Abgehängter Arbeitsschutz

In http://www.arbeitstattstress.de/2012/06/gesundheitsvorsorge-im-betrieb/ fragte Stephan List vor einem Jahr zum Thema betriebliches Gesundheitsmanagement:

… Warum ist dieses Thema eigentlich nicht bei der Arbeitssicherheit “aufgehängt”? Haben sich die Sicherheitsfachkräfte da “abhängen” lassen, freiwillig oder unfreiwillig? …

Die Frage müsste häufiger gestellt werden. Parallel dazu versucht das FDP-geführte Wirtschaftsministerium mit Werbung für die betriebliche Gesundheitsförderung und einem Präventionsförderungsgesetz das CDU-geführte Ministerium für Arbeit (usw.) abzuhängen, das wohl noch immer nicht weiß, wie man die Vorschriften für den Arbeits- und Gesundheitsschutz auch wirklich durchsetzt.
Selbst Ursula von Leyen zufolge hält sich nur ein Drittel der Unternehmen in Deutschland an die Vorschriften des ganzheitlichen Arbeitsschutzes, aber – wie List berichtet – einer Studie von EuPD Research zum betrieblichen Gesundheitsmanagement (hier wird auf Haufe Bezug genommen) zufolge wollen drei Viertel der befragten Betrieben bereits ein betriebliches Gesundheitsmanagement eingeführt haben. Gesundheitsmanagement hat ja auch einfach mehr Sex als die dröge Arbeitssicherheit und der anspruchsvolle Arbeitsschutz mit seinem (so behauptet es zumindest die Bundesarbeitsministerin) “knallharten Strafkatalog”. Aus diesem Katalog ist allerdings wohl noch keines der Unternehmen, die den Einbezug psychischer Belastungen in ihren Arbeitsschutz ausbremsen dürfen, bestraft worden. Der Katalog ist ein Popanz.
Nach meinem Eindruck dominiert im betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) die bei Arbeitgebern beliebtere Verhaltensprävention, mit der sich Unternehmen dann vorzeigbar fürsorglich den einzelnen Mitarbeitern widmen können. Netterweise werden dabei auch gerne außerbetriebliche Probleme der Mitarbeiter angesprochen, damit deutlich gezeigt werden kann, dass psychische Erkrankungen nicht nur durch fehlbelastende Arbeitsplätze entstehen.
Zum Geschäft des Gesundheitsmanagements passt, dass für die Zertifizierung von Gesundheitsmanagementsystemen jetzt nach Standards wie die DIN SPEC 91020 geworben wird. Der Standard entstand im PAS-Verkahren, also ohne den bei anständigen Normen besser gesicherten Konsens der von dem Standard betroffenen Interessenten. Bevor die Show mit dem Gesundheitsmanagement startet, müssen die Arbeitgeber ihre Hausaufgaben doch erst einmal im Arbeits- und Gesundheitsschutz machen.
Im Gesundheitsmanagement und in der Gesundheitsförderung dominiert die Verhaltensprävention, obwohl die Regeln des modernen Arbeitsschutzes seit 1996 der Verhältnisprävention den Vorrang geben, bei der man Probleme im Bereich der von den Arbeitsbedingungen ausgehenden psychischen Belastungen nicht so einfach in die “Eigenverantwortung” und “Eigenvorsorge” der Arbeitnehmer abschieben kann, die sich dann auch noch selbst gegen die Selbstausbeutung wehren sollen, die von ihnen erwartet wird.
Die korrekte Maßnahmenhierarchie schmeckt vielen Arbeitgebern nicht. Mit den verkehrten Prioritäten in ihrem Gesundheitsmanagement, in dem der Arbeitsschutz und somit die Arbeitsschützer nur eine Nebenrolle spielen, lässt sich dann das werbewirksame Employer Branding viel einfacher betreiben. Die Regeln des Arbeitsschutzes ziehen dabei dann nicht mehr so viel Aufmerksamkeit auf sich.

Begehungen durch Arbeitsschutzfachleute und den Betriebsrat

Hier finden Sie ein paar Hinweise, worauf bei Begehungen von Arbeitsplätzen hinsichtlich der Qualität von Gefährdungsbeurteilungen zu achten ist.
http://blog.psybel.de/wie-die-aufsicht-prueft/#lv52, LV 52, Integration psychischer Belastungen in die Beratungs- und Überwachungspraxis der Arbeitsschutzbehörden der Länder, darin aus dem Anhang 6 GB-Check Prozessqualität – Arbeitshilfe Interviewleitfaden zur Bewertung des Prozesses der Gefährdungsbeurteilung,  2009, S. 26 und 27:

Beteiligung Führungskräfte: Die mittleren und unteren Führungskräfte wurden bei der Ermittlung und Veränderung psychischer Belastungen beteiligt? 

  • Wie?
  • Melde-/ Beschwerdewesen, durch die Methodenwahl z.B. Fragebogen, Gruppenmoderation, MAG, Einzelinterviews

Planungen: Gefährdungsbeurteilung wurde systematisch geplant.

  • Wer war mit der Umsetzung beauftragt?
  • Wurden Arbeitsbereiche und Tätigkeiten festgelegt?
  • Beurteilungsablauf festgelegt?

Risikofaktoren: Die wesentlichen Risikofaktoren für psychische Fehlbelastung werden berücksichtigt.

  • Abgleich mit Merkmalliste

Vollständigkeit: Alle Arbeitsbereiche und Tätigkeiten wurden auf psychische Belastungen hin beurteilt.

  • Wurden Prioritäten gesetzt?
  • Welche Bereiche wurden ausgelassen?
  • Aus welchem Grund?

Maßnahmenfestlegung: Bei psychischen Fehlbelastungen wurden Maßnahmen festgelegt.

(nachträgliche Anmerkung in eckigen Klammern)
 
Siehe auch:

 
(Aktualisierung: 2012-06-23. Ursprüngliches Datum: 2011-10-21)

Konsequenzen aus dem Burn-out-Ranking

Fortsetzung von http://blog.psybel.de/2012/06/08/manager-magazin-burn-out-ranking/:
Habe mit heute einmal die Tabelle angesehen: Die Asklepios-Kliniken vermuten, dass von von den mehr als 1,5 Millionen Mitarbeitern in DAX-Unternehmen etwa 47000 bis 100000 Mitarbeiter vom Burn-out betroffen sind. Das sind etwa 3.1% bis 6.4%, also im Durchschnitt 4.7%. Basis ist eine im manager magazin 2012-06 veröffentlichte Tabelle – mit allerdings ziemlich mutigen Extrapolationen möglicherweise etwas magerer Daten.
Auch etwas belastbarere Daten zeigen, dass so abschreckend der angeblich seit schon vielen Jahren mögliche “knallharte Strafkatalog” nicht zu wirken scheint. Es wird vermutlich sogar keine einzige knallharte Strafe für eine von mangelhafter Prävention verursachte psychische Erkrankung gegeben haben.
Die Beunruhigungspille der Ministerin Ursula von der Leyen ist in Wirklichkeit eine Beruhigungspille an die Unternehmer: Ernstaft unternimmt die Politik nichts. Sie wedelt nur ein bisschen mit einem Strafkatalog zur Volksberuhigung, wird die ernsthafte Anwendung dieses Katalogs aber auch weiterhin bremsen.
Die eigentliche Konsequenz aus dem Burn-out-Ranking ist, dass Prävention ernsthafter betrieben und genauer beurteilt werden muss. Das ist zuverlässiger als gewagte Statistiken:

  • Ernsthafte und kompetente Kontrollen der Unternehmen durch Aufsichtsbehörden.
  • Überprüfung der Übereinstimmung der Prozessbeschreibung eines Unternehmens zur Umsetzung der Bildschirmarbeitsverordnung mit der tatsächlichen Umsetzungspraxis.
  • Veröffentlichung der Protokolle von behördlichen Kontrollen eines Unternehmens an alle Mitarbeiter des Unternehmens (also nicht nur an den Betriebsrat).
  • Ernsthafte Überprüfung der vorgeschriebenen Arbeitsschutz-Dokumentation und darin insbesondere der Gefährdungsbeurteilungen. (Kennen und Verstehen die Mitarbeiter den Inhalt und die Bedeutung der Gefährdungsbeurteilungen zu ihren Arbeitsplätzen inzbesondere hinsichtlich des Einbezugs psychischer Belastungen? Kennen sie die Bildschirmarbeitsverordnung und wird sie tatsächlich eingehalten?)
  • Ernsthafte Überprüfung der vorgeschriebenen Arbeitsschutz-Unterweisungen an das untere Management. (Versucht das Top-Management, Verantwortung in das untere Management zu verlagern, ohne die Mitarbeiter und Vorgesetzten über ihre Pflichten und Rechte aufzuklären? Werden nur Webtrainings gegeben, die wenig wirksame Pflichtübungen zum formalen Abhaken von Vorschriften sind?)
  • Proaktive behördliche Unterstützung der Betriebsräte bei der Ausübung der Pflicht zur Mitbestimmung im Arbeitsschutz. (Betriebsräte sind angesichts der Realität des Umgangs mit dem Arbeitsrecht und mit den Schutzrechten für Arbeitnehmer in Deutschland in einer Zwickmühle: Sprechen sie im Betrieb Regelwidrigkeiten an, dann beschwert sich die Arbeitgeberin, der Betriebsrat würde die harmonische Zusammenarbeit stören und Führungskräfte persönlich angreifen. Halten sie sich zurück – womöglich in Anwesenheit von Aufsichtspersonen der Berufsgenossenschaften oder der Gewerbeaufsicht -, dann missachten sie ihre Pflicht zum Schutz der Mitarbeiter und geben u.U. auch noch stillschweigend ihr Einverständnis zu Dingen, mit denen sie nicht einverstanden sein dürfen.)
  • Stärkung der Unabhängigkeit von Betriebsärzten und Arbeitsschutzbeauftragten. (Der Arbeitgeber hat auf der Grundlage der Gefährdungsbeurteilung für eine angemessene arbeitsmedizinische Vorsorge zu sorgen. Wie kommt es, dass diese Vorschrift (§3 ArbMedVV) von der Mehrheit der Unternehmen in Deutschland beim Einbezug psychischen Belastungen in den Arbeitsschutz noch nicht beachtet wird? Haben die Betriebsärzte Angst, eine vollständige Gefährdungsbeurteilung einzufordern, obwohl ihnen die Bedeutung der Gefährdungsbeurteilung als Grundlage der Primärprävention bekannt ist? Was haben sie zu befürchten, wenn sie den Arbeitgeber auffordern, ihnen diese Grundlage nicht weiterhin zu verwehren? Entstehen den Arbeitsschutzbeauftragten Nachteile, wenn sie psychische Belastungen (unter Beachtung der betrieblichen Mitbestimmung) in Gefährdungsbeurteilung einbeziehen und damit ihre Aufgabe pflichtgemäß erfüllen?)
  • Haftung des Unternehmens gegenüber psychisch erkrankten Mitarbeitern mit Erschöpfungsdepression schon dann, wenn der Arbeitgeber zwar nur ein möglicher Mitverursacher der Erkrankung ist, aber dazu aktuell oder in den Jahren vor der Erkrankung (deswegen müssen auch vergangene Pflichtverletzungen in den Unternehmen untersucht werden!) noch erhebliche Mängel beim Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz festgestellt wurden. Wichtig wäre es auch, dass Berufsgenossenschaften, Berufsunfähigkeitsversichererer und Krankenversicherer sich leichter Versicherungsleistungen erstatten lassen können, die von fahrlässig ihre Mitarbeiter körperverletzenden Unternehmen verursacht wurden.

Wenn Unternehmen einen ordentlichen Arbeitsschutz betreiben, dann braucht sie irgendein “Burn-our Ranking” nicht zu interessieren.
Ich weiß nicht, ob die von Gewerkschaften geforderte Anti-Stress-Verordnung oder sonstige neue Bestimmungen etwas bringen. Eine Stärkung der Arbeitnehmervertretungen könnte helfen, mit den bestehenden Arbeitsschutzvorschriften auszukommen. Es gibt ja bereits seit 1996 ein Gesetz. Es gibt darauf aufbauende Verordnungen und gerichtliche Beschlüsse. Nur wurden die Regeln in der Praxis kaum durchgesetzt obwohl beispielsweise die Bildschirmarbeitsverordnung sehr gut überprüfbar ist. Davon wird aber kaum Gebrauch gemacht. So kann es passieren, dass Aufsichtspersonen in einem Betrieb, von dem sie wissen, das psychische Belastungen nicht ordnungsgemäß beurteilt werden, es durchgehen lassen, dass in Gefährdungsbeurteilungen steht, die Bildschirmarbeitsverordnung werde eingehalten. Uns fehlen keine Schutzgesetze, sondern der Respekt vor ihnen ist abhanden gekommen.
(Nachbearbeitung: 2011-06-17)