich an jedem Standort als so genannte betriebliche Ansprechpartner geschult. […]

Allerdings: Viele Bosch-Betriebe haben ein nach OHSAS 18001 zertifiziertes Arbeitsschutzmanagementsystem. Das könnten kompetente Betriebsräte nutzen. Sind sie darauf eingerichten genug, konzeptionell im Arbeitsschutz arbeiten zu können bevor sie Mitarbeiter individuell als so genannte Ansprechpartner betreuen? Haben geeignete Betriebsratsmitglieder die Qualifiation erworben, an Audits ihres Arbeitsschutzmanagementsystems kritisch mitwirken zu können? Wissen sie, wie man OHSAS 18001 gut für die Mitarbeiter nutzt, bevor Ende 2016 mit der kommenden ISO 45001 Rückschritte zu erwarten sind?