Immer mehr Menschen gehen wegen psychischer Probleme in Rente

http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.alarmierende-zahlen-fuer-muenchen-immer-mehr-menschen-gehen-wegen-psychischer-probleme-in-rente.a2f484fc-8d3d-4030-8832-84f30154a459.html mit Zahlen für Deutschland und München

Hysterische Hysterie-Kritik

Der Journalist Christian Weber benutzt in seinem etwas hysterisch geratenen Artikel “Die Burn-out-Hysterie” (SZ 2011-10-22, S. 24, Untertitel: “Die anhaltende Debatte um das scheinbar zunehmende Leiden zeugt von einem falschen Verständnis psychischer Krankheiten”) einen alten Trick: Die Kritik von Absichten, die der Kritiker dem Kritisierten unterstellt:

Wer mit Hilfe der Psychiatrie die Arbeitsbedingungen und Zwänge des modernen Lebens kritisieren will, tut den Ausgebrannten nichts Gutes. Er nährt die Illusion, dass ein bisschen Umbau in Betrieb und Gesellschaft psychische Krankheiten beseitigen könnte; und dass nur die Anderen schuld seien am eigenen Zustand.

Wo ist denn jemand mit signifikantem Einfluss, der mit Hilfe der Psychiatrie die Arbeitsbedingungen und Zwänge das modernen Lebens kritisieren will? Das Instrument der Kritik ist nicht die Psychiatrie, sondern die Organisations- und Arbeitspsychologie. Wenn die Psychiatrie einschreiten muss, ist es nämlich schon zu spät. Christian Webers Kritik, es gäbe die Illusion, “dass ein bisschen Umbau in Betrieb und Gesellschaft psychische Krankheiten beseitigen könnte; und dass nur die Anderen schuld seien am eigenen Zustand” ist unredlich. Eine solche Illusion gibt es zumindest nicht bei denen, die den Einbezug psychisch wirksamer Belastungen in den Arbeitsschutz vorantreiben. Es ist also wohl Christian Weber, der hier Probleme mit der Realität hat und das dann auch noch in der SZ-Rubrik “Wissen” in die Welt setzt.
Psychosomatische Störungen durch psychische Fehlbelastung gibt es. Insbesondere Sozialstress in der Herde beobachtet beispielsweise mein Vetter in seinem (auch in schwierigen Zeiten erfolgreichen) großen Milchproduktionsbetrieb. Gibt es zuviel davon, dann wird die Milch zwar nicht sauer, aber weniger. Das bedeutet niedrigere Produktivität. Darum reduziert mein Vetter schädlichen Stress, wo das möglich ist. Gelegentlich bietet er seinen Viechern auch Stress, der anregend ist. Wichtig dabei: Trittbrettfahrer und Simulanten, die sich ihre Krankheiten anlesen, gibt es unter den Kühen eher weniger.
Nun von der Natur von Kühen mit Leseschwäche zu uns Menschen. Christian Weber meint:

Viel wahrscheinlicher ist, dass Angst und Depression, Zwang und Psychose zur Natur des Menschen gehören wie körperliche Krankheiten. Das Hirn ist die wahrscheinlich komplexeste Struktur des Universums; wie sollte es ein Leben lang fehlerfrei arbeiten?

Schon wieder kämpft Weber gegen eine Behauptung, die er sich einbildet. Die Menschen nehmen das Gegenteil dessen an, was Weber glaubt: Sie glauben nicht an Fehlerfreiheit des Gehirns und konstruierten sich deswegen einige ganz erfolgreiche Fehlerkorrekturverfahren (z.B. die Demokratie, in der dann wiederum Schutzgesetze beschlossen wurden). Es hilft uns nicht viel weiter, mit der “Natur” der Menschen zu argumentieren in einer Umwelt (nicht nur Arbeitsumwelt), die sich durch das Wirken der Menschen viel intensiver verändert hat, als die evolutionäre Entwicklung unserer Gehirne. Das ist nicht schlecht, aber wir müssen mit dieser “unnatürlichen” Entwicklung auch “unnatürlich” umgehen. Teilweise gelingt uns ja schon: Wir wenden uns mit Verstand der Arbeits- und Organisationspsychologie zu, aber nicht, um alle psychischen Krankheiten abzuschaffen, sondern um besser zu arbeiten und zu leben. Christian Webers Gehirn (die wahrscheinlich komplexeste Struktur des Universums?) kennt den Anspruch des Arbeits- und Gesundheitsschutzes nicht.
Es gibt Leute, die sich mit dem Thema, dem Christian Webers Kollegen gerne den Titel  “Burn-out” geben, gut auskennen:

Meine eigene Kritik benutzt nicht die Psychiatrie als Instrument der Kritik an der neuen Arbeitswelt, sondern konzentriert sich auf die schlichte Tatsache, das in den meisten Betrieben überhaupt gar nicht erst in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise hingesehen wird, wie die Belastungen aussehen und ob sie Fehlbelastungen sein könnten. Diese Missachtung von Schutzvorschriften kann nämlich nachgewiesen werden. Das scheint der Süddeutschen Zeitung zu kompliziert zu sein. Aber die Bouleverd-Presse in München griff das Thema Anfang dieser Woche und mit Christa Haderthauers staatsministerieller Nachhilfe auf, natürlich wieder unter dem “Burn-out”-Titel: Die Abendzeitung München bemühte zwar “Burnout-Detektive” und “Burnout-Aufpasser”, aber sie kommt damit dem Problem unzureichender Aufsicht im Arbeitsschutzpraxis immer noch näher, als die Süddeutsche Zeitung das bisher vermochte. Der Boulevard braucht wohl den Burnout-Begriff. Endlich wurde eines der Hauptprobleme dort einfach erklärt auf den Punkt gebracht: Die Unternehmen halten sich nicht an die Regeln. Darum ist nun Aufsicht nötig.
Ein anderer Minister Bayerns, Markus Söder, kündigte in dieser Woche dann auch noch einen Burnout- und Psychiatrie-Beauftragten an. Diese Kombination finde ich problematisch. Politiker neigen halt zur Vereinfachung. Daraus kann man aber nicht ableiten, dass es eine generelle Burnout-Hysterie gebe. Dass zu viel und zu platt von “Burnout” geschrieben wird, ist doch auch eine Folge der Forderung nach Vereinfachung komplexer Themen. Die unsaubere Verwendung des Begriffes verdient Kritik, aber Christian Weber setzt sie falsch an und forkussiert auf die Diagnose von Erkrankungen. Die Burnout-Thematisierungen von Christa Haderthauer und Markus Söder zielen aber (endlich den Regeln des Arbeitsschutzes entsprechend) auf die Prävention ab. Da geht es um die Diagnose des Zustandes von Arbeitsplätzen.
Michaela Mosers Kritik in (in Perspektive Mittelstand) ist auch nicht zimperlich: “Burnout-Geschwafel löst nicht das Problem” (http://www.perspektive-mittelstand.de/Erschoepfungsinflation-Burnout-Geschwafel-loest-nicht-das-Problem/management-wissen/4331.html). Aber ihr Schluss ist wichtig:

… Noch problematischer ist indes, dass den meisten, das Thema Burnout mittlerweile zum Halse raushängt. Denn ist das Erschöpfungssyndrom mal endgültig durch das mediale Dorf getrieben, wird die Berichterstattung, ebenso wie nach dem Depressions-Hype um den Tod von Robert Enke, wieder abflauen. Und damit letztlich auch der Handlungsdruck zur Burnout-Prophylaxe – sowohl bei Arbeitgebern als auch jenen die Burnout-gefährdet sind. Genau dies aber wäre fatal – nicht für die Betroffenen, sondern auch die Arbeitswelt von morgen und nicht zuletzt die deutsche Wirtschaft insgesamt!

Vorzeitiger unfreiwilliger Ruhestand

http://www.sueddeutsche.de/karriere/
vorzeitiger-unfreiwilliger-ruhestand-aufhoeren-weil-die-seele-leidet-1.1165601

Aufhören, weil die Seele leidet
16.10.2011, 17:23
Von Thomas Öchsner
Psychische Erkrankungen sind mittlerweile der Hauptgrund für den unfreiwilligen Vorruhestand – und der kommt immer früher: Wer vor 30 Jahren vorzeitig aus dem Berufsleben ausscheiden musste, war im Durchschnitt 56 Jahre alt. Heute sind vor allem diejenigen, die wegen seelischer Leiden aufhören, wesentlich jünger. Das hat mehrere Gründe. …

Auf Seite 4 (SZ 2011-10-17) gab es dann von “tö” den Kommentar “Wenn Arbeit krank macht”. Der Kommentarschreiber liest anscheinend seine eigene Zeitung nicht. Und er suchte auch nicht in ihrem Archiv: “Wenn Arbeit krank macht” war an gleicher Stelle schon einmal der Titel eines Kommentars, und zwar in der SZ 2010-08-13.
“tö” fragt: “Was zu tun ist?”. Seine Antworten: “Arbeitnehmer müssen lernen, an sich selbst keine überzogenen Ansprüche zu stellen, und die Arbeitgeber dürfen ihre Untergebenen nicht als moderne Arbeitssklaven behandeln …”
Davon, dass diese beiden (die Situation nicht ganz nicht falsch, aber auch nicht ausreichend beschreibenden) Klischees wiedergekäut werden, werden sie auch nicht hilfreicher. Sie lenken von einem ganz anderen Problem ab: Wieso kommt der Kommentator nicht auf die Idee, zu fragen, ob überhaupt ehrlich und diszipliniert gefragt wird, “was zu tun ist”? Einiges, was zu tun ist, ist nämlich seit vielen Jahren vorgeschrieben, wird aber nicht getan. Je nach Quelle kann man erfahren, dass seit Jahren 16% bis (sehr optimistisch geschätzt) 50% der Unternehmer psychisch wirksame Belastungen nicht in die vorgeschriebenen Gefährdungsbeurteilungen mit einbeziehen. Seit spätestens 2004 verstößt die Mehrheit der Unternehmen gegen die Vorschriften des Arbeitsschutzgesetzes und die dazu gehörnden Urteile. Was wäre dagegen zu tun? Aufsicht! Und dass es an Aufsicht fehlt, sollte bei der SZ inzwischen auch bekannt sein.
Wenn die Leute locker bei Rot über die Ampel fahren dürften, würde sich sich doch auch niemand wundern, wenn mehr Verkehrsunfälle passieren. Es kann da doch keine allzu große geistige Herausforderung sein, zu fragen, wie sich der gewohnheitsmäßige Verstoß gegen die Pflicht der Arbeitgeber zum Einbezug psychisch wirksamer Belastungen in den Arbeitsschutz (schon ganz am Anfang, also beim Fragen nach Gefährdungen) auf psychische Erkrankungen auswirkt.
SZ 2010-08-13, S. 4:

… Die Vorbehalte [der Firmen] gegenüber guter Prävention zeigen auch wieder, dass die Pläne von Gesundheitsminister Philipp Rösler [(damals war er das noch)] falsch sind, den Arbeitgeberanteil am Krankenkassenbeitrag einzufrieren. Damit würden künftig die Arbeitnehmer alleine dafür zahlen, dass Firmen durch schlechte Vorsorge die Gesundheit ihrer Belegschaft gefährden.

 



http://www.tagesschau.de/inland/fruehrente100.html

Zahlen im vergangenen Jahr laut Zeitung angestiegen
Psychische Erkrankungen häufiger Grund für Frührente
Die Zahl der Arbeitnehmer, die wegen einer psychischen Erkrankung vorzeitig in Rente, ist im vergangenen Jahr gestiegen. Das berichtet die “Süddeutsche Zeitung” unter Berufung auf neue Zahlen der Deutschen Rentenversicherung.
Demnach mussten sich im Jahr 2010 bundesweit fast 71.000 Frauen und Männer wegen seelischer Störungen vor Erreichen der Altersgrenze von 65 Jahren in den Ruhestand verabschieden. 2009 waren es noch knapp 64.500 gewesen. …

 


Abendzeitung München / dpa:
http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.rente-mit-depression-still-und-heimlich-in-die-fruehverrentung.c4d6a420-17fd-4ca7-878e-15e61e25d746.html

Mit Depression still und heimlich in die Frühverrentung
… Burnout ist kein neues Phänomen, aber es breitet sich aus wie ein Ölfleck auf dem Wasser. Die internationalen Konzern-Verflechtungen bei zunehmendem Konkurrenzdruck führen zu höheren Anforderungen an die Arbeitnehmer. Dabei spielen individuelle Fähigkeiten auch eine wichtige Rolle: Manche sind stress-resistenter als andere, die dann auch früher ans Limit kommen.
Um die fatale Entwicklung zu bremsen, muss nach Überzeugung aller Experten in den Betrieben vorbeugend gegengesteuert werden: Das Bundesgesundheitsministerium will dazu in Zusammenarbeit mit Firmen demnächst ein Stressabbauprogramm für Beschäftigte auflegen. …

Nicht falsch, aber nur die halbe Wahrheit. Warum weist die DPA auf die Bedeutung der individuellen Resilienz hin ohne auch die einfach nachprüfbare Missachtung der Arbeitsschutzregeln durch die Mehrheit der Unternehmen zu erwähnen? Warum will das Bundesgesundheitsministerium ein Stressabbauprogramm auflegen anstatt die Unternehmen endlich durch gründliche Gewerbeaufsicht zur Einhaltung bereits bestehender Vorschriften bewegen?
Die gute Nachricht: Wie man es richtig macht, zeigte jüngstens (entgegen meinen eigenen Vorurteilen) ausgerechnet eine CSU-Landesministerin. Und bereits im Jahr 2009 bohrte (entgegen meinen weiteren Vorurteilen) die FDP in Berlin an den richtigen Stellen nach. Hier sind ein paar Politiker der Presse voraus.

Aufsichtspersonen nutzen ihre Möglichkeiten nicht

2011-10-17 (07:57): An Christine Haderthauer, Bayerische Staatsministerin für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen
http://www.facebook.com/topic.php?uid=121811334556687&topic=61

Es ist für Gewerbeaufsichtspersonen oft schwierig, in den Betrieben den Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz zu überprüfen. Die Überprüfung des § 3 der Bildschirmarbeitsverordnung ist aber ganz einfach. Warum aber nutzen Aufsichtspersonen ihre Möglichkeiten nicht? Bittet sie irgend jemand wirksam um Zurückhaltung?
http://www.gesetze-im-internet.de/bildscharbv/__3.html

 
Siehe auch: