Maybrit Illner verbrät Sendezeit

In Maybrit Illners heutigem Talk zum Burn-Out langweilte die Journalistin. Sie weiß inzwischen, dass die Mehrheit der Arbeitgeber die Regeln des Arbeitsschutzes missachtet. Aber weil das nicht so mediengerecht ist, geht sie das Thema nicht an. Seichtes Geplauder im ZDF. Aber vielleicht überrascht Rechtsbruch inzwischen wirklich nicht mehr, wenn ihn Unternehmen begehen.
Erst eine Chatterin brachte das Thema des Arbeitsschutzes in die Diskussion ein. Christine Haderthauer griff das auf. Und sie sagt es:

Es gibt jede Menge Arbeitsschutzgesetze und trotzdem passiert es, dass sich die Leute nicht an sie halten.

Von allen Diskussionsteilnehmern war die CSU-Politikern die kompetenteste. Das beruhigt, denn sie ist die Bayerische Staatsministerin für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen. http://maybritillner.zdf.de/ZDFde/inhalt/4/0,1872,8355812,00.html?dr=1:

Als Beispiel nannte die CSU-Politikerin die Ausweitung der Gewerbeaufsicht von der technischen Kontrolle hin zur Überwachung psychischer Gefahren am Arbeitsplatz. “Die Arbeitsrisiken verlagern sich sehr stark vom körperlichen in den psychischen Bereich”, argumentierte die Ministerin. Auch könne der Staat Unternehmen beim “ganzheitlichen Gesundheitsmanagement” helfen, wie es bereits in Bayern geschehe.

Steghard Bender von der IG Metall griff nicht (wie Christine Haderthauer) das nun doch aufgetauchte Thema Arbeitsschutz auf, sondern macht es gleich wieder kaputt. Er kennt anscheinend auch hier nur das Arbeitszeitgesetz und Tarifrecht. Schade. Es gibt in der IGM Leute, die sich besser mit dem Thema auskennen.
Der Unternehmer Stefan M. Knoll erwähnte die Möglichkeit der Eigenkündigung Betroffener. Mehrfach. Diese Möglichkeit besteht tatsächlich und darf natürlich erwähnt werden. Seine Pflichten als Arbeitgeber im Arbeitsschutz dürfen auch erwähnt werden. Aber der Unternehmer thematisiert sie nicht. Soweit die “ganzheitliche” Betrachtungsweise dieses Arbeitgebers.

B5 aktuell: Stress am Arbeitsplatz

Die Diskussionssendung Sonntags um 11 auf B5 aktuell widmet sich am Sonntag (2011-10-02, Zeit: etwa 11:30 bis 12:00) zwei Themen, eines davon ist “Risiko Burnout: haben Sie zuviel Stress am Arbeitsplatz?. (Zuvor gibte es noch ein Stress-Thema: “Erweiterter Euro-Rettungsschirm: kann Europa jetzt aufatmen?“.)
Zu Gast beim Moderator ist jede Woche ein leitender Redakteur einer bayerischen Zeitung. In dieser Sendung ist Rudi Wais (Berlin-Korrespondent der Zeitungen Augsburger Allgemeine, Main-Echo und Straubinger Tagblatt) zu Gast bei Andrea Böckmann.
Ein möglicher Anlass für die Themenwahl ist wohl, dass kürzlich Hans-Jürgen Urban von der die IG Metall vor den Folgen zunehmender psychischer Erkrankungen in der Arbeitswelt gewarnt und von Arbeitgebern und Politik mehr Bereitschaft zur Prävention gefordert hat (2011-09-28). Und zuvor gewann der erschöpfungsbedigte Rücktritt des Schalke-Trainers Ralf Rangnick Aufmerksamkeit in den Medien (2011-09-22).
B5-Hörer können unter der kostenfreien Telefonnummer 0800 80 80 789 anrufen und sich an der Diskussion beteiligen. Nach der Sendung kann ein Podcast heruntergeladen werden.
Ich bin einmal gespannt, ob auch in dieser Diskussion ein wichtiger Grund für psychische Fehlbelastungen am Arbeitsplatz trotz seiner guten Beobachtbarkeit vergessen wird: Immer noch kann der Großteil der Arbeitgeber (weitgehend ungestört von motivierten, aber politisch ausgebremsten Aufsichtseinrichtungen) die seit 1996 bestehende Pflicht zum mitbestimmten Einbezug psychischer Belastungen in den ganzheitlichen Arbeitsschutz missachten:

Es gibt noch viel zu viele Organisationen, die sich bei dem Thema Arbeits- und Gesundheitsschutz zum “Jagen tragen lassen”, die sich viel zu wenig um die Gesundheit ihrer Beschäftigten sorgen und die sich sogar davor drücken, ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Umsetzung des Arbeitsschutzgesetzes nachzukommen. Die entsprechenden Entscheidungsträger handeln in meinen Augen nicht nur grob fahrlässig, weil sie es versäumen, ihrer Fürsorgepflicht nachzukommen und für das Wohlergehen ihrer Beschäftigten Sorge zu tragen, sondern sie stellen auch leichtfertig – gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und des sich abzeichnenden Fachkräftemangels – die Existenz ihrer Unternehmen aufs Spiel. 

Prof. Dr. Jochen Prümper, HTW Berlin in einem Interview
Das Thema Arbeitsschutz und die mit ihm eng verbundene Verhältnisprävention scheint Vielen immer noch zu unanschaulich zu sein. Verhaltensprävention mit netten Tipps für den Einzelnen ist wohl einfach mediengerechter darstellbar. Mal abwarten, wie es am Sonntag laufen wird.
 
Weitere Links

 


Nachbemerkung 2011-01-02: Das Format der Sendung lässt wohl nicht zu, die strukturellen Probleme genauer zu beleuchten, unter denen fehlbelastete Arbeitnehmer heute leiden. So überwogen wieder die Einzelschicksale, bis hin zur Erfahrung, dass Arbeit leichter fällt, wenn man dabei singt. Wie fast zu erwarten war, berichtete dann auch ein Teilnehmer, sein Psychiater habe ihm gesagt, er müsse sich verändern, die Firma werde sich nie verändern. Dieser Irrtum wird eben auch von den Betroffenen immer wieder neu gepflegt. Arbeitnehmer kennen eben immer noch weder ihre Rechte und Möglichkeiten, noch kennen sie die Pflichten von Arbeitgebern und Betriebsräten.
    Immerhin konnte ich aber am Telefon ein paar Hinweise geben: Podcast (Thema ab 28m42s, mein Beitrag ab 36m16s). Genauer hätte ich allerdings nicht von “Gefährdungsbeurteilungen” sprechen sollen, sondern von “ganzheitlichen Gefährdungsbeurteilungen, in die psychisch wirksame Belastungen einbezogen werden”. Im Gegensatz zu den Gefährdungsbeurteilungen des technischen Arbeitsschutzes werden ganzheitliche Gefährdungsbeurteilungen (also mit Einbezug psychisch wirksamer Belastungen) nur bei wenigen Betrieben durchgeführt, obwohl die Arbeitgeber seit 1996 (und noch klarer nach BAG-Beschlüssen im Jahr 2004) dazu verpflichtet sind.
 

Zwei Blogs

http://www.arbeitstattstress.de/2011/08/der-unterschied-zwischen-verhaltens-und-verhaeltnispraevention-mal-anders-ausgedrueckt/
Dr. Stephan List macht in seinem Blog auf das Blog von Johannes Thönneßen (Geschäftsführer und Chefredakteur von Managementwissen online, http://mwonlineblog.blogspot.com/2011/08/burn-out-diagnostizieren.html) aufmerksam, mit einem Zitat zum Thema Gesundheitsmanagement und Verhaltensprävention vs. Verhältnisprävention.
Hier ein anderer Ausschnitt aus dem Artikel in MW-online:

Wenn doch der Druck am Arbeitsplatz die Ursache für die psychischen Belastungen ist – wieso kümmert man sich nicht darum? Warum analysiert man nicht mal, warum der Druck stetig wächst? Vermutlich würde man dann feststellen, dass zu viel Arbeit auf zu wenigen Schultern ruht, aber neue Mitarbeiter einzustellen ist offenbar weitaus weniger attraktiv als Experten mit der Entwicklung von Gesundheitsprogrammen zu beschäftigen, entsprechende Beratungen einzukaufen und externe Anlaufstellen einzurichten, an die sich die überforderten Mitarbeiter wenden können. Da kann man schöne Projekte mit wunderbarer Außenwirkung aufsetzen, fröhliche Mitarbeiter beim Rückentraining zeigen und feine Seminare zur Stressreduktion durchführen.
Merkwürdig…

(Hervorhebung nachträglich eingefügt)
Anmerkungen dazu:
(1) Druck ist einer der Gründe für Belastungen am Arbeitsplatz. Zuviel Druck ist einer der Gründe für Fehlbelastungen am Arbeitsplatz.
(2) Dass zu viel Arbeit auf zu wenigen Schultern ruht, wird ja möglicherweise schon im Betrieb erkannt, aber wenn externe Experten mit ihrem Blick von Außen in das Unternehmen das auch herausfinden, dann ist das Argument leichter zu vermitteln. Außerdem könnten Experten auch Alternativen zum Personalaufbau finden, z.B. dann, wenn Prozesse im Unternehmen in der Wirklichkeit ganz anders funktionieren, als sie in schönen Handbüchern beschrieben sind. Experten können Betriebsblindheit kompensieren.
(3) Ein gutes Gesundheitsprogramm, in dem die Verhaltensprävention nicht vorwiegend dazu dient, der Pflicht zur Verhältnisprävention auszuweichen, kann durchaus hilfreich sein.
(4) Der letzte Satz gefällt mir am besten: “Da kann man schöne Projekte mit wunderbarer Außenwirkung aufsetzen, fröhliche Mitarbeiter beim Rückentraining zeigen und feine Seminare zur Stressreduktion durchführen.” So ist es. Nicht nur “Medien” fallen regelmäßig darauf ‘rein, sondern auch Benchmarker können dem auf den Leim gehen.

Arbeitsschutz ist dem SPIEGEL zu unsexy

Das Burn-Out-Thema ist jetzt in: “Wie Unternehmen ihre Beschäftigten vorm Burnout bewahren wollen” ist das Titelthema im SPIEGEL 30/2011. Die naheliegenste Frage stellt der SPIEGEL aber nicht: Wie wäre es mit der Beachtung der Arbeitsschutzvorschriften? Die Behörden kümmert deren Missachtung leider kaum und der SPIEGEL merkt das auch im zweiten Anlauf nicht. Der Arbeitsschutz sind dem SPIEGEL zu unsexy.
Die Mehrheit der deutschen Unternehmen bezieht psychische Belastung nicht in dem erforderlichen Maß und mit der erforderlichen Mitbestimmung in den Arbeitsschutz mit ein. Das könnte jeder SPIEGEL-Volontär leicht herausfinden. Seit vielen Jahren schadet diese Missachtung der Regeln des Arbeitsschutzes den Menschen jeden Tag, denn Schutzvorschriften nicht schützen dürfen, dann treten eben genau die Schäden auf, die der Arbeitsschutz verhindert soll. Was ist daran so schwer zu verstehen?
http://www.spiegel.de/spiegel/print/index-2011-30.html
http://forum.spiegel.de/showpost.php?p=8353862&postcount=37

MAF, das bayerische Danaergeschenk

2012-07-13
http://www.caritasmuenchen.de/archive/media1646520.pdf

GANZHEITLICHES BETRIEBLICHES GESUNDHEITSMANAGEMENT SYSTEM
(GABEGS)
HANDBUCH

3.1.1.1 Der Fragebogen
Der Fragebogen erfasst körperliche und psychische Beschwerden als Hinweise
auf Fehlbeanspruchungen.
Anhand der Befragungsergebnisse lassen sich Rückschlüsse ziehen auf:
· physische Fehlbelastungen
· psychomentale Fehlbelastungen
· psychosoziale Fehlbelastungen/ Konflikte
· Führungsverhalten der Vorgesetzten
· Zufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen
Der Fragebogen ist im Unterschied zu herkömmlichen Konzepten nur ein
Indikator, der neben einer Häufung bestimmter Beschwerden zunächst nur
Hinweise auf die möglichen Ursachen liefert.
Der Vorteil dieses „offenen“ Befragungssystems ist, dass auch diejenigen
Probleme aufgedeckt werden, die mit detailgenauen Fragen nicht erfasst würden.

Der Nachteil ist, dass der Fragebogen den Anforderungen des Arbeitsschutzes nicht genügt, denn es gibt getestete Befragungssysteme, mit denen aus Arbeitsbedingungen hervorgehende psychischen Belastungen direkt erfasst werden können. Darum können Betriebsräte und Personalräte das in GABEGS benutzte Befragungssystem ablehnen, wenn sie das für erforderlich halten. Es ist jedoch möglich, es anonymisiert neben Erhebungsverfahren zu verwenden, mit dem nicht Mitarbeiter analysiert, sondern Arbeitsbedingungen direkt beurteilt werden.
 


2012-07-07
In Bayern wird weiterhin für GABEGS geworben, und damit auch für die MAF, die Mitarbeiterbefragung über Arbeitsbedingungen als Führungselement. Schon die Bezeichnung ist irreführend, denn von den Mitarbeitern wird mehr abgefragt, als nur die Beurteilung ihrer Arbeitsbedingungen bzw. ihrer Arbeitsumwelt. Auch im Umwelt Objekt Katalog Bayern segelt die MAF unter falscher Flagge. Die Themenkategorie ist “Umweltforschung”. Gefragt wird aber auch gründlich nach Gesundheits- und Arbeitsfähigkeisdaten der Arbeitnehmer. Oder habe ich den Begriff der “Umwelt” falsch verstanden? Es könnte ja auch um Arbeitnehmer als Umwelt der in Bayern zu schützenden Arbeitgeber gehen.
Warnung an Arbeitnehmer: Das MAF-Verfahren ist immer noch nicht in der Liste der Test-Verfahren der BAuA geführt. Das Fragebogenverfahren, mit dem auch Gesundheits- und Arbeitsfähigkeisdaten individueller Mitarbeiter ermittelt werden können, ist nicht anonym. Arbeitnehmervertreter sollten das nicht zulassen. Zur Verhältnisprävention im Arbeitsschutz hat der Arbeitgeber Arbeitsplätze zu untersuchen, nicht individuelle Arbeitnehmer zur Verhaltensprävention.
Das ist keine kategorische Ablehnung der Verhaltensprävention. Fragebögen, mit denen sich auch für die Verhaltensprävention ein Bild über das Befinden und die Beanspruchung der Mitarbeiter gewinnen lässt, lassen sich durchaus zusätzlich zu den für den Arbeitsschutz geeigneten verhältnispräventiv orientierte Fragebogenverfahren zur Beurteilung der Arbeitsbedingungen einsetzen. Aber die Anonymität muss sichergestellt bleiben.
Zumindest aus Arbeitnehmersicht hat das bayerische “Zukunftsministerium” wohl die falschen Berater. Es besteht die Gefahr, dass mit GABEGS der Arbeitsschutz missbraucht wird, um für Arbeitgeber Gesundheits- und Arbeitsfähigkeits-Daten individueller Mitarbeiter zu gewinnen. Solche Daten werden aber im Arbeitsschutz gar nicht benötig. Die Berater der bayerischen Landesregierung spekulieren möglicherweise auch darauf, dass sich viele Arbeitnehmervertreter mit der Thematik nicht gut auskennen und GABEGS nicht kritisch verstehen. Auch darum muss in den Betriebsräten und Personalräten dringend mehr Kompetenz aufgebaut werden.
Thematisierung in “den Medien”: Leider versteht auch kaum eine Journalistin und kaum ein Journalist, wie man das oft überwiegend Gesundheitsmanagement verhaltensorientierte als Vehikel zur Beobachtung einzelner missbrauchen und dabei den verhältnisorientierten Arbeitsschutz marginalisieren kann. Es ist heute für Unternehmen noch zu leicht, mit einem freiwilligen Gesundheitmanagement in der Öffentlichkeit Punkte zu gewinnen, ohne das überprüft wird, ob in diesem Gesundheitsmanagement der vorgeschriebene Arbeitsschutz wenigstens ausreichend berücksichtigt wurde.
 
Gesundheitsmanagement:

 


2012-02-23
Die Links im ursprünglichen Blog-Eintrag sind zum Teil nicht mehr aktuell.
Neue Links:

 


2011-07-13
Mitarbeiterbefragung über Arbeitsbedingungen als Führungselement (MAF):

Die BAuA listet die MAF nicht auf. Der Handlungsleitfaden soll in einer wissenschaftlich begleiteten Pilotphase in etwa fünf Unternehmen bis zum Jahr 2005 auf Praxistauglichkeit getestet worden sein. Vielleicht passt die MAF nicht in den Anwendungsbereich des Arbeitsschutzes oder sie erfüllt andere Kriterien der BAuA nicht oder die Bayern haben kein Interesse daran, dass die BAuA den Fragebogen in ihre Sammlung mit aufnimmt. Wer weiß.
Der MAF-Fragebogen ist verhaltens- und verhältnisorientiert. Er ist brauchbar, aber sein Einsatz (vorwiegend wohl in Bayern) blockiert die Anwendung besserer Verfahren, die auch geeigneter für den vorgeschriebenen Arbeitsschutz sind, also für den “Pflichtteil” des Gesundheitsmanagements. Die Auswahl eines schlechteren Instruments aus einem großen Angebot an besseren Instrumenten schadet darum auch der Qualität des Zertifikats “Betriebliches Gesundheitsmanagement” bayerische Betriebe, wenn sie diesen Fragebogen als Instrument des Ganzheitlichen Betriebliches Gesundheitsmanagement Systems (GABEGS) einsetzen.
Betriebsräte sollten (ggf. mit guten Sachverständigen) in der Mitbestimmung bessere Verfahren auswählen. Dabei bieten das MAF-Handbuch und das Betriebshandbuch für eine Betriebsvereinbarung durchaus eine gute Struktur und viele Anregungen zu Regelungen, für die man Arbeitgeber mit Hinweis auf den staatlich-bayerischen MAF vielleicht leichter gewinnen könnte. Das Betriebshandbuch ist eine Vorlage, die betriebsspezifisch verändert werden kann. Das MAF-Fragebogenverfahren selbst sollte aber zugunsten für den Arbeitsschutz geeigneterer Verfahren (z.B ISTA) nicht übernommen werden.

FOCUS widmet der Fürsorgepflicht keine Silbe

http://netkey40.igmetall.de/homepages/koeln_neu/hochgeladenedateien/pdf/
Gute%20Arbeit/Leserbrief%20Focus%2020100308.pdf

8. März 2010 – Köln-Leverkusen
Leserbrief zum Focus Titelthema “Die Burn-out-Gesellschaft” (Ausgabe 10/10 08.03.2010)
Ich bin sehr erfreut, dass Sie das Thema Burn-Out, verursacht durch Belastungen am Arbeitsplatz einmal aufgegriffen haben. Aus meiner täglichen Arbeit kann ich ihnen leider bestätigen, dass es in allen Unternehmen ein aktuelles Thema ist, besonders jedoch in den sogenannten hochqualifizierten Angestelltenbereichen.
In ihrem Artikel befassen Sie sich stark mit den möglichen Ursachen für ein Burn-Out, gehen auf verschiedene Einzelschicksale ein und erwähnen sogar, dass es manche Promis schick finden sich eine Auszeit wegen eines Burn-Outs zu nehmen. Dies finde ich ehrlich gesagt sehr einseitig dargestellt, denn es erweckt den Eindruck, als wären die ArbeitnehmerInnen diejenigen, die verantwortlich sind für ihre Erkrankung, weil sie nicht rechtzeitig die Notbremse gezogen haben, oder einfach einer Modeerscheinung folgen wollen.
Sie berichten von einer Ratlosigkeit der Unternehmen, die sich auf großen Konferenzen zusammenfinden um nach Auswegen zu suchen, aber Sie gehen mit keiner Silbe darauf ein, dass vor allem die Unternehmen eine Fürsorgepflicht für ihre ArbeitnehmerInnen haben. In der EURahmenrichtlinie (89/391/EWG) – Präambel heißt es: “Die Verbesserung des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten am Arbeitsplatz gehört zu “Zielsetzungen, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen.” Ausserdem finden sich in fast allen Unternehmenskodexen die Worte “…die Gesundheit unserer MitarbeiterInnen ist unser höchstes Gut…” Dies sieht jedoch in der Realität ganz anders aus. Es wird sogar öffentlich formuliert. “Den Druck der Finanzmärkte herunterzubrechen auf jeden einzelnen Mitarbeiter, das ist das Kunststück; das über das Überleben der Betriebe entscheiden wird.” (Martin Kannegiesser, Präsident Gesamtmetall, November 2000)
Und genauso sieht die Unternehmenspolitik in den meisten Betrieben aus. Wirklich ernsthaft haben sich nur wenige Betriebe mit den Gefahren psychischer Belastungen beschäftigt und wenn nur aufgrund von Druck seitens der Betriebsräte. Deshalb wurde auch bisher in nur 30% aller deutschen Betriebe[1], die seit 1996 im Arbeitsschutzgesetz vorgeschriebene Gefährdungs- und Belastungsbeurteilung durchgeführt.
Diese schreibt den Arbeitgebern vor, alle Belastungen eines Arbeitsplatzes zu erfassen – auch die psychischen Belastungen, sie zu dokumentieren und Massnahmen zur Entlastung umzusetzen. Bei einer solchen Gefährdungs- und Belastungsbeurteilung würde unter Umständen sichtbar, dass die Personalbemessung viel zu gering ist, oder die Arbeitsorganisation nicht optimal gegliedert, etc. Es müssten dann Massnahmen eingeleitet werden, die z.B. Weiterbildungen und Umstrukturierungen bedeuten würden.
Davor fürchten sich viele Arbeitgeber aus zwei Gründen.

Das ist aber nicht gewollt.[3] Dabei könnten die Arbeitgeber durchaus daraus profitieren. Denn Arbeitsorganisationen könnten effektiver gestaltet, die Mitarbeiter entlastet und motiviert und die krankheitsbedingten Ausfalltage deutlich reduziert werden. “Von 1,50EUR, die das Unternehmen in die Gesundheit investiert, kommen 5,60EUR als Ertrag zurück.” (Studie der Harvard Medical School für Unilever[4] Deutschland) Zu befürchten ist jedoch, dass dieses wichtige Präventionsinstrument, Gefährdungs- und Belastungsbeurteilung, bald auch nicht mehr gegeben ist. Denn in der Empfehlung der High Level Group (“Stoiber[5] Kommission“) wird vorgeschlagen, zum Abbau von Bürokratiekosten, die Dokumentationspflicht der Gefährdungs- und Belastungsbeurteilung in Betrieben mit bis zu 500 MitarbeiterInnen abzuschaffen. Damit wäre faktisch jede Kontrollmöglichkeit der vereinbarten Massnahmen genommen und das in 92% aller europäischen Betriebe.
Was ich letztlich sagen möchte ist, dass Erkrankungen aufgrund psychischer Belastungen keine Modeerscheinung sind, sondern die Konsequenz von unverantwortlichem Unternehmerverhalten und dass es durchaus Mittel und Wege gibt Belastungen abzubauen, sie aber bewusst nicht genutzt werden. Die IG Metall wird in diesem Jahr mit dem Projekt “Gute Arbeit im Büro” in einigen Pilotbetrieben versuchen einen ganzheitlichen Gesundheitsschutz zu etablieren. Eine Auftaktveranstaltung für die Region Köln dazu besuchten vorletzten Samstag 140 interessierte KollegInnen, ohne dass es dazu einer großartigen Werbung bedurft hätte.
Zu diesem Projekt stehe ich gerne als Ansprechpartnerin zur Verfügung.
Kerstin D. Klein
Fachsekretärin
IG Metall Verwaltungsstelle Köln- Leverkusen

(Links und Anmerkungen nachträglich eingefügt)
[1] Es gibt hier unterschiedliche Angaben. Gemeinsam ist ihnen, dass sich die Mehrheit der Unternehmen nicht an die Regeln des Arbeitsschutzes hält. Als Grund für die Differenzen bei den Angaben vermute ich, dass die Qualität des Einbezugs psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz unterschiedlich bewertet wird.
[2] Hier handelt es sich sogar um eine Mitbestimmungspflicht.
[3] Wenn der Unwille zu Ordnungswidrigkeiten führt, könnte das von Aufsichtsorganen geahndet werden. Bei Wiederholung kann daraus eine Straftat werden. Aufsichtspersonen mögen das wollen, aber es scheint politisch nicht gewollt zu sein, dass sie ernsthaft und wirkungsvoll kontrollieren dürfen. Wenn hier der Staat zum Komplizen wird, dann ist das ein über den Arbeitsschutz hinausgehendes Problem.
[4] Unilever gehört leider auch zu den vielen Unternehmen, die im Gesundheitsmanagement versuchen, die Verhältnisprävention gegenüber der Verhaltensprävention zu marginalisieren.
[5] CSU

Wenn Arbeit krank macht

Wenn Arbeit krank macht
Süddeutsche Zeitung, 2010-08-13, Seite 4
Gut beobachtet: Arbeitgeber vernachlässigen einerseits den Gesundheitsschutz im Bereich der psychischen Belastungen, versuchen aber andererseits, sich von den steigenden Krankenversicherungskosten abzukoppeln:

… Die Vorbehalte [der Firmen] gegenüber guter Prävention zeigen auch wieder, dass die Pläne von Gesundheitsminister Philipp Rösler falsch sind, den Arbeitgeberanteil am Krankenkassenbeitrag einzufrieren. Damit würden künftig die Arbeitnehmer alleine dafür zahlen, dass Firmen durch schlechte Vorsorge die Gesundheit ihrer Belegschaft gefährden.

TAZ, 2011-05-11:

… Nun wird der Mann, der abseits von Polittalkshows und Parlamentsdebatten wenig bekannt ist, auch offiziell einer der mächtigsten Politiker des Landes: Er soll Rösler im Amt des Bundesgesundheitsministers folgen.
[Daniel] Bahr gilt ohnehin als Mann hinter den Reformen des Ministers. Als Experte für die zähen Debatten mit Pharmafirmen und Krankenkassen, als Mann für die entscheidenden Details.

Siehe auch: Vorzeitiger unfreiwilliger Ruhestand, 2011-10-17

Stimmung machen

“Stimmung machen” heißt die Überschrift in NEON vom Mai 2011.
http://www.neon.de/kat//wissen/job/335944.html:

Weshalb nicht nur dein Chef fürs Betriebsklima zuständig ist – sondern auch du selbst
von Christoph Koch
Heute schon den Kollegen ein Lächeln geschenkt und einen lustigen Youtube-Link geschickt? Oder doch eher das dreckige Geschirr in der Teeküche ignoriert? Ein Plädoyer von NEON-Redakteur Christoph Koch für mehr Sozialklimaschutz im Büro. Denn auch ein gut bezahlter Job mit Selbstverwirklichungsgarantie macht mit zerstrittenen Kollegen keinen Spaß.

Speziell in den bunteren Monatsillustrierten liegt beim Thema “Arbeitsbedingungen” der Schwerpunkt auf individuellen Verhaltensverbesserungen, also auf der Verhaltensprävention. “Weshalb nicht nur dein Chef fürs Betriebsklima zuständig ist” impliziert, das behauptet würde, das nur der Chef (nur der Arbeitgeber) für das Betriebsklima zuständig sei. Dass Journalisten darauf hinweisen, dass die meisten Arbeitgeber den Arbeitsschutz (und damit die Erfordernisse der Verhälnisprävention) missachten, kommt jedoch nur ganz selten vor. Sie müssten eigentlich nur lernen, beharrlich zu recherchieren: Sind Arbeitgeber wirklich daran interessiert, Arbeitsbelastung zu analysieren und zu dokumentieren? Gibt es Betriebsvereinbarungen, in denen die Prozesse und Kriterien der im Arbeitsschutz erforderlichen Gefährdungsbeurteilungen mit Einbezug psychischer Belastungen beschrieben sind? Das lässt sich konkret recherchieren. Statt dessen lassen sich zu viele Journalisten von hübsch komplexen Programmen zum Gesundheitsmanagement unkritisch beeindrucken.
Schade, wenn bei den Lesern mit hobbypsychologischen Ratschlägen Stimmung in Richtung Selbsthilfe gemacht wird und der Journalist dabei geflissentlich übersieht, dass kaum ein Arbeitgeber seiner Verpflichtung nachkomment, überhaupt erst einmal die Arbeitsbedingungen in seinem Unternehmen zu verstehen.
Christoph Koch schreibt: “Wir müssen mehr in die [Arbeits-]Atmosphäre investieren! … Nur wie?” Ist es tatsächlich so unsexy, von Arbeitgebern zu verlangen, dass sie mindestens die Vorschriften des Arbeitsschutzes befolgen?
Natürlich müssen Alle ihre individuellen Beiträge zum Arbeitsklima leisten und können sich dabei nicht auf das Herumjammern beschränken. Aber ist es nicht ein bisschen zu frech z.B. wenn Arbeitgeber Mitarbeiter in die Eigenverantwortung nehmen und gleichzeitig die meisten Unternehmen seit 1996 (bzw. spätestens nach klaren BAG-Beschlüssen im Jahr 2004) ihren arbeitsschutzrechtlichen Pflichten nicht nachkommen?

Privatisierung der Folgen von zu hohem Arbeitsdruck

Ein Interview und ein Artikel von Nicola Holzapfel in der Süddeutschen Zeitung
 
http://www.sueddeutsche.de/karriere/kampf-dem-stress-arbeitgeber-denken-nicht-langfristig-1.571022, 2007-07-17, Interview mit Nick Kratzer:

… Natürlich gibt es Arbeitgeber, die Vitamin-Bars einrichten oder Nordic-Walking-Kurse anbieten. Aber das ist eine Privatisierung der Folgen von zu hohem Arbeitsdruck. Da wird dem Beschäftigten die Verantwortung für den Umgang mit Stress wieder zurückgespielt. …

 
http://www.sueddeutsche.de/karriere/arbeitszeit-wenn-der-job-am-leben-frisst-1.499239, 2005-02-27:

Früher anfangen, später gehen: Über den unausgesprochenen Zwang, freiwillig mehr zu arbeiten.

 
Eine wirkliche Verringerung von Kompexität ist oft nur möglich, wenn man einen Teil von ihr irgendwoandershin verschieben kann. Beispielsweise verlagern Banken ihren Schalterdienst in die Computer ihrer Kunden. Und Unternehmen können Verwaltungsaufgeben zu ihren Mitarbeitern verschieben, weil sich das nicht so gut messen lässt, wie Mehrarbeit oder eine Gehaltsminderung. Gefährdungsbeurteilungen mit Einbezug psychischer Belastungen verbessern diese Messbarkeit ein wenig. Könnte das ein Grund sein, dass sich Arbeitgeber gegen sie wehren?