Bewusste Pflichtverletzung seit 2005

Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.

Richard von Weizsäcker
 
http://blog.psybel.de/praeventive-arbeitsgestaltung-unter-nutzung-von-§§-90-91-betrvg/

Seit den 70er Jahren gibt es den gesetzlich verankerten gemeinsamen Auftrag für Arbeitgeber und Betriebsrat, arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit bei der Planung und Korrektur von Gestaltungsmaßnahmen zu berücksichtigen.

Uwe Dechmann, Sozialforschungsstelle Dortmund
Zu viele “Macher” vergessen gerne die Vergangenheit. Sie schauen lieber “nach vorne”, denn sie möchten zwar für ihre Verantwortung sehr gut entlohnt, aber für Pflichtverletzungen nicht verantwortlich gemacht werden. Sie verlangen göttliche Unantastbarkeit:

Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn sehe, ich will ein Neues schaffen.

Jesaja 43, 18 – 19

Who controls the past controls the future. Who controls the present controls the past.

George Orwell
Geschichte, unter die ein Schlussstrich gezogen werden soll, ist in der Regel eben besonders interessant. Geschichte wird ja nicht nur vergessen, sondern auch noch geklittert. Wir schauen schon deswegen in die Vergangenheit, weil beispielsweise unsere Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen heute versucht, die nachhaltige Missachtung der Pflicht zum Einbezug psychischer Belastungen mit “Unwissen und Hilflosigkeit” der Unternehmen zu entschuldigen. Das ist keine Enschuldigung, weil sich zeigen lässt, dass viele Unernehmer wussten was sie taten. Sie ließen das Thema bewusst schleifen und hatten mit ihrem wissentlich gepflegten Unwissen ihre Mitarbeiter die Krankheit getrieben. Dabei mussten politisch ausgebremste Aufsichtsbehörden untätig zuschauen. Unsere wirtschaftliche und politische Elite verletzte dabei nicht nur die Arbeitnehmer, sondern die Anarchie im Arbeitsschutz fügte auch dem Rechtsstaat Schaden zu.
Den ganzheitlichen Arbeitsschutz gibt es seit 1996. Aus den Vorschriften ergab sich damals schon eine Pflicht der Arbeitgeber, psychisch wirksame Belastungen in den Arbeitsschutz einzubeziehen. Seit dieser Zeit hatten nicht nur ein Großteil der Unternehmer, sondern auch Arbeitnehmervertretungen (Ausnahmen gab es, z.B. die Pionierarbeit des Betriebsrats der SICK AG) und Aufsichtspersonen ihre Lernkurve sehr flach gehalten.
Spätestens seit 2005 war den Arbeitgebern jedoch klar, was sie zu tun haben. Im Jahr 2004 gab es klärende Beschlüsse des Bundesarbeitsgerichts. Die BDA merkte nun, das es brenzlig wurde und veröffentlichte im Mai 2005 die Position der Arbeitgeber zur Bedeutung psychischer Belastungen bei der Arbeit. Zumindest bei größeren Unternehmen war das Thema also seit 2005 auf ihrem Radar. Aber selbst danach setzten sie nicht einmal das um, was im April 2000 in der eher arbeitgeberorientierten Zeitschrift für Arbeitswissenschaft Leistung und Lohn beschrieben wurde. Darum gehe ich davon aus, dass seit 2005 viele Arbeitgeber ihre Pflicht zum verhältnispräventionsorientierten Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz vorsätzlich missachteten. Mitverantwortlich ist hier aber auch eine Politik, die im naïven Vertrauen auf das Verantwortungsbewusstsein der Unternehmen die Aufsichtsbehörden geschwächt hat.
Am Beispiel der BGFE (jetzt in der BG ETEM) kann man sehen, dass auch die Berufsgenossenschaften die von ihnen überwachten Unternehmen auf ihre Pflichten aufmerksam gemacht hatten (2006). Leider führt z.B. die BG ETEM bis heute keine ausreichend gründlichen Prüfungen durch.
In Betrieben mit Bildschirmarbeit kann seit 1996 oft von einer vorsätzlichen Missachtung der Bildschirmarbeitsverordung ausgegangen werden, wenn psychische Belastungen nicht beurteilt wurden. Wurde eine Erfüllung der Bildschirmarbeitverordnung dokumentiert obwohl psychische Belastungen nicht beurteilt wurden, dann ist das eine unwahre Angabe in der Dokumentation des Arbeitsschutzes.
Im Jahr 2010 stellte die BAuA (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin) fest, dass die große Mehrheit der Arbeitgeber das Thema “Psychische Belastungen” als Gegenstand der Gefährdungsbeurteilung ohne die Impulsgebung durch Gewerkschaften, Betriebsräte bzw. Arbeitsschutzbehörden (vereinzelt) nicht aufgreife. Erst Ende 2011 erkannte die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen auch öffentlich, “dass sieben von zehn Unternehmen das Thema [Arbeitsschutzbestimmungen auch mit Blick auf seelische Belastungen] schleifen lassen – meist aus Unwissenheit oder Hilflosigkeit”. Was “schleifen lassen” anbetrifft, hat sie sich noch recht freundlich ausgedrückt; aber mit “Unwissenheit oder Hilflosigkeit” liegt sie ziemlich daneben, wie der Blick auf die Vergangenheit zeigt.
Meine Kritik richtet sich nicht so sehr gegen die Fachkräfte für Arbeitsschutz in den Betrieben oder gegen Aufsichtspersonen, die diese Betriebe (gelegentlich) besuchen. Das sind oft gutmütige Techniker und Chemiker, die psychische Belastungen überhaupt nicht im Blickfeld hatten. Hier gab es nicht durch Absicht, sondern durch Überforderung bedingte Unwissenheit und Hilflosigkeit. Verantwortlich sind viel mehr die oberen Führungskräfte in den Betriebs- und Behördenleitungen, die trotz Kenntnis ihrer Verpflichtungen diese Unwissenheit und Hilflosigkeit aufrecht erhielten. Die Thematisierung von Arbeitsbelastung wurde geradezu angestrengt vermieden.
Es gibt viele Gründe, die Geschichte der “Unwissenheit oder Hilflosigkeit” (Ursula von der Leyen, Dez. 2011) beim Einbezug psychisch wirksamer Belastungen in den Arbeitsschutz nicht in Vergessenheit geraten zu lassen:

  • Wir können aus Fehlern lernen.
  • Spätestens seit 2005 sparte sich die Mehrheit der Unternehmen die Kosten für den vorgeschriebenen Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz. Dank der dadurch erzielten Einsparungen können Unternehmen sich nun mit überdurchschnittlichen Budgets für einen hochwertigen Arbeitsschutz begeistern, und damit die erforderliche Nacharbeit beschleunigen – ohne jedoch deren Qualität zu mindern.
  • Wenn sich ein Unternehmen dazu entschließt, psychische Belastungen verspätet in den Arbeitsschutz einzubeziehen, können trotzdem die Risiken nicht vergessen werden, denen die Mitarbeiter durch die Pflichtverletzung des Unternehmens zuvor ausgesetzt waren. Zwischen psychischer Verletzung und psychischer Erkrankung können viele Jahre liegen. Eine vollständige Gefährdungsbeurteilung löst noch keine Probleme, sondern sie ist der erste Schritt zu Problemlösungen.
  • Die Gründe für die Missachtung der Regeln des Arbeitsschutzes durch Arbeitgeber müssen verstanden werden. Sind die Regeln nicht umsetzbar und/oder fehlt der Mehrheit der Arbeitgeber der Respekt gegenüber Schutzgesetzten?
  • Außerdem könnte ein Verständnis der Geschichte der mangelhaften Umsetzung des Arbeitsschutzgesetzes helfen, die Bedeutung von Arbeitnehmervertretungen besser zu verstehen und das (europäische) Entbürokratisierungskonzept zu überdenken, auf dem dieses Gesetz basiert.

Für Betriebe mit kompetenten und durchsetzungsfähigen Arbeitnehmervertretern ist der Gestaltungsspielraum, den ein Rahmengesetz für betriebsnahe Lösungen gibt, eine feine Sache. Dieser Gestaltungsspielraum begründet den an die Arbeitgeber gerichteten Gestaltungsimperativ und die starke Mitbestimmung der Arbeitnehmer. Aber was geschieht in den vielen Unternehmen mit überforderten (und gelegentlich sogar gemobbten) Arbeitnehmervertretungen?
Wie wichtig Betriebsräte im Arbeitsschutz sind, sieht man an einem schönen Beispiel: Belastungen als Thema des Arbeitsschutzes führten kürzlich zur Gründung des ersten Betriebsrats bei Apple in München. Auch das ist ein interessantes Ereignis in der Geschichte des deutschen Arbeitsschutzes.
Siehe auch: http://blog.psybel.de/motivierendevorschriften/

Seminare von GULMO

Hier ist die Liste: http://www.gulmo.de/aktuelles.html.
Die aktuellen Seminare sind im März. Mein Hinweis ist ein bisschen spät, sorry. Am Seminar “Professionelle Gefährdungsbeurteilung” hatte ich selbst einmal teilgenommen und kann es nur empfehlen.
Auch interessant: http://www.gulmo.de/institut.html

… Dr. Norbert Gulmo war über zwanzig Jahre als Betriebsschlosser tätig, bevor er 1996 in den Betriebsrat eines international tätigen großen deutschen Produktionsunternehmens gewählt wurde. Seit 1998 ist er freigestellter Betriebsrats- und Gesamtbetriebsratsvorsitzender. 2003 hat er neben seiner hauptberuflichen Tätigkeit als Vorsitzender des Betriebsrats ein Studium der Psychologie mit Schwerpunkt Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Heidelberg aufgenommen und dort zum Thema Stress bei Arbeitnehmervertretern promoviert. Seit 2007 arbeit er zusätzlich als freiberuflicher Referent und Berater. …

Berufsunfähigkeit: Versicherung zahlt für Burnout

Der erste Fall, in dem ein vom Burnout-Syndrom Betroffener von seiner Berufsunfähigkeitsversicherung Geld erstritt: http://www.google.de/search?q=LG+München I,+Az.+25+O+19798/03, 2006-03-22
Zur Haftung von Arbeitgebern siehe: http://blog.psybel.de/2011/07/11/wie-arbeitsbedingten-depressionen-vorbeugen/

Betriebsratsschulung zum Thema Burnout

http://www.business-netz.com/artikel/Personal/Betriebsrat/Burnout-Seminar-ist-fuer-Gesundheitsschutz-am-Arbeitsplatz-erforderlich

… Das Gericht entschied den Rechtsstreit zugunsten des Betriebsrats. Der Arbeitgeber sei gemäß § 40 Abs.1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) verpflichtet, die aus der Teilnahme des Betriebsratsmitgliedes resultierenden Schulungskosten zu tragen, weil der Betriebsrat das auf der Schulung vermittelte Wissen für seine Tätigkeit benötige.
Die Schulung “Burnout im Unternehmen” vermittle Fachwissen in einem Bereich, der zum Aufgabengebiet eines örtlichen Betriebsrates gehöre. Dies folge aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG, wonach der Betriebsrat bei Regelungen über die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie über den Gesundheitsschutz mitzubestimmen habe. Der örtliche Betriebsrat könne die Schulung für sich beanspruchen und müsse sich nicht – wie der Arbeitgeber meinte – darauf verweisen lassen, dass der Gesamtbetriebsrat für dieses Thema zuständig sei. Der örtliche Betriebsrat müsse in der Lage sein, Gesundheitsgefährdungen in seinem Betrieb zu erkennen und auf Abhilfemaßnahmen zu drängen. Dabei sei er mit Blick auf das im Rahmen des § 87 BetrVG bestehende Initiativrecht nicht darauf angewiesen, dass der Arbeitgeber das Thema Gesundheitsschutz aufgreife. Vielmehr habe er die Kompetenz, von sich aus Maßnahmen auf örtlicher Ebene, die er für sinnvoll halte, vorzuschlagen und mit dem Arbeitgeber zu verhandeln (ArbG Essen, Beschluss vom 30.06.2011, Az.: 3 BV 29/11). …

Siehe auch: http://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=ArbG Essen&Datum=30.06.2011&Aktenzeichen=3 BV 29/11
Den Hinweis auf dieses Urteil fand ich in http://www.no-burn-out.de/arbeitgeber/juristischelinks/

Arbeitsschutztraining von leitenden Angestellten

Ein Arbeitsschutztraining von leitenden Angestellten ist eine wichtige und gute Sache. Drei Dinge sind hierbei jedoch zu beachten:

  1. Mitbestimmung: Wenn ein Training zum Thema der Vermeidung psychischer Fehlbelastung gegenüber Aufsichtspersonen, Auditoren, Bewerbern, der Firmenleitung, den Mitarbeitern, der Öffentlichkeit usw. als Maßnahme des Arbeitsschutzes ausgewiesen werden soll, dann hat der Betriebsrat auch dann mitzubestimmen, wenn an einer solchen Unterweisung nur leitende Angestellte teilnehmen. Die Mitbestimmung betrifft auch die Gestaltung der Unterweisung. Damit die Arbeitnehmervertretung nicht behindert wird, hat sie mitzubestimmen bevor das Training als Arbeitsschutzmaßnahme geltend gemacht wird.
        Eine “Einbindung” von Arbeitnehmervertretern in Entscheidungen über das Training reicht dazu nicht aus, denn bei einer solchen Einbindung könnte es sich ja nur um die Wahrnehmung des umfassenden Informationsrechtes der Arbeitnehmervertretung handeln. Nachgewiesen werden muss eine tatsächliche Mitbestimmung.
        Eine Arbeitgeberin kann die Mitbestimmung nicht deswegen verweigern, weil die Trainees leitende Angestellte sind, sondern die Mitbestimmungspflicht wird dadurch begründet, dass die Arbeitnehmervertretung sicherzustellen hat, dass Arbeitschutzmaßnahmen tatsächlich dem gesetzlich vorgeschriebenen Schutz der von ihr vertretenen Mitarbeiter dienen.
        Beispiele: (a) Ein Training, in dem leitende Angestellte überwiegend zur ihrer eigenen rechtlichen Absicherung lernen, ihre mit dem Arbeitsschutz verbundenen Haftungsrisiken zu minimieren, ist nicht notwendigerweise eine Arbeitsschutzmaßnahme. (b) Als Arbeitsschutzmaßnahme ungeeigntet sind auch Trainings, in denen die im Arbeitsschutz nachrangige Verhaltensprävention (dem “eigenverantwortlichen” Verhalten individueller Mitarbeiter geltende Maßnahmen) Vorrang vor der im Arbeitsschutz vorrangigen Verhältnisprävention (den Arbeitsbedingungen geltende Maßnahmen) hat. (c) Eine Schulung leitender Angestellter, die ihnen helfen soll, Arbeitgeberpositionen zum Thema der psychischen Belastungen zu vertreten, ist keine Maßnahme im Sinn des Arbeitsschutzgesetzes und nicht mitbestimmt.
        Es gibt viele Themen für ein Training leitender Angestellter, die arbeitsschutzbezogen sein können, aber bei denen das Wohl der Mitarbeiter nicht Priorität hat. Darum können solche Trainings nicht automatisch als Arbeitsschutzmaßnahme oder speziell als eine Unterweisung gelten, die den Forderungen des Arbeitsschutzgesetzes entspricht.
  2. Gefährdungsbeurteilung: Vor einer Unterweisung hat eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt zu werden, damit der Unterweisung die konkrete Belastungssituation im Betrieb zugrunde liegt. Grundlage dieser Bedingung ist ein Beschluss des Bundesarbeitsgerichtes im Jahr 2011. Erwirkt wurde dieser Beschluss von einer Arbeitgeberin, die (so meine persönliche Vermutung) verhindern wollte, dass eine von den Arbeitnehmervertretern geforderte Unterweisung zur gewerkschaftlichen Indoktrination (aus Sicht der Arbeitgeberin) missbraucht wird.
        Die Gefährdungsbeurteilung als Voraussetzung einer als Arbeitsschutzmaßnahme ausweisbaren Unterweisung ist (keine Vermutung, sondern Vorschrift) mitbestimmungspflichtig.
        Die Arbeitnehmervertretung kann nach pflichtgemäßer und fachgerechter Prüfung jedoch feststellen, dass ein konkretes Training von leitenden Angestellten den konkreten Arbeitsschutzanforderungen im Betrieb dient. Dann entspräche die Unterweisung der leitenden Angestellten auch ohne Vorliegen einer Gefährdungsbeurteilung den vom Bundesarbeitsgericht vorgegebenen Anforderungen für eine aus dem betrieblichen Belastungsszenario ableitbare Arbeitschutzmaßnahme.
  3. Dokumentation: Wenn das Training leitender Angestellter als Arbeitsschutzmaßnahme gelten soll, dann ist das gesamte Unterweisungsmaterial Bestandteil der im Arbeitsschutzgesetz geforderten Dokumentation, die der Arbeitnehmervertretung und anderen zur Einsicht Berechtigten vollständig zur Verfügung zu stellen ist.

Gefährdungsbeurteilung nicht dem Arbeitgeber überlassen

http://www.djv.de/fileadmin/DJV/betriebsrat/BR-Info/br_06_04.pdf, 2004-09-14

Gesundheitsschutz/Gefährdungsanalyse
Die Bildschirmarbeitsrichtlinie verpflichtet den Arbeitgeber, eine so genannte Gefährdungsanalyse durchzuführen, mit der psychische und körperliche Belastungen auf Grund der Arbeitsorganisation und der Softwareergonomie beurteilt werden sollen. Der Betriebsrat hat insoweit ein Mitbestimmungsrecht gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 7 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG). Das Bundesarbeitsgericht hob den Spruch einer Einigungsstelle in einer derartigen Angelegenheit auf, da dem Arbeitgeber durch die Einigungsstelle zu viele Kompetenzen zugewiesen worden waren. Es könne nicht dem Arbeitgeber überlassen bleiben, das Konzept für eine derartige Gefährdungsanalyse zu erstellen. Der Betriebsrat war durch die Einigungsstelle auf ein Beratungsrecht beschränkt worden. Das Bundesarbeitsgericht kritisierte, der Spruch der Einigungsstelle enthalte nur allgemeine Vorgaben an die Arbeitgeberin zu den Themen der Unterweisung, den möglichen Gegenständen und Methoden der Gefährdungsbeurteilung. Die Anwendung auf die einzelnen, unterschiedlichen Arbeitsplätze im Betrieb sei dagegen ausschließlich dem Arbeitgeber überlassen worden (BAG 1 ABR 4/03 vom 8. Juni 2004).

Das BAG-Urteil hatte ich bereits früher in diesem Blog angesprochen, aber dank Google fand ich eine Darstellung der Gewerkschaft der Journalisten und Journalistinninnen (Deutscher Journalisten-Verband), auf die ich hier doch aufmerksam machen möchte.
Die Darstellung macht eine wichtige Aufgabe von Betriebs- und Personalräten deutlich: Es kann nicht dem Arbeitgeber überlassen bleiben, das Konzept für eine Gefährdungsanalyse zu erstellen, mit der psychische und körperliche Belastungen auf Grund der Arbeitsorganisation und der Softwareergonomie beurteilt werden sollen. Die Arbeitnehmer bzw. innovative und kreative Arbeitnehmervertretungen bestimmen das Konzept mit.
Das war eigentlich schon seit 1996 klar. Aber viele Arbeitnehmervertretungen kennen ihre Pflicht zur Mitgestaltung auch heute noch nicht. Auch die meisten Arbeitnehmer kennen diese Pflicht ihrer Vertretung nicht. Selbst von einer “Gefährdungsbeurteilung” haben noch Viele nichts gehört. Sie können sich garnicht vorstellen, wie das funktioniert. (Es funktioniert.)
Angesichts dieser Uninformiertheit ist es leider noch notwendig, immer wieder an die Pflichten der Arbeitnehmervertretungen im ganzheitlichen Arbeitsschutz zu erinnern. Und klar ist auch: Betriebs- und Personalräte werden nicht gnädig in die Gestaltung von Konzepten zur Gefährdungsbeurteilung “einbezogen”, sondern die Arbeitnehmervertretungen bestimmen mit!
Dis ist ja auch verständlich: Wer entscheidet, ob die von einem Arbeitsplatz auf einen Mitarbeiter wirkende Belastung eine legitime Belastung oder eine Fehlbelastung ist? Dass man das tatsächlich nicht den Arbeitgebern alleine überlassen kann, sondern dass die Belasteten hier mitbestimmen müssen, wenn keine gesetzlichen Regeln bestehen, sondern das Gesetz einen Gestaltungsspielraum gibt, ist eine gut nachvollziehbare Entscheidung.

Betriebsrat muss Gefährdungen erkennen

Betriebsratsseminar zum Thema “burn out”
Arbeitsgericht Essen, 3 BV 29/11, 2011-06-30
http://www.justiz.nrw.de/nrwe/arbgs/duesseldorf/arbg_essen/j2011/3_BV_29_11beschluss20110630.html

… Der örtliche Betriebsrat muss in der Lage sein, Gesundheitsgefährdungen in seinem Betrieb zu erkennen und ggf. auf Abhilfemaßnahmen zu drängen. Hierbei ist er mit Blick auf das im Rahmen des § 87 BetrVG bestehende Initiativrecht nicht darauf angewiesen, dass die Arbeitgeberin das Thema Gesundheitsschutz aufgreift. Vielmehr hat er die Kompetenz, von sich aus Maßnahmen auf örtlicher Ebene, die er für sinnvoll hält, vorzuschlagen und mit der Arbeitgeberin zu verhandeln. …

Siehe auch:

Suizid als Arbeitsunfall?

http://www.faz.net/artikel/C30513/psychischer-druck-von-selbstmord-erschuettert-30097234.html (Suizid als Arbeitsunfall?, 2007-10-18)

… Wenn der schlimmste Fall eingetreten ist, wollen die Ehepartner und Kinder versorgt werden. Doch fällt es ihnen oft schwer, eine Anspruchsgrundlage zu finden und ihre Voraussetzungen vor Gericht zu beweisen. “Der Suizid eines Arbeitnehmers könnte als Arbeitsunfall gewertet werden”, sagt Gerhard Röder, Fachanwalt für Arbeitsrecht der Kanzlei Gleiss Lutz in Stuttgart. … Die Kläger müssten darlegen, sagt Röder, dass die Ursache für das Unglück eine zugespitzte betriebliche Situation war, die dem Verstorbenen einen plötzlichen schweren Schock oder ein psychisches Trauma zugefügt hat. “Es reicht in der Regel nicht, dass sich eine Krise langsam und stetig aufgebaut hat”, betont der Anwalt. … Liege ein solcher Arbeitsunfall nicht vor, könne ein Unternehmen wegen Verletzung der allgemeinen Fürsorgepflicht oder des Arbeitsschutzrechtes haften, sagt Röder. …

Heute, am Welt-Suizid-Präventionstag, wird es wieder ernst. Arbeitsbelastung ist nicht die Hauptursache für Selbsttötungen. Es geht generell um den Umgang miteinander.
Auch in diesem Jahr nahmen sich bekannte Persönlichkeiten das Leben, die vermeintlich keine Sorgen haben müssten. Vielleicht sollten wir uns unsere wirklichen Sorgen einmal genauer ansehen. Das hilft.
Suizide können nur in seltenen Fällen als Arbeitsunfall auf die Arbeitsbedingungen in einem Betrieb zurückgeführt werden. Für den extremen Schritt zur Selbsttötung kann zwar niemals ausschließlich der Arbeitgeber verantwortlich gemacht werden, aber zu welchem Grad Arbeitsbedingungen Anteil an den Gründen für eine Selbsttötung haben, wird nach einem Suizid kaum wirklich ergebnisoffen untersucht. Selbst Arbeitnehmervertretungen haben hier Angst.
Hier muss sich etwas ändern. Richter müssten schon den fehlenden Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz als ein Indiz für eine Mitschuld des Arbeitgebers werten dürfen. Derzeit hilft es Arbeitgebern sogar, vorschriftenwidrig die Beurteilung psychischer Belastungen zu vermeiden, denn das vermeidet auch eine Dokumentation, aus der Hinterbliebene Beweise gewinnen könnten.
Übrigens, um Selbsttötung geht es auch in “Eine Sitte auf der Insel Kreos” in den Essais von Michel de Montaigne. Das ist sehr lesenswert (auf Deutsch z.B. in Reclam 8308), muss aber im Zusammenhang mit den Wertvorstellungen im Frankreich des 16. Jahrhunderts gesehen werden. Aus heutiger Sicht ist das Kapitel eigentlich haarsträubend. Die Wechselwirkung zwischen sich selbst tötenden Menschen und ihren Mitmenschen als Ursache von Suizid ist aber bis heute geblieben. An dieser Wechselwirkung können wir aber auch immer wieder ansetzen. Schließlich ist sie ja der Grund dafür, dass wir Selbsttötungen nicht hinnehmen wollen.

Menschenrechte gelten auch innerhalb der Unternehmensgrenzen

http://www.euractiv.de/soziales-europa/artikel/arbeitsrecht-egmr-starkt-whistleblower-005128

Aktuell – Freitag 22 Juli 2011 – Soziales Europa
Transparency: “Verquere Lage in Deutschland”
Arbeitsrecht: EGMR stärkt Whistleblower
Die Kündigung einer Altenpflegerin, die ihren Arbeitgeber auf Missstände im eigenen Unternehmen hingewiesen hatte, verstößt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. EurActiv.de dokumentiert das Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und zeigt die Reaktionen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Arbeitnehmern den Rücken gestärkt, die Missstände im eigenen Betrieb öffentlich machen (Urteil im Fall “Heinisch vs. Deutschland” / Nr. 28274/08). …

Siehe auch: http://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Text=28274/08

Tagung 15 Jahre Arbeitsschutzgesetz

Arbeit und Leben DGB/VHS
Arbeitsgemeinschaft für politische und soziale Bildung im Land Nordrhein-Westfalen e. V.
http://www.aulnrw.de/de/hauptmenu/seminareveranstaltungen-im-ueberblick/seminare/tagungen/15-jahre-arbeitsschutzgesetz/

Das 15jährige Bestehen des Arbeitsschutzgesetzes war Anlass für eine Tagung, die wir zusammen mit dem Büro für Arbeitsschutz & Betriebsökologie, mit den Zeitschriften “Arbeitsrecht im Betrieb”, “gute ARBEIT” und anderen Medienpartnern in Hamburg veranstaltet haben.
Impressionen

Beiträge:

Praxisberichte: