Eine ungerechtfertigte Abmahnung ist eine psychische Fehlbelastung

Ein Mitarbeiter im Betrieb yyyyy des im deutschsprachigen Raum angesiedelten Unternehmens xxxxx reichte beim Betriebsrat seines Betriebes den folgenden Antrag zur Abstimmung durch das Gremium dieses Betriebsrates ein:

Antrag eines Mitarbeiters des xxxxx-Betriebes yyyyy an den Betriebsrats dieses Betriebes:
Erfassung und Dokumentation einer ungerechtfertigten Abmahnung als Fehlbelastung.
Fallbeschreibung:
Ein Mitarbeiter wurde im Betrieb yyyyy vom Leiter der Personalabteilung abgemahnt. Nachdem der Mitarbeiter eine Klage androhte, zog der Arbeitgeber die Abmahnung zurück, da sie sich als gegenstandlos erwies. Der Fall wurde damit zwar arbeitsvertragsrechtlich abgeschlossen, nicht jedoch arbeitsschutzrechtlich.
Die Abmahnung enthielt die folgende Kündigungsdrohung:

„Zu unserem Bedauern mussten wir feststellen, dass Sie Ihre arbeitsvertraglichen Pflichten in schwerwiegender Weise verletzt haben. […] Wir fordern Sie hiermit ausdrücklich auf, das oben geschilderte Verhalten zukünftig zu unterlassen und Ihre Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis ordnungsgemäß zu erfüllen. Im Fall einer Wiederholung des in dieser Abmahnung gerügten Verhaltens behalten wir uns vor, Ihr Arbeitsverhältnis ordnungsgemäß, gegebenenfalls sogar außerordentlich fristlos, zu kündigen. […]“

Diese Drohung wirkte auf den Mitarbeiter über einen Zeitraum von drei Monaten.
Hiermit beantrage ich, dass das Gremium des Betriebsrats des xxxxx-Betriebes yyyyy den folgenden Beschluss fassen möge:

Der Betriebsrat setzt sich dafür ein, dass die Leitung des Betriebes yyyyy Vorfälle, die dem oben beschriebenen Vorfall gleichen, wie folgt kategorisiert, dokumentiert und in der Arbeitsschutz-Statistik erfasst.

  1. Gemäß Arbeitsschutzvorschriften: „Arbeitsbedingte psychische Fehlbelastung“
  2. Gemäß Selbstverpflichtung der Betriebsleitung nach OHSAS 18001:2007: „Arbeitsbezogenes Ereignis, das eine Erkrankung (ohne Berücksichtigung der Schwere) zur Folge hätte haben können. (Erkrankung: Erkennbarer, nachteiliger physischer oder mentaler Zustand, der durch eine Arbeitstätigkeit und/oder durch eine Arbeitssituation hervorgerufen und/oder verschlechtert wurde.)“

Das Gremium des Betriebsrates stimmte dem Antrag zu und hat damit einen Fall arbeitsbedingter Fehlbelastungen konkretisiert. Der Fall ist ein generisches Beispiel für eine auschließlich im Verantwortungs- und Handlungssbereich des Arbeitgebers aufgetretene psychische Fehlbelastung.
Anmerkungen:

  • Sind ungerechtfertigte Abmahnungen immer eine psychische Fehlbelastung?
    Abmahnungen sind die stärkste Drohung, die ein Arbeitgeber legitim gegen einen Arbeitnehmer richten kann. Sie setzen den Arbeitnehmer im Bereich seiner beruflichen Existenz massiv unter Druck. Die ungerechtfertigte Abmahnung ist ein gutes Beispiel für eine generische psychische Fehlbelastung im Sinn des Arbeitsschutzgesetzes. Außerdem kann hier ein Einfluss betriebsfremder Belastungsfaktoren weitgehend ausgeschlossen werden: Die Verantwortung für eine ungerechtigte Abmahnung liegt eindeutig beim Arbeitgeber.
  • Beendet die Rücknahme einer ungerechtfertigten Abmahnung den Abmahnungsfall?
    Der arbeitsvertragsrechtliche Abschluss eines Abmahnungsfalls und der arbeitsschutzrechtliche Abschluss dieses Falls zwei unterschiedliche Dinge. Die Rücknahme einer Abmahnung macht die zuvor auf den Mitarbeiter wirkende Fehlbelastung nicht ungeschehen. Die Wirkungen psychischer Fehlbelastungen können sehr langfristig sein. Folglich endet die Verantwortung des Arbeitgebers für die Fehlbelastung noch lange nicht mit der Rücknahme der Abmahnung. Es wäre im Gegenteil ein klares Zeichen von Verantwortungslosigkeit und eine Missachtung der Erfordernisse des heutigen Arbeitsschutzes, wenn ein Arbeitgeber einen Abmahnungsvorgang alleine schon mit der Rücknahme der Abmahnung als abgeschlossen betrachten würde.
  • Sind Abmahnungen nun wegen des Arbeitsschutzes “verboten”?
    Keine Sorge: Nur ungerechtfertigte Abmahnungen (die deswegen z.B. als “gegenstandlos” zurückgenommen werden mussten) sind eine psychische Fehlbelastung. Gerechtfertigte Abmahnungen sind also immer noch möglich – und gegebenenfalls auch ein zur Sicherstellung des Arbeitsschutzes erforderliches Instrument. Gerechtfertigte Abmahnungen sind ein Beispiel für eine erhebliche, aber legitim auf Mitarbeiter wirkende psychische Belastung.

Betriebsrat als Lösungsinstrument

http://www.kulturwandel.org/projekte/der-betriebsrat-als-loesungsinstrument/index.html

Betriebsrat als Lösungsinstrument
Betriebsräte haben mit einem schlechten Ruf zu kämpfen, insbesondere auf Seiten der Arbeitgeber. Dabei können die Arbeitnehmervertreter wichtige, innovative Multiplikatoren sein. Die Rolle als Verhinderer, die ihnen häufig zugesprochen wird, entspricht nicht unbedingt der Realität.
Gut zu sehen ist das am Beispiel eines DAX-notierten Unternehmens, mit dem wir im Rahmen des Kulturwandel-Projektes in Kontakt standen. Ein neu eingesetzter CEO hatte dort eine Lean-Strategie umgesetzt, die nachweislich negative Folgen für das Betriebsklima hatte. Auch gut funktionierende Abteilungen mussten sich der neuen Strategie beugen. In der Folge fühlten sich Mitarbeiter stark in ihrer Handlungsautonomie beschnitten. Sie empfanden deutlich weniger Selbstwirksamkeit – die beabsichtigten „Optimierungen“ durch die neuen Lean-Standards hatte beim Betriebsklima eine gegenteilige Wirkung nach sich gezogen.Verschlechterung zeigte sich von Abteilung zu Abteilung unterschiedlich stark, aber doch drastisch im unternehmensinternen Stimmungsbild. []

OHSAS 18001 für Betriebsräte

In http://blog.psybel.de/2011/04/09/kompetenz-von-arbeitnehmervertretungen/ berichtete ich bereits über eine Untersuchung des Kompetenz- und Strategiebedarfs von Betriebs- und Personalräten im Bereich der betrieblichen Gesundheitspolitik der Hans-Böckler Stiftung. Auch darin begegnen Arbeitnehmervertreter dem OHSAS 18001. Der Standard kann ein hilfreiches Instrument sein, wenn es darum geht, mit dem Arbeitgeber gemeinsame Vorgehensweisen, Kriterien und Ziele zu vereinbaren.
 
http://www.boeckler.de/pdf_fof/S-2008-183-4-1.pdf, Hans-Böckler-Stiftung, Dezember 2010, 353 Seiten:

Andreas Blume, Uta Walter, Ralf Bellmann, Holger Wellmann
Untersuchung des Kompetenz- und Strategiebedarfs von Betriebs- und Personalräten im Bereich der betrieblichen Gesundheitspolitik
Abschlussbericht …


 
S.95

… Die durch das ArbSchG geforderte Gefährdungsbeurteilung wird im gesamten Unternehmen anhand eines Standardmodells (Ergo-Tools) durchgeführt, wobei nach Aussagen u.a. des ASUG-Vorsitzenden auch die psychischen Belastungen an der Mensch-Maschine-Schnittstelle berücksichtigt werden. Federführend bei der Erstellung der Gefährdungsbeurteilung sind die jeweiligen betrieblichen Führungskräfte mit Unterstützung durch die Abteilung für Arbeitssicherheit und den werksärztlichen Dienst. Die aus der Gefährdungsbeurteilung erwachsenden Maßnahmen werden dokumentiert und von den internen Experten sowie dem für Arbeitssicherheit zuständigen Betriebsrat gegengezeichnet. Der Betriebsrat bzw. der ASUG ist frühzeitig in den Dokumentenlauf eingebunden. Eine Wirkungsüberprüfung findet im Rahmen der jährlichen Wiederholung der Gefährdungsbeurteilung statt. Weiterhin existiert im Unternehmen ein extern (re-)zertifiziertes Arbeitsschutzmanagementsystem nach OHSAS 18001. …


 
S. 115

… Der Arbeitsschutz wird den Aussagen der Interviewpartner zufolge mit dem Umweltschutz verzahnt und durch ein gemeinsames Managementsystem integriert. Es handelt sich dabei um ein dreistufiges Umwelt- und Arbeitsschutzkonzept, in dem alle Geschäfts- und Produktionsabläufe enthalten sind. Mit dem Konzept sollen Leitlinien und Mindeststandards dokumentiert und ein interner Diskussionsprozess über die Weiterentwicklung des Umwelt- und Arbeitsschutzes angeregt werden. Ziel ist die Sicherung der Nachhaltigkeit, z. B. hinsichtlich der Reduktion des Energieverbrauchs und der Senkung der Unfallzahlen. Eine Besonderheit der Zertifizierung dieses Managementsystems ist es, dass die Einhaltung der Anforderungen aus OHSAS 18001/ISO 14001 nicht durch eine externe Zertifizierungsstelle, sondern konzernintern überprüft wird. Die AG wendet hierfür ein weltweit gültiges eigenes Auditierungssystem an, das von der Deutschen Gesellschaft zur Zertifizierung von Managementsystemen durch ein Witness Audit validiert wird. …


 
S. 121

… Die leitende Fachkraft für Arbeitssicherheit hat diese Funktion seit sieben Jahren inne und ist in der AG insgesamt seit 23 Jahren als Fachkraft tätig. Es handelt sich um eine Konzernfunktion. Die Tochtergesellschaften können diese Leistung, wie es z. B. das Fallstudienunternehmen tut, einkaufen. Die zwei Hauptaufgaben liegen erstens in der Erbringung operativer Dienstleistungen für die Verwaltung der AG. Zweitens beinhaltet die Leitung der Konzernfunktion Arbeitsschutz auch die Überprüfung der Tochtergesellschaften der AG im Rahmen von Auditierungen nach der OHSAS 18001 (Arbeitsschutz) und ISO 14001 (Umweltschutz). …


 
S. 180

… Der betriebsärztliche Dienst und die Fachkraft für Arbeitssicherheit stellen unternehmensintern bereitgestellte Dienste dar. Hierzu besteht laut einer Unternehmensbroschüre ein internes Auditsystem, das den externen Auditierungsverfahren ISO 19011 und OHSAS 18001 entspricht. Der ASA tagt nach Angaben aus dem Vorabfragebogen vier Mal jährlich, Unterweisungen und Begehungen werden regelmäßig durchgeführt. Das ASIGU-Gremium setzt sich, wie in einem Interview berichtet, aus sieben Betriebsratsmitgliedern zusammen, die die unterschiedlichen unternehmerischen Funktionsbereiche abdecken sollen. Zu Einzelthemen sind Kommissionen gebildet worden, z. B. zur persönlichen Schutzausrüstung (PSA) und zur Gesundheitsförderung. Dem Vorabfragebogen kann entnommen werden, dass es neben dem ASA und dem ASIGU einen Arbeitskreis Gesundheit gibt, an dem das Management, der Betriebsrat, die Fachkraft für Arbeitssicherheit, der Werksarzt, die Krankenkasse und die Berufsgenossenschaft teilnehmen. …

Anmerkung: ISO 19011 ist ein Leitfaden zur Auditierung von Managementsystemen bzw. ein Leitfaden für Audits von Qualitätsmanagement- und/oder Umweltmanagementsystemen.
Sind Sie Mitglied in einem Personalrat oder einem Betriebsrat? Warum werden Sie nicht interner Auditor für OHSAS 18001?

Skurriles bei den Arbeitgebertagen

Am 13. und 14. September veranstaltet die BWRmed!a (ein Unternehmensbereich der Verlag für die Deutsche Wirtschaft AG) die “4. Arbeitgebertage zum Brennpunkt Betriebsrat 2011“, ein “Jahrestreff für Arbeitgeber mit Betriebsrat.” Da muss ein Arbeitgeber, der Betriebsrat hat, unbedingt hin, denn manchmal wird man als Arbeitgeber das Gefühl nicht los, dass Rechtsprechung und Gesetzgeber nur noch die Arbeitnehmer- und Betriebsratsrechte vor Augen haben. Und mit dem Seminartourismus dieser Betriebsräte kann das auch nicht mehr so weiter gehen. Bei dem Jahrestreff erfahren Arbeitgeber mit Betriebsrat aber nicht nur, wie man sich vor Betriebsrat besser schützt oder wie man Betriebsrat behandelt, sondern es ist auch für Trost gesorgt, weil nämlich Professor Dr. jur. Burkhard Boemke da ist. Professor Dr. jur. Burkhard Boemke ist seit 1998 der Direktor des Instituts für Arbeits und Sozialrecht an der Juristenfakultät der Universität Leipzig. (Den Förderverein zu dem Institut gibt es schon seit 1997.) Professor Dr. jur. Burkhard Boemke macht auch noch viele andere Sachen, zum Beispiel ist er der Chefredakteur des Informationsdienstes “Arbeitsrecht kompakt – Urteilsblitzdienst für Arbeitgeber“, Managementberater und so weiter. Am 13. September erzählt er beim Jahrestreff für Arbeitgeber mit Betriebsrat ab 17:15, was für skurrile Betriebsratsfälle es so alles gibt, zum Beispiel einen Check der Unterwäsche bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Besonders lustig ist “Arbeitsplatzgestaltung im öffentlichen Dienst: Temperatur, Helligkeit, Luftfeuchtigkeit und mehr”. Für Feuchtigkeit ist auch am Abend gesorgt: Es gibt dann einen kommunikativen Imbiss und Umtrunk mit allen Referenten in einem Braukeller, der so nahegelegen ist, dass man danach auch ziemlich sicher seinen Weg in das Hotel wieder zurück findet.

Tagung 15 Jahre Arbeitsschutzgesetz

Arbeit und Leben DGB/VHS
Arbeitsgemeinschaft für politische und soziale Bildung im Land Nordrhein-Westfalen e. V.
http://www.aulnrw.de/de/hauptmenu/seminareveranstaltungen-im-ueberblick/seminare/tagungen/15-jahre-arbeitsschutzgesetz/

Das 15jährige Bestehen des Arbeitsschutzgesetzes war Anlass für eine Tagung, die wir zusammen mit dem Büro für Arbeitsschutz & Betriebsökologie, mit den Zeitschriften “Arbeitsrecht im Betrieb”, “gute ARBEIT” und anderen Medienpartnern in Hamburg veranstaltet haben.
Impressionen

Beiträge:

Praxisberichte:

Wie die Aufsicht prüft

 
2014-06-16: Die DGUV hat umgeräumt: http://blog.psybel.de/dguv-raeumt-um/
 


DGUV, 2004:
Erkennen psychischer Belastungen in der Arbeitswelt – ein Leitfaden für Aufsichtspersonen der gewerblichen Berufsgenossenschaften, zu finden in einem Kasten “weitere Informationen” auf der rechten Seite unter “psychische Belastungen in der Arbeitswelt” in:
http://www.dguv.de/inhalt/praevention/aus_weiter/aufsichtsperson/ (nicht mehr online)
Direkte Links:

  • Psychische Belastungen in der Arbeitswelt – ein Leitfaden für Aufsichtspersonen der gewerblichen Berufsgenossenschaften (Stand: Juli 2004)
    (Backup 2004: Erkennen…, Anlage 1, Anlage 2)

    Vorwort
    1. Einführung
    2. Rechtliche Grundlagen
    2.1 Sozialgesetzbuch VII
    2.2 Arbeitsschutzgesetz
    3. Psychische Belastungen und ihre Auswirkungen
    3.1 Erweitertes Belastungs-Beanspruchungs-Modell
    3.2 Einteilung psychischer Belastungen
    3.3 Spezielle Formen psychischer Belastungen
    3.3.1 Traumatische Ereignisse
    3.3.2 Mobbing
    3.4 Kurz- und langfristige Folgen psychischer Beanspruchungen
    3.5 Klassifikation der Folgen von Beanspruchungen
    4. Praktische Vorgehensweise im Betrieb
    4.1 Mögliche Vorbehalte seitens der Betriebe
    4.2 Mögliche wirtschaftliche Vorteile für den Betrieb
    4.3 Erkennen psychischer Fehlbeanspruchungen im Betrieb
    4.3.1 Einführungsgespräch mit dem Unternehmer
    4.3.2 Arbeitsplatz-, Betriebsbesichtigung
    4.3.3 Unfalluntersuchung
    4.3.4 Weitere mögliche Informationsquellen
    4.4 Bewertung der ermittelten Informationen
    4.5 Präventionsmaßnahmen
    4.6 Weitere Maßnahmen
    5. Weiterführende Literatur
    6. Vorhandene Instrumente
    Glossar

Der Leitfaden wurde zwar für “Aufsichtspersonen der gewerblichen Berufsgenossenschaften” geschrieben, aber natürlich hilft er auch Kontrolleuren der Gewerbeaufsicht, Arbeitssicherheitsfachkräften, Auditoren, Führungskräften sowie Arbeitnehmern und ihren Vertretern (Betriebs- und Personalräte). Auch im Top-Management der Unternehmen kann der Leitfaden helfen, zu verstehen, über welche Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten die Akteure im Arbeitsschutz verfügen müssen.
Das im Leitfaden empfohlene Vorgehen ist ganz nett. Unternehmer brauchen nicht zu zittern. Allerdings sind die Berufsgenossenschaften auch keine Gewerbeaufsichten. Sie strafen nicht, sondern erhöhen gegebenenfalls halt die Beiträge, die ihre Mitgliedsunternehmen zu zahlen haben.
Der Leitfaden für Betriebsärzte zu psychischen Belastungen ist ähnlich strukturiert, aber ausführlicher.
 
Selbst diesen zahmen und mit Unternehmern geradezu zärtlich einfühlsam umgehenden Leitfaden mögen die Arbeitgeber nicht (BDA: Mai 2005, Position der Arbeitgeber zur Bedeutung psychischer Belastungen bei der Arbeit, Link in http://blog.psybel.de/hauptsache-gesundheit/):
S. 7:

… Der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften hat 2002 einen Leitfaden “Psychische Belastungen” für Aufsichtspersonen der gewerblichen Berufsgenossenschaften entwickelt und in einer einjährigen Erprobungsphase auf Plausibilität und Praktikabilität getestet. Der Leitfaden, der derzeit aufgrund der Erfahrungen aus der Erprobungsphase überarbeitet wird, soll die Aufsichtspersonen in die Lage versetzen, die Unternehmen im Rahmen allgemeiner Betriebsbesichtungen auch im Hinblick auf psychische Belastungen zu beraten. Der Leitfaden, wie auch zahlreiche andere existierende Handlungshilfen, ist aus Sicht der BDA nur bedingt als Instrument geeignet. Problematisch sind die darin enthaltenen Hinweise zur Personalführung und Arbeitsorganisation. Dies ist kein Bereich, in dem die Berufsgenossenschaften Erfahrungen und Expertise besitzen. Es muss berücksichtigt werden, dass Personalführung und Arbeitsorganisation zum Kernbereich unternehmerischer Verantwortung gehören. Eine Beratung in Fragen psychischer Belastungen kann nur sinnvoll sein, sofern sie lösungsorientiert und nicht problemorientiert die Besonderheiten des Einzelfalls berücksichtigt. …

(Links nachträglich in das Zitat eingefügt)
Ist das so? “Lösungsorientiert und nicht problemorientiert” ist Unsinn. Vor der Lösung schaut man sich das Problem an, macht also eine Gefährdungsbeurteilung. Die BDA versteht die einfachsten Grundlagen nicht und ignoriert außerdem das Arbeitsschutzgesetz: Es geht bei der Verhaltensprävention gerade nicht um den Einzelfall. Im Gesetz steht: Individuelle Schutzmaßnahmen sind nachrangig zu anderen Maßnahmen. Das gilt auch für BDA-Mitglieder. Immerhin verrät dieser Absatz viel über das Problem, das die Arbeitgeber mit dem ganzheitlichen Arbeitsschutz haben.
S. 12:

… Die Arbeitgebervertreter in den Selbstverwaltungsorganen der Berufsgenossenschaften sollten sich aufgrund der o. g. [siehe S. 11 – 12] Argumente auch dementsprechend grundsätzlich gegen eine Regelung des Themas psychische Belastungen in berufsgenossenschaftlichen Regelwerken aussprechen. …

Nachtrag (2013-04-24): Später kamen die Arbeitgeber mit der dreisten Ausrede, dass es keine Leitlinien gebe, mit deren Hilfe sie psychische Belastungen beurteilen können.
 


(Aktualisierung: 2012-07-12)
LASI, LV 52, 2009:
Integration psychischer Belastungen in die Beratungs- und Überwachungspraxis der Arbeitsschutzbehörden der Länder
http://lasi.osha.de/de/gfx/publications/lv52_info.htm
http://lasi.osha.de/docs/lv52.pdf, Inhalt:

Vorwort.
1 Grundverständnis und Zielrichtung 6
2 Aufgaben und Funktionen des Managements der Arbeitsschutzverwaltungen der Länder bei der Umsetzung des Themas 7
2.1 Psychische Belastungen – ein Querschnittsthema für die Aufsicht 7
2.2 Fachliche und methodische Kompetenzen der Beschäftigten in der Arbeitsschutzverwaltung erweitern 8
2.3 Bereitstellung der erforderlichen Ressourcen 9
3 Grundsätze der Beratung und Überwachung 10
3.1 Handlungsfelder der Arbeitsschutzverwaltung 10
3.2 Durchführung der Betriebsbesichtigung 11
3.3 Nachbereitung, Verwaltungshandeln 13
4 Kooperationsmöglichkeiten im Rahmen der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie1 4
Anhang 1 Rahmenkonzept Qualifizierung 15
Anhang 2 Curriculum für die Qualifizierung von Aufsichtskräften zum Thema „psychische Belastungen“ 19
Anhang 3 Übersicht: Berücksichtigung psychischer Belastungen im Aufsichtshandeln 23
Anhang 4 Ablauf: Prüfung von Gefährdungsbeurteilungen im Hinblick auf angemessene Berücksichtigung psychischer Belastungen 24
Anhang 5 Prüfliste zum Erkennen psychischer Belastungen (PEP) 25
Anhang 6 GB-Check Prozessqualität – Arbeitshilfe Interviewleitfaden zur Bewertung des Prozesses der Gefährdungsbeurteilung 26
Anhang 7 GB-Check Inhalt – Überprüfung der Gefährdungsbeurteilung „psychische Belastungen“ auf inhaltliche Plausibilität und angemessene Umsetzung 29

S. 4:

… Denn trotz vielfältiger Aktivitäten ist es auch für die Aufsichtsbeamtinnen und –beamten der Arbeitsschutzbehörden noch nicht selbstverständlich, bei der Bewertung betrieblicher Gefährdungsbeurteilungen auch psychische Faktoren zu berücksichtigen. Diese werden nicht selten als „Extra“ betrachtet, auf die eingegangen werden kann, wenn alle anderen Arbeitsschutzaspekte erledigt wurden. Eine solche Prioritätensetzung erfolgt oft mit dem Hinweis, dass gezieltes Aufsichtshandeln zur Reduktion psychischer Belastungen nur sehr eingeschränkt möglich sei, da der Rückgriff auf Normen und Sanktionen schwierig ist. Demzufolge beschränkt sich die staatliche Aufsicht in der Regel auf reines Beratungshandeln.
Diese Sichtweise geht am zentralen Ziel des Arbeitsschutzgesetzes vorbei, das eine umfassende Prävention von gesundheitlichen Risiken einfordert. Hier müssen staatliche Arbeitsschutzbehörden den Erfordernissen moderner Arbeitswelten nachkommen und ihrer institutionellen Schutzfunktion gerecht werden. Der Fokus des Aufsichtshandelns ist dabei auf Tätigkeiten zu legen, in denen in besonderem Ausmaß mit gesundheitlichen Folgen psychischer Belastungen zu rechnen ist. …

S. 28:

Die Gefährdungsbeurteilung ist nicht angemessen – lt. Leitlinie so zu bewerten wenn:

  • Gefährdungssituation unzutreffend bewertet
  • wesentliche Arbeitplätze/Tätigkeiten nicht ermittelt
  • wesentliche Arbeitplätze/Tätigkeiten nicht beurteilt
  • besondere Personengruppen nicht berücksichtigt
  • keine Wirksamkeitskontrolle
  • Beurteilung nicht aktuell
  • Dokumentation nicht plausibel

 


Links innerhalb dieses Blogs:
  • Begehungen durch Arbeitsschutzfachleute und den Betriebsrat
  • Grundsätze der behördlichen Systemkontrolle
  • Zielvereinbarungen mit Unternehmen
  • Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie
  • Arbeitsschutzorganisation ist Pflicht

    Fallbeispiel: Fehlbelastung eines Betriebsratsmitgliedes

    Erna Hartnack ist eine von 23 nicht-freigestellten Mitgliedern im Betriebsrat der Soap&Hope AG. Etwa 45% ihrer Arbeitszeit verwendet sie für Betriebsratsarbeit. In ihrer Fachabteilung arbeitet die Ingenieurin als Entwickerin für Schlöpschürbel. Dafür bleiben 55% ihrer Arbeitszeit. Leider gehen aber 100% ihrer Arbeitszeit auf die Kostenstelle für die Schlöpschürbel-Entwicklung. Die Kostenstelle wird also mit Betriebsratsarbeit belastet, mit der andere Abteilungen nicht belastet werden. Durch Ernas Betriebsratsarbeit leidet daher die dargestellte Effizienz ihrer Abteilung. Der Leistungsdruck im Team von Erna steigt.
    Diese Situation ist nirgendwo offiziell dokumentiert. Erna hat noch zwei Kollegen im Team, die darum Teile der Schlöpschürbel-Entwicklung übernehmen müssen. Die Belastung des Teams, dem etwa ein Sechstel seiner offiziell budgetierten Personalkapazität fehlt, ist also höher, als die offiziell dokumentierten Belastung. Daraus ergibt sich bereits ein Anlass, das Risiko einer Gefährdung beurteilen zu müssen.
    Außerdem steht Erna selbst unter Druck, weil sie ihren Kollegen nicht schaden will. Sie leidet unter dem nicht notwendigen Konflikt.
    Eine weitere Benachteiligung Ernas zeigte sich, als sie sich betriebsintern auf eine Stelle als Konzept-Ingenieurin für Bandsnatsche bewerben wollte. Ihr potentiell neuer Vorgesetzter hätte sie gerne eingestellt, aber inoffiziell nur unter der Bedingung, dass Erna ihm verspricht, ihre Betriebsratsarbeit auf 20% zu reduzieren. Sonst würde sie einfach zu teuer für die Abteilung.
    Einige der anderen nicht-freigestellten Betriebsratsmitglieder haben ähnliche Probleme. Auch der Schwerbehindertenvertreter ist von diesem Problem betroffen.
    Was soll Erna machen? Was soll der Betriebsrat machen? Wie lösen Sie das Problem der Kontierung der Betriebsratsarbeitszeiten von nicht-freigestellten BR-Mitgliedern in Ihrem Betrieb?
     


    Unternehmer klagen oft, dass sie für psychische Belastungen verantwortlich gemacht würden, die außerhalb ihres Einflussbereiches lägen. Auch seien sie nicht verantwortlich für die individuellen “psychischen Probleme” von Arbeitnehmern. Selbst Arbeitnehmer fangen in der Regel mit Hinweisen auf “persönliche Schwächen” und “individuelle Unterschiede” an, wenn ” psychische Belastungen” zur Sprache kommen. Der hier vorgestellte Fall ist nun aber ein Beispiel für eine eindeutig von den Arbeitsbedingungen ausgehende psychische Fehlbelastung. Das Beispiel macht auch deutlich, warum im Arbeitsschutz die Beurteilung von Arbeitsplätzen sinnvoller ist, als die Beurteilung der individuellen Psyche einzelner Mitarbeiter. (Die Namen im Beispiel sind frei erfunden. Das Beispiel beschreibt in anonymisierter Weise einen konkreten Fall in einem Unternehmen, das in einem deutschsprachigen Land in Europa angesiedelt ist.)