Gefährdungen reichen

https://www.bund-verlag.de/aktuelles~BAG-stärkt-Betriebsrat-im-Arbeitsschutz~?newsletter=BR-Newsletter%2F07.11.2017

[…] Das BAG vertrat seit geraumer Zeit die problematische Auffassung, die Mitbestimmung im Gesundheitsschutz sei eingeschränkt und verlange eine konkrete, im Betrieb nachweisbare Gesundheitsgefahr. Das war vor allem die Auffassung des Urteils vom 11.12.2012 (1 ABR 81/11).
Das neue Urteil [1 ABR 25/15], das diese Auffassung verwirft, ist somit ein Paukenschlag für die Betriebsräte, die im Arbeits- und Gesundheitsschutz tätig sind. Ab sofort brauchen sie nicht mehr eine konkrete Gesundheitsgefahr im Betrieb nachzuweisen, um tätig zu werden. Vielmehr reichen bloße Gefährdungen aus. Damit sind vor allem die Rechte der Betriebsräte im Präventionsbereich deutlich gestärkt. […]

Mitbestimmung bei der Gefährdungsbeurteilung

http://www.ergo-online.de/site.aspx?url=html/rechtsgrundlagen/mitbestimmung/mitbestimmung_des_betriebsrat.htm, Regine Rundnagel

  • Der Betriebsrat besitzt umfassende Mitbestimmungsrechte bei der Regelung des Gesundheitsschutzes und der Unfallverhütung.
  • Dazu gehört auch die Mitgestaltung der Art und Weise der Gefährdungsbeurteilungen oder der Unterweisungen.
  • Er ist verpflichtet, mit den inner- und außerbetrieblichen Fachkräften des Arbeits- und Gesundheitsschutz zusammenzuarbeiten.
  • Der Betriebsrat ist im Arbeitsschutzausschuss zusammen mit der Fachkraft für Arbeitssicherheit, dem Betriebsarzt und dem Arbeitgeber an der Koordination des Arbeits- und Gesundheitsschutzes beteiligt.
  • Arbeits- und Gesundheitsschutz kann nur unter Beteiligung der Beschäftigten erfolgreich im Betrieb umgesetzt werden.
  • Der Betriebsrat kann sein Mitbestimmungsrecht vor dem Arbeitsgericht einklagen.
  • Bei Streitigkeiten über die Auslegung oder Durchführung von Maßnahmen entscheidet die Einigungsstelle.

 


2004: http://www.boeckler.de/pdf/mbf_as_brmitb_2006.pdf, Ulla Wittig-Goetz

Jahrelang war es strittig, ob das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG auch die Gefährdungsbeurteilung, die das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) im § 5 vorschreibt, umfasst. Durch zwei Entscheidungen (1 ABR 13/03 und 1 ABR 4/03) des Bundesarbeitsgerichtes (BAG) vom Juni 2004 wurde dazu Klarheit geschaffen und die Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte erheblich gestärkt.
Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden, dass die gesetzliche (1 ABR 13/03 und 1 ABR 4/03) Verpflichtung des Arbeitgebers zur Erstellung einer Gefährdungsbeurteilung sowie zur Arbeitsplatz bezogenen Unterweisung nach dem Arbeitsschutzgesetz der Mitbestimmung unterliegt. Gefährdungsbeurteilungen ohne Mitbestimmung des Betriebsrates bedeuten in Zukunft eine grobe Pflichtverletzung des Arbeitgebers.
Wörtlich heißt es in den beiden BAG-Entscheidungen: „Das Mitbestimmungsrecht setzt ein, wenn eine gesetzliche Handlungspflicht objektiv besteht und wegen Fehlens einer zwingenden Vorgabe betriebliche Regelungen verlangt, um das vom Gesetz vorgegebene Ziel des Arbeits- und Gesundheitsschutzes zu erreichen. Ob die Rahmenvorschrift dem Gesundheitsschutz mittelbar oder unmittelbar dient, ist unerheblich.“ …

(Hervorhebung nachträglich eingefügt)
 


2002: http://archiv.soca-online.de/meldung_volltext.php3?si=1&id=3d888b694471d&akt=news_news&view=&lang=1 (2011-08-29, Link nicht mehr verfügbar)

Mitbestimmung durch Arbeitsschutzgesetz
Nachdem eine Reihe von Landesarbeitsgerichten in einzelnen Aspekten des Arbeitsschutzgesetzes und der Bildschirmarbeitsplatzverordnung bereits eine Mitbestimmung der Betriebs- und Personalräte bestätigt haben, hat nun auch das Bundesarbeitsgericht eine umfassende Mitbestimmung beschlossen.
Lange hatte es gedauert, dass eine Klage auf Grundlage des 1996 erlassenen Arbeitsschutzgesetz vor das Bundesarbeitsgericht gekommen ist. Im Frühjahr 2002 war es dann soweit. Der Antragsteller, ein großes Luftfahrtunternehmen aus Hamburg, wollte durch das Bundesarbeitsgericht feststellen lassen, dass dem Betriebsrat in einer Reihe von Fragen, die das Arbeitsschutzgesetz betreffen, keine Mitbestimmung zusteht. Das Bundesarbeitsgericht hat alle Anträge vollständig zurückgewiesen.
Zu den einzelnen Punkten, die bei diesem Verfahren zur Verhandlung standen, gehörten u. a.:

  • Gestaltung des Arbeitsplatzes an Bildschirmgeräten und Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer;
  • Unterweisungspflicht des Arbeitgebers bei der Einführung und Änderung neuer Techniken, Technologien bzw. bei der Veränderung von Arbeitsinhalten, Arbeitsfeldern;
  • Gestaltung und Durchführung der Qualifizierung und Unterweisung am Bildschirmarbeitsplatz;
  • Bildung eines Gesundheitssauschusses mit eigenen Aufgaben, Rechten und Pflichten;
  • die Verpflichtung des Arbeitgebers, die Arbeitsplätze einer Arbeitsplatzanalyse zu unterziehen und eine Beurteilung der Sicherheits- und Gesundheitsgefahren vorzunehmen;
  • die Unterbrechung der Tätigkeit an Bildschirmgeräten durch Pausen, die Bestandteil der Arbeitszeit sind.

Hierbei ist insbesondere die Bestätigung der Mitbestimmung bei der Durchführung der Arbeitsplatzanalyse nach dem Arbeitsschutzgesetz eine wichtige Entscheidung. Sie eröffnet Betriebs- und Personalräten einen breiten Handlungsspielraum und die Perspektive, einen starken Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen nehmen zu können.
soCa Projekt
18.09.2002

 
2002: Im BAG-Beschluss geht es konkret um die folgenden Punkte:

  1. Gesundheitsschutz;
  2. Gesundheitsschutz bei der Arbeit mit Bildschirmgeräten;
  3. Gesundheitsschutz bei Regelungen über folgende Fragen:
    1. Informations- und Unterrichtungspflicht des Arbeitgebers über allgemeine Informationen über den Gesundheitsschutz bei Bildschirmarbeit;
    2. Unterweisungspflicht des Arbeitgebers bezüglich der Arbeit an Bildschirmgeräten;
    3. Gestaltung des Arbeitsplatzes an Bildschirmgeräten und Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer;
    4. Unterweisungspflicht des Arbeitgebers bei der Einführung und Änderung neuer Techniken/ Technologien bzw. bei der Veränderung von Arbeitsinhalten, Arbeitsfeldern oder Tätigkeiten oder anderen Änderungen am Bildschirmarbeitsplatz;
    5. Gestaltung und Durchführung der Qualifizierung und Unterweisungen am Arbeitsplatz mit Bildschirmgeräten;
    6. Einräumung eines Anspruchs der Arbeitnehmer auf ein Präventionsprogramm und Regelung von Zielen und Inhalten dieses Programms;
    7. Bildung eines Gesundheitsausschusses mit eigenen Aufgaben, Rechten und Pflichten;
    8. Verpflichtung des Arbeitgebers, die Arbeitsplätze einer Arbeitsplatzanalyse hinsichtlich der Beurteilung der Sicherheits- und Gesundheitsbedingungen unter Mitwirkung der Arbeitnehmer zu unterziehen und Verpflichtungen des Arbeitgebers, auf Grund einer Bewertung dieser Arbeitsanalyse Maßnahmen hinsichtlich des Gesundheitsschutzes neu zu treffen;
    9. Einräumung eines Anspruchs der Arbeitnehmer auf regelmäßige präventivmedizinische Untersuchungen;
    10. Informationspflicht des Arbeitgebers gegenüber dem Betriebsrat über den Stand der präventivmedizinischen Untersuchungen;
    11. Verpflichtung des Arbeitgebers, auf Grund präventivmedizinischer Untersuchungsergebnisse in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsausschuß unter Mitbestimmung des Betriebsrats Maßnahmen zum Gesundheitsschutz festzulegen;
    12. Unterbrechung der Tätigkeit an Bildschirmgeräten durch Pausen, die Bestandteil der Arbeitszeit sind.

 


2009: http://www.arbeit-und-arbeitsrecht.de/kommentare/title-raw%5D-87

… BAG, Beschluss vom 18. August 2009 – 1 ABR 43/08
Der Betriebsrat hat nicht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG mitzubestimmen, wenn der Arbeitgeber externe Personen oder Stellen nach § 13 Abs. 2 ArbSchG damit beauftragt, Gefährdungsbeurteilungen oder Unterweisungen durchzuführen. …

Wenn die externen Beurteiler “B” von dem Unternehmen B… kommen, an das ich denke, dann ist das in Ordnung. Denn in diesem Fall war wichtig, was das BAG beschrieb: Es gab eine Betriebsvereinbarung, die die Anforderungen an die Qualifikationen der Untersuchenden regelte. Der Betriebsrat hatte hier also bereits mitbestimmt. Wenn der Betriebsrat sauber gearbeitet hat, dann kann er sich über jeden externen Beurteiler freuen, der sich an die Betriebsvereinbarung hält. Ich persönlich habe von einem Unternehmen erfahren, das zuvor zu einem größeren Unternehmen gehörte. Nach dem Verkauf übernahm eine externe Firma B… den Arbeitsschutz und ersetzte auch die bestehenden Beurteilungsprozesse durch eigene Prozesse. Der Betriebsrat war zufrieden.
 
http://www.meyer-koering.de/de/meldungen/mitbestimmung-des-betriebsrats-bei-aufgabenuebertragung-nach-13-abs-2-arbeitsschutzgesetz-30-06-2010.1375/, RA Dr. Nicolai Besgen

… Die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bei Gefährdungsbeurteilungen und Unterweisungen werden, worauf das Bundesarbeitsgericht hingewiesen hat, nicht verkürzt. Dem Betriebsrat ist es unbenommen, im Rahmen seiner Mitbestimmung gegenüber dem Arbeitgeber oder erforderlichenfalls auch in der Einigungsstelle dafür zu sorgen, dass in einer Betriebsvereinbarung generalisierende Regelungen darüber getroffen werden, welche Qualifikation und Kenntnisse die mit der Durchführung der Gefährdungsbeurteilungen und der Unterweisungen befassten Personen besitzen müssen.

 
Auch hier sieht man, dass es sich immer wieder lohnt, BAG-Beschlüsse genau durchzulesen, bei denen die Arbeitnehmerseite “verloren” hat. Gerade solche Beschlüsse sind eine wertvolle Handlungsanleitung für Betriebsräte und Personalräte.
 


Siehe auch:

Arbeitsschutztraining von leitenden Angestellten

Ein Arbeitsschutztraining von leitenden Angestellten ist eine wichtige und gute Sache. Drei Dinge sind hierbei jedoch zu beachten:

  1. Mitbestimmung: Wenn ein Training zum Thema der Vermeidung psychischer Fehlbelastung gegenüber Aufsichtspersonen, Auditoren, Bewerbern, der Firmenleitung, den Mitarbeitern, der Öffentlichkeit usw. als Maßnahme des Arbeitsschutzes ausgewiesen werden soll, dann hat der Betriebsrat auch dann mitzubestimmen, wenn an einer solchen Unterweisung nur leitende Angestellte teilnehmen. Die Mitbestimmung betrifft auch die Gestaltung der Unterweisung. Damit die Arbeitnehmervertretung nicht behindert wird, hat sie mitzubestimmen bevor das Training als Arbeitsschutzmaßnahme geltend gemacht wird.
        Eine “Einbindung” von Arbeitnehmervertretern in Entscheidungen über das Training reicht dazu nicht aus, denn bei einer solchen Einbindung könnte es sich ja nur um die Wahrnehmung des umfassenden Informationsrechtes der Arbeitnehmervertretung handeln. Nachgewiesen werden muss eine tatsächliche Mitbestimmung.
        Eine Arbeitgeberin kann die Mitbestimmung nicht deswegen verweigern, weil die Trainees leitende Angestellte sind, sondern die Mitbestimmungspflicht wird dadurch begründet, dass die Arbeitnehmervertretung sicherzustellen hat, dass Arbeitschutzmaßnahmen tatsächlich dem gesetzlich vorgeschriebenen Schutz der von ihr vertretenen Mitarbeiter dienen.
        Beispiele: (a) Ein Training, in dem leitende Angestellte überwiegend zur ihrer eigenen rechtlichen Absicherung lernen, ihre mit dem Arbeitsschutz verbundenen Haftungsrisiken zu minimieren, ist nicht notwendigerweise eine Arbeitsschutzmaßnahme. (b) Als Arbeitsschutzmaßnahme ungeeigntet sind auch Trainings, in denen die im Arbeitsschutz nachrangige Verhaltensprävention (dem “eigenverantwortlichen” Verhalten individueller Mitarbeiter geltende Maßnahmen) Vorrang vor der im Arbeitsschutz vorrangigen Verhältnisprävention (den Arbeitsbedingungen geltende Maßnahmen) hat. (c) Eine Schulung leitender Angestellter, die ihnen helfen soll, Arbeitgeberpositionen zum Thema der psychischen Belastungen zu vertreten, ist keine Maßnahme im Sinn des Arbeitsschutzgesetzes und nicht mitbestimmt.
        Es gibt viele Themen für ein Training leitender Angestellter, die arbeitsschutzbezogen sein können, aber bei denen das Wohl der Mitarbeiter nicht Priorität hat. Darum können solche Trainings nicht automatisch als Arbeitsschutzmaßnahme oder speziell als eine Unterweisung gelten, die den Forderungen des Arbeitsschutzgesetzes entspricht.
  2. Gefährdungsbeurteilung: Vor einer Unterweisung hat eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt zu werden, damit der Unterweisung die konkrete Belastungssituation im Betrieb zugrunde liegt. Grundlage dieser Bedingung ist ein Beschluss des Bundesarbeitsgerichtes im Jahr 2011. Erwirkt wurde dieser Beschluss von einer Arbeitgeberin, die (so meine persönliche Vermutung) verhindern wollte, dass eine von den Arbeitnehmervertretern geforderte Unterweisung zur gewerkschaftlichen Indoktrination (aus Sicht der Arbeitgeberin) missbraucht wird.
        Die Gefährdungsbeurteilung als Voraussetzung einer als Arbeitsschutzmaßnahme ausweisbaren Unterweisung ist (keine Vermutung, sondern Vorschrift) mitbestimmungspflichtig.
        Die Arbeitnehmervertretung kann nach pflichtgemäßer und fachgerechter Prüfung jedoch feststellen, dass ein konkretes Training von leitenden Angestellten den konkreten Arbeitsschutzanforderungen im Betrieb dient. Dann entspräche die Unterweisung der leitenden Angestellten auch ohne Vorliegen einer Gefährdungsbeurteilung den vom Bundesarbeitsgericht vorgegebenen Anforderungen für eine aus dem betrieblichen Belastungsszenario ableitbare Arbeitschutzmaßnahme.
  3. Dokumentation: Wenn das Training leitender Angestellter als Arbeitsschutzmaßnahme gelten soll, dann ist das gesamte Unterweisungsmaterial Bestandteil der im Arbeitsschutzgesetz geforderten Dokumentation, die der Arbeitnehmervertretung und anderen zur Einsicht Berechtigten vollständig zur Verfügung zu stellen ist.

Gefährdungsbeurteilung nicht dem Arbeitgeber überlassen

http://www.djv.de/fileadmin/DJV/betriebsrat/BR-Info/br_06_04.pdf, 2004-09-14

Gesundheitsschutz/Gefährdungsanalyse
Die Bildschirmarbeitsrichtlinie verpflichtet den Arbeitgeber, eine so genannte Gefährdungsanalyse durchzuführen, mit der psychische und körperliche Belastungen auf Grund der Arbeitsorganisation und der Softwareergonomie beurteilt werden sollen. Der Betriebsrat hat insoweit ein Mitbestimmungsrecht gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 7 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG). Das Bundesarbeitsgericht hob den Spruch einer Einigungsstelle in einer derartigen Angelegenheit auf, da dem Arbeitgeber durch die Einigungsstelle zu viele Kompetenzen zugewiesen worden waren. Es könne nicht dem Arbeitgeber überlassen bleiben, das Konzept für eine derartige Gefährdungsanalyse zu erstellen. Der Betriebsrat war durch die Einigungsstelle auf ein Beratungsrecht beschränkt worden. Das Bundesarbeitsgericht kritisierte, der Spruch der Einigungsstelle enthalte nur allgemeine Vorgaben an die Arbeitgeberin zu den Themen der Unterweisung, den möglichen Gegenständen und Methoden der Gefährdungsbeurteilung. Die Anwendung auf die einzelnen, unterschiedlichen Arbeitsplätze im Betrieb sei dagegen ausschließlich dem Arbeitgeber überlassen worden (BAG 1 ABR 4/03 vom 8. Juni 2004).

Das BAG-Urteil hatte ich bereits früher in diesem Blog angesprochen, aber dank Google fand ich eine Darstellung der Gewerkschaft der Journalisten und Journalistinninnen (Deutscher Journalisten-Verband), auf die ich hier doch aufmerksam machen möchte.
Die Darstellung macht eine wichtige Aufgabe von Betriebs- und Personalräten deutlich: Es kann nicht dem Arbeitgeber überlassen bleiben, das Konzept für eine Gefährdungsanalyse zu erstellen, mit der psychische und körperliche Belastungen auf Grund der Arbeitsorganisation und der Softwareergonomie beurteilt werden sollen. Die Arbeitnehmer bzw. innovative und kreative Arbeitnehmervertretungen bestimmen das Konzept mit.
Das war eigentlich schon seit 1996 klar. Aber viele Arbeitnehmervertretungen kennen ihre Pflicht zur Mitgestaltung auch heute noch nicht. Auch die meisten Arbeitnehmer kennen diese Pflicht ihrer Vertretung nicht. Selbst von einer “Gefährdungsbeurteilung” haben noch Viele nichts gehört. Sie können sich garnicht vorstellen, wie das funktioniert. (Es funktioniert.)
Angesichts dieser Uninformiertheit ist es leider noch notwendig, immer wieder an die Pflichten der Arbeitnehmervertretungen im ganzheitlichen Arbeitsschutz zu erinnern. Und klar ist auch: Betriebs- und Personalräte werden nicht gnädig in die Gestaltung von Konzepten zur Gefährdungsbeurteilung “einbezogen”, sondern die Arbeitnehmervertretungen bestimmen mit!
Dis ist ja auch verständlich: Wer entscheidet, ob die von einem Arbeitsplatz auf einen Mitarbeiter wirkende Belastung eine legitime Belastung oder eine Fehlbelastung ist? Dass man das tatsächlich nicht den Arbeitgebern alleine überlassen kann, sondern dass die Belasteten hier mitbestimmen müssen, wenn keine gesetzlichen Regeln bestehen, sondern das Gesetz einen Gestaltungsspielraum gibt, ist eine gut nachvollziehbare Entscheidung.

Gesundheitsschutz gemäß BetrVG = Gesundheitsschutz gemäß ArbSchG

BAG, Beschluss vom 18.8.2009, 1 ABR 43/08
Der Betriebsrat hat kein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs 1 Nr 7 BetrVG, wenn der Arbeitgeber externe Personen oder Stellen mit der Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen oder Unterweisungen beauftragt. Hintergrund: Der Betriebsrat hatte mit dem Arbeitgeber vereinbart, welche Qualifikationen und Kenntnisse die mit der Durchführung der Gefährdungsbeurteilungen und der Unterweisungen befassten Personen besitzen müssen. Damit ist die Mitbestimmung bereits ausgeübt worden.
Wichtig ist der folgende Punkt:
http://juris.bundesarbeitsgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bag&Art=en&nr=13861&pos=21&anz=34

Der Begriff des Gesundheitsschutzes in § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG stimmt mit demjenigen des Arbeitsschutzgesetzes überein (BAG 8. Juni 2004 – 1 ABR 13/03 – zu B I 2 b bb (1) der Gründe, BAGE 111, 36). Betroffen sind Maßnahmen, die dazu dienen, die psychische und physische Integrität des Arbeitnehmers zu erhalten, der arbeitsbedingten Beeinträchtigungen ausgesetzt ist, die zu medizinisch feststellbaren Verletzungen oder Erkrankungen führen oder führen können (ArbR/Wlotzke 2. Aufl. Bd. 2 § 206 Rn. 35). Erfasst werden auch vorbeugende Maßnahmen (Fitting 24. Aufl. § 87 Rn. 262).

Erst kommt die Gefährdungsbeurteilung!

2012-07-15:
BAG, Beschluss vom 8.11.2011, 1 ABR 42/10
Eine Arbeitgeberin wollte verhindern, dass eine Unterweisung ohne vorherige Gefährdungsbeurteilung durchgeführt wird. Das gelang ihr. Der Gesamtbetriebsrat verlor, aber das Urteil ist sehr hilfreich für Arbeitnehmervertreter, denn es bedeutet, dass allen Arbeitsschutzmaßnahmen eine Gefährdungsbeurteilung vorauszugehen hat. Die Unterweisung setzt eine Gefährdungsbeurteilung voraus, damit darin die in der Gefährdungsbeurteilung gewonnenen Erkenntnisse berücksichtigt werden können.
Jetzt führen viele Betriebe ein Gesundheitsmanagement ein und wollen damit auch den Arbeitsschutz rechtssicher machen. Gerne wird noch ein Zertifikat nach OHSAS 18001 besorgt, damit Berufsgenossenschaft und Gewerbeaufsicht milde gestimmt werden. Die Unternehmen zeigen ihre Einführungs-Projekte stolz vor und meinen, das könne bereits als Umsetzung des Arbeitsschutzgesetzes und der mit ihm verbundenen Vorschriften dargestellt werden. Solange diesen Maßnahmen aber keine mitbestimmt zustandegekommene Gefährdungsbeurteilung zugrunde liegen, sind das keine legitimen Arbeitsschutzmaßnahmen. Sollte versucht werden, Gesundheitsschutzmaßnahmen im Nachhinein als bereits implementierte Arbeitsschutzmaßnahmen zu darzustellen, müsste wohl auch überprüft werden, ob die Mitbestimmung behindert worden ist.
Ein Auszug aus dem BAG-Beschluss (http://juris.bundesarbeitsgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bag&nr=15760):

16. Der Betriebsrat hat nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG bei betrieblichen Regelungen über den Gesundheitsschutz mitzubestimmen. Hierzu gehört auch die durch § 12 ArbSchG dem Arbeitgeber auferlegte Verpflichtung, die Beschäftigten über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit zu unterweisen (BAG 8. Juni 2004 – 1 ABR 13/03 – zu B I 2 b cc der Gründe mwN, BAGE 111, 36). Einigen sich die Betriebsparteien nicht über Art und Inhalt der Unterweisung, hat das die Einigungsstelle zu regeln. Hierbei hat sie die Erkenntnisse einer Gefährdungsbeurteilung (§ 5 ArbSchG) zu berücksichtigen und die konkrete arbeitsplatz- oder aufgabenbezogene Unterweisung daran auszurichten. Sie kann sich nicht darauf beschränken, allgemeine Bestimmungen über die Unterweisung zu Gefahren am Arbeitsplatz aufzustellen. Dies hat der Senat in einem Parallelverfahren mit denselben Verfahrensbevollmächtigten im Beschluss vom 11. Januar 2011 (- 1 ABR 104/09 – Rn. 17 ff., EzA BetrVG 2001 § 87 Gesundheitsschutz Nr. 5) im Einzelnen begründet. Hieran hält der Senat auch unter Berücksichtigung des weiteren Vorbringens der Rechtsbeschwerde fest.

Parallelbeschlüsse des 1. Senats des BAG, ebenfalls 2011-01-08: 1 ABR 64/10, 1 ABR 14/11, 1 ABR 49/10, 1 ABR 1/11, 1 ABR 15/11, 1 ABR 13/11, 1 ABR 75/10, 1 ABR 80/10, 1 ABR 8/11
 


2011-04-14:
Anfang dieses Jahres fasste das Bundesarbeitsgericht einen für den Einbezug psychisch wirksamer Belastungen in den Arbeitsschutz wichtigen Beschluss, nach dem die Arbeitnehmervertreter eines Unternehmens in dessen Betrieben Unterweisungen durchsetzen wollten, wie sie im Arbeitsschutz vorgeschrieben sind (§ 12 ArbSchG). Die Arbeitnehmervertreter erklärten (z.B. 3 TaBV 13/10, 4 BV 16/09, ArbG Chemnitz und 9 TaBV 39/10, 1 BV 33/09, ArbG Regensburg):

Ziel der Unterweisung der Beschäftigten ist die Vermittlung von Kenntnissen über Belastungen und Beanspruchungen durch die Arbeit sowie Entlastungsmöglichkeiten, die Vermittlung des ergonomisch richtigen Umgangs mit Arbeitsmitteln, die Gestaltung der Arbeitsorganisation und der Arbeitsumgebung im Sinne der menschengerechten Gestaltung der Arbeit. Es sollen Grundlagen dafür geschaffen werden, dass die Beschäftigen ihre Beteiligungsrechte und -pflichten nach §§ 15 – 17 ArbSchG wahrnehmen können.

Das ist, was viele arbeitnehmerorientierte Berater heute beim Einbezug psychisch wirksamer Belastungen in den Arbeitsschutz empfehlen.
Der Forderung der Arbeitnehmervertreter hat das Bundesarbeitsgericht allerdings im Januar auf Betreiben der Arbeitgeberseite widersprochen (Beschluss 1 ABR 104/09, 2011-01-11).
http://www.bundesarbeitsgericht.de/termine/januartermine.html (2011-04-14):

1. O. GmbH & Co. oHG (RAe. CMS Hasche, Siegle, Köln)
2. Betriebsrat der O. GmbH & Co oHG
3. Gesamtbetriebsrat der O. GmbH & Co. oHG
(zu 2) und zu 3) RAe. Bertelsmann und Gäbert, Hamburg) 
– 1 ABR 104/09 –
Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit des Spruchs einer Einigungsstelle*.
Die Arbeitgeberin befasst sich in mehreren Betrieben mit der Herstellung, dem Einbau und der Wartung von Aufzügen, Fahrtreppen usf. Der Beteiligte zu 2) ist der Betriebsrat für den Betrieb der Region Berlin2/Brandenburg. Für diesen Betrieb wurde eine betriebsverfassungsrechtliche Einigungsstelle eingesetzt. Sie fasste zur “Umsetzung der Anforderungen des Arbeitsschutzgesetzes” am 30. April 2008 einen Spruch über Einzelheiten der in § 12 ArbSchG vorgesehenen Unterweisung der Beschäftigten. Der Beteiligte zu 3) ist der im Unternehmen gebildete Gesamtbetriebsrat.
Die Arbeitgeberin hält den Spruch der Einigungsstelle für unwirksam. Sie ist der Auffassung, für die Ausübung des Mitbestimmungsrechts nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG sei nicht der örtliche Betriebsrat sondern der Gesamtbetriebsrat zuständig. Überdies könne die Unterweisung der Arbeitnehmer nach § 12 ArbSchG erst geregelt werden, wenn zuvor die in § 5 ArbSchG vorgeschriebene “Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung” stattgefunden habe. Mehrere Bestimmungen des Teilspruchs stellten schließlich eine unzulässige Rahmenregelung dar, durch welche das Mitbestimmungsrecht nicht ausgeübt und der Streit der Beteiligten insoweit nicht beigelegt worden sei. Der Betriebsrat und der Gesamtbetriebsrat sind der Ansicht, der Teilspruch der Einigungsstelle sei rechtswirksam.
Das Arbeitsgericht hat den Antrag der Arbeitgeberin abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihm entsprochen. Mit der vom Bundesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde begehren der Betriebsrat und der Gesamtbetriebsrat die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Beschlusses.
LAG Berlin-Brandenburg,
Beschluss vom 19. Februar 2009 – 1 TaBV 1871/08 –
* Nach § 76 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) ist zur Beilegung von Meinungsverschiedenheiten zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat bei Bedarf eine Einigungsstelle zu bilden, die aus einer gleichen Anzahl von Beisitzern des Arbeitgebers und des Betriebsrats und einem unparteiischen Vorsitzenden besteht. Kommt eine einvernehmliche Regelung nicht zustande, so entscheidet die Einigungsstelle durch “Spruch”. Dieser “Spruch” kann vor dem Arbeitsgericht angefochten werden.

Auf dem Weg zum BAG-Beschluss gab es gute und fachkundige Anwälte auf beiden Seiten, und viele Gerichte hatten viel Arbeit. Die Angelegenheit war also ziemlich wichtig.
Inzwischen haben manche Betriebsräte es gelernt, die Gefährdungsbeurteilung als Voraussetzung für verschiedene Prozesse in den Betrieben zu durchzusetzen, aber hier griff nun die Arbeitgeberin diesen Ansatz auf und drehte den Spieß damit um: Ohne Gefährdungsbeurteilung keine Unterweisung. Der Arbeitgeberin war das Ziel der Unterweisung wohl zu breit angelegt. Das BAG stimmte dem im Januar 2011 zu:

Pressemitteilung Nr. 1/11
Unterweisung zum Arbeitsschutz
Der Betriebsrat hat nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG bei betrieblichen Regelungen über den Gesundheitsschutz mitzubestimmen. Hierzu gehört auch die durch § 12 ArbSchG dem Arbeitgeber auferlegte Verpflichtung, die Beschäftigten über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit zu unterweisen. Einigen sich die Betriebsparteien nicht über Art und Inhalt der Unterweisung, hat das die Einigungsstelle zu regeln. Hierbei hat sie die Erkenntnisse einer Gefährdungsanalyse (§ 5 ArbSchG) zu berücksichtigen und die konkrete arbeitsplatz- oder aufgabenbezogene Unterweisung daran auszurichten. Sie kann sich nicht darauf beschränken, allgemeine Bestimmungen über die Unterweisung zu Gefahren am Arbeitsplatz aufzustellen.
Eine zum Regelungsgegenstand „Umsetzung der Anforderungen des Arbeitsschutzes“ eingesetzte Einigungsstelle hatte durch Teilspruch allgemeine Regelungen zur Unterweisung der Beschäftigten über die Belastungen bei der Arbeit, den richtigen Umgang mit Arbeitsmitteln und die Gestaltung der Arbeitsorganisation getroffen. Eine Gefährdungsbeurteilung lag zum Zeitpunkt der Beschlussfassung nicht vor. Das hat die Arbeitgeberin beanstandet und den Teilspruch angefochten.
Das Landesarbeitsgericht hat die Unwirksamkeit des Teilspruchs festgestellt. Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde des Betriebsrats hatte keinen Erfolg. Die Einigungsstelle ist ihrem Regelungsauftrag nicht nachgekommen. Ihr Spruch ist unvollständig. Es fehlte an konkreten Anweisungen und Erläuterungen, die eigens auf den Arbeitsplatz oder den Aufgabenbereich der Beschäftigten ausgerichtet waren.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 11. Januar 2011 – 1 ABR 104/09 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Februar 2009
1 TaBV 1871/08

Im Internet gab es dazu viele Kommentare. Mal sah es so aus, als habe die Arbeitgeberin gewonnen, mal wurde ein Sieg der Betriebsräte gesehen. Besonders interessant fand ich einen Eintrag im “Arbeitnehmeranwalt Stühler-Walters Blog“:

… In Zukunft ist also für die Betriebsräte darauf zu achten, dass noch vor Verhandlungen zu Maßnahmen des Arbeitsschutzes zunächst eine konkrete Gefährdungsanalyse erfolgen muss. Aus meiner Sicht folgt aus dem Beschluss des Bundesarbeitsgerichts, dass der Betriebsrat auch bei der Unterweisung mitzubestimmen hat, dass dieser auch bereits bei der Gefährdungsanalyse selber zu beteiligen ist. Erfolgt eine konkrete betriebliche Gefährdungsanalyse nicht, so hat dies zur Folge, dass möglicherweise eine gesamte Betriebsvereinbarung zum Arbeitsschutz unwirksam sein kann.

Noch einige Hinweise:

  • Unterweisung: Vor einer Unterweisung muss klar sein, um welche Gefährdungen in einem Betrieb es konkret geht. Also kommt die Beurteilung vor der Unterweisung. Die von den Arbeitnehmervertretern beabsichtigte Aufklärung macht zwar Sinn, aber diese Grundlagen kann man zum Beispiel sehr gut mit Vorträgen kompetenter Fachleute in Betriebsversammlungen vermitteln. Unterweisungen vor Gefährdungsbeurteilungen werden durch den BAG-Beschluss nicht in Frage gestellt, wenn sie z.B. zur Vorbereitung von Umfragen benötigt werden, auf denen Gefährdungsbeurteilungen dann aufbauen.
  • Konzentration auf das Wesentliche: Betriebsräte, die den Einbezug psychisch wirksamer Belastungen in den Arbeitsschutz voranbringen wollen, müssen sich zunächst mit aller Kraft und all ihren begrenzten Ressourcen auf  ihre Mitbestimmungspflicht (Gestaltungsimperativ) bei der Gefährdungsbeurteilung konzentrieren. Es wäre insbesondere unklug, wenn sich Betriebsräte über die Mitbestimmungsaufgaben hinausgehend  vom Arbeitgeber in die Details eines umfangreichen und komplexen Gesundheitsmanagements einbinden ließen, bevor es eine Beurteilung der betriebsspezifischen Risiken psychischer Fehlbelastungen gibt. Ohne eine solche Beurteilung fehlt dem Arbeitsschutz im Gesundheitsmanagement nämlich genau so die notwendige Grundlage, wie sie der Unterweisung ohne vorherige Gefährdungsbeurteilung fehlen würde.
  • Zusammenfassung von Arbeitsplätzen: Das BAG verlangt eine konkrete Beurteilung von Arbeitsplätzen im Betrieb. Unternehmen, die bei Gefährdungsbeurteilungen dadurch Kosten sparen wollen, dass sie nur wenige Gruppen von Arbeitsplätzen mit vielen Mitarbeitern pro Gruppe beurteilen, weil aus ihrer Sicht gleichartige Arbeitsbedingungen bestehen (§ 5 Abs. 2 ArbSchG), müssen in den entsprechenden Unterweisungen auch einen größeren Bereich der Thematik der psychisch wirksamen Belastung abdecken. Werden beispielsweise alle “Büroarbeitsplätze” zusammengefasst, muss die Beurteilung den unterschiedlichen Belastungen an diesen Arbeitsplätzen gerecht werden. Der BAG-Beschluss hilft Betriebsräten, den Arbeitgeber dazu anzuregen, bei der Festlegung der “Gleichartigkeit” von Arbeitsplätzen nicht zu weit zu gehen.
  • Gesundheitsmanagement: Ohne Gefährdungsbeurteilung kann ein Unternehmen nicht legitim erklären, dass ein “betriebliches Gesundheitsmanagement” den Arbeitsschutz mit einschlösse. Es scheint gelegentlich so, dass falsch herum begonnen wird: Erst wird mit werbewirksamen Maßnahmen die Kür versucht, dann erst kommt die Pflicht der Gefährdungsbeurteilung, obwohl ohne sie keine Arbeitsschutzmaßnahmen definiert und umgesetzt werden können.
    • Kür: Der Schwerpunkt liegt hier oft bei der Verhaltensprävention. Die Verhältnisprävention ist dagegen Pflicht. Im Rahmen eines umfassenden betrieblichen Gesundheitsmanagements können generell Maßnahmen im Bereich der psychischen Belastung und Beanspruchung so definiert und umgesetzt werden, dass ein Unternehmen sogar werbewirksam behaupten kann, dass es “über die gesetzlichen Vorschriften hinaus” ginge.
    • Pflicht: Aber ohne mitbestimmt erstellte Gefährdungsbeurteilungen erfüllen die Maßnahmen des Gesundheitsmanagements die Vorschriften des Arbeitsschutzes (sowie der Bildschirmarbeitsverordnung, der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge, des Sozialgesetzbuches usw.) noch lange nicht! Eine solche Maßnahme ist beispielsweise die Schulung von Führungskräften zum Thema der psychischen Belastung und Beanspruchung. Nach dem BAG-Beschluss ist nun klar, dass solche Schulungen ohne vorhergehende Gefährdungsbeurteilungen die Vorschriften des Arbeitsschutzes nicht erfüllen können.
      Arbeitnehmervertreter müssen darauf achten, dass vor der Verhaltensprävention die vorgeschriebene Verhältnisprävention kommt. Ganz in diesem Sinn ist auch der BAG-Beschluss: Eine korrekte Gefährdungsbeurteilung beschreibt vor der Unterweisung den Zustand der Arbeitsbedingungen. Das hilft zu vermeiden, dass Unterweisungen über den Umgang mit “auffälligen” Mitarbeitern (Verhaltensprävention und -modifikation individueller Mitarbeiter) die eigentlich geforderten Unterweisungen zur Vermeidung (durch Verhältnisprävention) von arbeitsbedingten Fehlbelastungen verdrängen.

Einfach gesagt: In diesem Fall haben die Arbeitnehmervertreter nur insofern “verloren”, als dass einem Einspruch der Arbeitgeber stattgegeben wurde und nun die Arbeitnehmervertreter die Verfahrenskosten tragen müssen. (Ich vermute, dass hier eine Gewerkschaft geholfen hat.) Das war es wert, denn mit dem Beschluss des BAG können innovative Betriebsräte sehr gut leben.
 
Anmerkung: In http://blog.psybel.de/unterweisung/ ist die Qualität der Unterweisung Gegenstand der Gefährdungsbeurteilung, hier folgt die Gefährdungsbeurteilung also der Unterweisung. Das macht bei einem schon laufenden und zyklischen Arbeitsschutzprozess Sinn. Auch kann es nötig sein, schon vor der Gefährdungsbeurteilung Schulungen durchzuführen, wenn Gegenstand der Schulung die Gestaltung, Durchführung und Zielsetzung der Gefährdungsbeurteilung ist.
Siehe auch: http://blog.psybel.de/arbeitsschutztraining-von-leitenden-angestellten/

Gefährdungen und deren Beurteilung

In dem hier thematisierten Beschluss des BAG geht es um die Mitbestimmung zur “Gefährdungsbeurteilung im Sinne von § 5 ArbSchG und § 3 BildscharbV”.

§ 3 Beurteilung der Arbeitsbedingungen:
Bei der Beurteilung der Arbeitsbedingungen nach § 5 des Arbeitsschutzgesetzes hat der Arbeitgeber bei Bildschirmarbeitsplätzen die Sicherheits- und Gesundheitsbedingungen insbesondere hinsichtlich einer möglichen Gefährdung des Sehvermögens sowie körperlicher Probleme und psychischer Belastungen zu ermitteln und zu beurteilen. 

Es geht also auch um den Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz.
[Anmerkung (2016-01-12): Inzwischen wurde das Arbeitsschutzgesetz so überarbeitet, dass eine sich aus dem Arbeitsschutz ergebende Pflicht zum Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz nicht mehr abgestritten werden kann. Im Jahr 2004 diente die BildscharbV noch einigen Betriebsräten als Hebel, da viele Arbeitgeber das Arbeitsschutzgesetz falsch “verstanden”. Die Inhalte der BildscharbV wurden inzwischen in die ArbStättV übernommen.]
Sind psychische Belastungen ein Thema des Arbeitsschutzes?
Schon aus dem hier beschriebenen Beschluss des BAG wird deutlich, dass das seit 1997 geltende Arbeitsschutzgesetz die Arbeitgeber zu Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz verpflichtet. Und das Bundesarbeitsministerium bestätigte im Jahr 2009, dass das Thema der psychischen Belastungen unabdingbarer Bestandteil des Arbeitsschutzes ist. Damit sind psychische Belastungen eine der Gefährdungskategorien des Arbeitsschutzes. Die Arbeitgeber sind seit 1996 verpflichtet, psychische Belastungen zu beurteilen und psychische Fehlbelastungen zu mindern. Die Mehrheit der Unternehmen ignoriert diese Pflicht. Das ist möglich, weil sie nicht ernsthaft beaufsichtigt werden.
Wann tritt eine Gefährdung am Arbeitsplatz ein?
„Eine Gefährdung, die gemäß § 4 Nr. 1 ArbSchG vermieden werden soll, tritt bereits dann
ein, wenn die Möglichkeit eines Schadens oder einer gesundheitlichen Beinträchtigung
ohne bestimmte Anforderungen an deren Ausmaß oder deren Eintrittswahrscheinlichkeit
besteht.“
(Bundestagsdrucksache zur Begründung zu § 4 des ArbSchG)
Was hat das Bundesarbeitsgericht am 8.6.2004 entschieden?
Gefährdungsbeurteilung (§ 5 ArbSchG) aus Sicht des BAG:
Am 8.6.2004 konkretisierte das Bundesarbeitsgericht die Anforderungen an die
Gefährdungsbeurteilung, wie sie im Arbeitsschutzgesetz vorgeschrieben ist:

  • „Das Mitbestimmungsrecht bei der Gefährdungsbeurteilung setzt nicht voraus, dass eine
    konkrete Gesundheitsgefahr bereits hinreichend bestimmbar wäre.“
  • „Zwar wird durch diese Beurteilung selbst die Arbeit noch nicht so gestaltet, dass
    Gesundheitsgefahren verhütet werden. Es werden vielmehr erste Gefährdungen
    ermittelt, denen ggf. durch entsprechende Maßahmen zu entgegnen ist.“
  • „… diese Beurteilung [ist] je nach Art der Tätigkeit vorzunehmen …“
    „Damit stellt sich bei der Gefährdungsbeurteilung zumindest die Frage, 

    • welche Tätigkeiten beurteilt werden sollen,
    • worin die mögliche Gefahr bei der Arbeit besteht,
    • woraus sie sich ergibt und
    • mit welchen Methoden und Verfahren das Vorliegen und der Grad einer solchen
      Gefährdungsbeurteilung festgestellt werden soll.“
  • Den Spruch einer Einigungsstelle rügt das BAG, weil er:
    „keine konkrete Regelung darüber [enthält], welche Arbeitsplätze auf welche möglichen
    Gefährdungsursachen hin untersucht werden sollen…“
    Es ist festzulegen
    „welche möglichen Belastungsfaktoren an welchen Arbeitsplätzen überprüft werden
    sollen“ und „an 

    • welchen Arbeitsplätzen
    • welche Gefährdungsursachen
    • anhand welcher Kriterien

    zu beurteilen sind.“

  • Der seit 1996 erweiterte Gestaltungspielraum des Arbeitgebers
    begründet das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates, und zwar gerade weil es für diesen Gestaltungsspielraum keine engen Vorgaben gibt. Das Mitbestimmungsrecht muss aber auch genutzt werden:
    „Das Mitbestimmungsrecht setzt ein, wenn eine gesetzliche Handlungspflicht objektiv
    besteht und wegen Fehlens einer zwingenden Vorgabe betriebliche Regelungen
    verlangt, um das vom Gesetz vorgegebene Ziel des Arbeits- und Gesundheitsschutzes
    zu erreichen.“
  • Der Betriebsrat hat mitzubestimmen, es besteht also eine unabdingbare Mitbestimmungspflicht!
    § 5 ArbSchG und § 3 Bildschirmarbeitsverordnung sind ausfüllungsbedürftige
    Rahmenvorschriften. Sie enthalten keine zwingenden Vorgaben, wie die
    Gefährdungsbeurteilung durchzuführen ist. Vielmehr lassen sie dem Arbeitgeber
    Handlungsspielräume bei der Umsetzung. … Hierbei hat der Betriebsrat nach § 87 Abs.
    1 Nr. 7 BetrVG
    mitzubestimmen.“


  1. Jens Gäbert, Mitbestimmung im Gesundheitsschutz, 2008
  2. BAG, 2004-06-08: Entscheidungen AZ 1 ABR 4/03 und AZ 1 ABR 13/03
    Siehe auch: http://blog.psybel.de/gefaehrdungsbeurteilung-und-unterweisung/
  3. Bundestagsdrucksachen zum Vorgang Nr. 13020347 der 13. Wahlperiode,
    „Gesetz zur Umsetzung der EG-Rahmenrichtlinie Arbeitsschutz und weiterer Arbeitsschutz-Richtlinien“


Siehe auch:

Entbürokratisierung

Zu oft ist “Entbürokratisierung” nur die Verlagerung von Regelungsarbeit (Verhandlungen usw.) aus einem Bereich (z.B. Gesetzgebung) in einen anderen Bereich (z.B. Erarbeiten von Betriebsvereinbarungen). Sind die Betroffenen dort auf die Arbeit (Ressourcen, Wissen, Budgets usw.) vorbereitet, die zu ihnen verschoben wurde?
Sowohl Arbeitnehmern wie auch Arbeitgebern erscheint im Bereich beispielsweise der Analyse von Arbeitsbedingungen (Gefährdungsbeurteilung) immer noch Vieles unklar. Stehen beide Parteien noch am Anfang, dann fällt beiden beim Ansprechen psychischer Belastung zunächst oft nichts Besseres ein, als auf mögliche “Probleme” individuell Betroffener und auf vom Arbeitgeber nicht beeinflussbare Faktoren hinzuweisen. Für Betriebsräte ist das Thema sehr gewöhnungsbedürftig, insbesondere wenn es um ihre eigene Belastungen geht. Und überforderte Arbeitgeber setzen ihre Mitarbeiter, die Fehlbelastungsmeldungen an ihre Sicherheitsfachkraft abzugeben wagen, unter noch weiteren Druck, wenn sie mit der Forderung nach einer psychische Belastung einbeziehenden Gefährdungsbeurteilung nicht umgehen können oder wollen. Darum müssen Betriebsräte (wo es sie gibt) schnell Kompetenz erwerben, damit sie einzelne Mitarbeiter beim Einreichen von Fehlbelastungsmeldungen unterstützen können.
Ein Grund für die sich aus dem großen betrieblichen Ausgestaltungsbedarf der Arbeitsschutzvorschriften ergebenden Herausforderungen ist das Konzept der europäischen Arbeitsschutzes: Vorgeschrieben ist mit dem Ziel der Entbürokratisierung wegen der Unterschiede der innerbetrieblichen Situationen nur ein Rahmen, innerhalb dessen in Unternehmen ihren betrieblichen Anforderungen gemäße Umsetzungen des Arbeitsschutzes vereinbart werden müssen. Das bedeutet aber nicht, dass Arbeitgeber und Laienpsychologen hier einen beliebigen Freiraum zur Umsetzung ihrer persönlichen Vorstellungen haben, sondern es gilt die Mitbestimmung, und für die Umsetzung sind qualifizierte Fachkräfte vorgeschrieben, deren Auswahl und Einsatz ebenfalls mitbestimmt zu regeln ist.
Daraus ergibt sich für die Betriebsräte und Personalvertretungen eine sehr umfassende Aufgabe, denn der Gestaltungsspielraum, den das Arbeitsschutzgesetz dem Arbeitgeber gibt, muss mit einer auf den Betrieb abgestimmten Definition und Implementierung von Prozessen ausgefüllt werden. Das führt zu einer Pflicht (BAG, 2004-06-08: Entscheidungen AZ 1 ABR 4/03 (siehe insbes. Punkte 12 und 33) und AZ 1 ABR 13/03) zur Mitbestimmung. Dabei müssen aber keine Grundlagen mehr erarbeit werden, denn es stehen schon seit einiger Zeit gute Prozesse und Werkzeuge zur Verfügung, mit denen Unternehmensleitungen und Arbeitnehmervertreter zügig ihren arbeitsschutzrechtlichen Verpflichtungen entsprechen können.
Hier zeigen sich, wie (für wen und für wen nicht) die Entbürokratisierung in der Gesetzgebung funktioniert. So wie es derzeit aussieht, funktioniert sie für jene, die den Arbeitsschutz für eine Belästigung der Wirtschaft halten: Nach fast 15 Jahren kann die große Mehrheit der Unternehmen in Deutschland es sich immer noch leisten, wichtige Regelungsvorgaben des Arbeitsschutzgesetzes zu missachten. Was hindert uns daran, diese Missachtung des Arbeitsschutzes durch viele Unternehmen als Anarchie zu bezeichnen?