Beachtliche europäische Erkenntnisse

http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/a11/anhoerungen/2013/134_Sitzung_psych_Belastung/Wortpro_134_Sitzung.pdf

Deutscher Bundestag
17. Wahlperiode
752 – 2401
Protokoll 17/134
Öffentliche Anhörung
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Wortprotokoll
134. Sitzung

[…] Abgeordnete Kramme (SPD): Meine Frage geht an Herrn Professor Kohte. Welche arbeitsschutzrechtlichen Konsequenzen ergeben sich aus europäischer Sicht? Wie lassen sich deren Ergebnisse und Entwicklungen zusammenfassen? Sind nach Ihrer Auffassung die Vorschläge der SPD-Bundestagsfraktion geeignet, nationale Verbesserungen im Arbeits- und Gesundheitsschutz herbeizuführen?
Sachverständiger Prof. Dr. Kohte: Vielen Dank für diese Frage. Auf der europäischen Ebene ist seit 1989 klar, dass psychische Belastungen und nicht nur psychische Gesundheit ein Thema des verpflichtenden staatlichen Arbeitsschutzes sind. Wir haben das bei uns ganz versteckt in der Maschinenverordnung 1992 übernommen, aber im Arbeitsschutzgesetz ist dieser Passus der Verschlankung im Jahre 1996 zum Opfer gefallen. Schlankheit ist für Gesetze ein schlechtes Programm. Ich war bei der Anhörung 1994 dabei, da waren wir uns eigentlich alle über den ganzheitlichen Arbeitsschutz einig. Diese Verschlankung hatte andere sachwidrige Gründe. Auf der europäischen Ebene hat man 2004 eine Sozialpartnervereinbarung – also Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften – zu arbeitsbedingtem Stress getroffen.
Ein wesentlicher Punkt war, dass Stress auch ein Thema des Arbeitsschutzes ist. Er ist natürlich nicht nur ein Thema des Arbeitsschutzes – aber auch. Wenn Sie jetzt hier persönliche Belastungen nehmen, selbstverständlich haben heute viele Menschen persönliche Belastungen durch Lärm am Wochenende. Das ist für uns überhaupt kein Argument, dass wir im Betrieb nicht das, was wir dort an Lärmbelastungen haben, verringern. Die meisten Menschen von uns leben in verschiedenen Welten. Es geht jetzt heute um die betriebliche Welt.
Auf der Basis dieser Sozialpartnervereinbarung haben sich auf der europäischen Ebene folgende Konsequenzen ergeben: Die europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheit hat im Jahre 2005 bei der Arbeit in Bilbao ein breites Forschungsprogramm aufgelegt. Daran könnten wir uns sehr viel stärker beteiligen. Das fehlt im Antrag 17/13088. So sehr ich Forschungsförderung begrüße, es gibt schon beachtliche europäische Erkenntnisse, einige Mittel könnte man bei uns einfach zur Übersetzung einsetzen. Ansonsten könnten wir diese Kenntnisse für uns besser nutzen und unsere Fähigkeiten, auch die der BAuA, dort besser einbringen.
In der Mehrzahl der Mitgliedstaaten der Europäischen Union hat diese Vereinbarung dazu geführt, dass nicht nur die Verbände, sondern auch die jeweiligen politischen Akteure das Rechtssystem präzisiert haben, und zwar in aller Regel auf den drei Ebenen des allgemeinen Gesetzes, der konkreten Verordnung – ich nehme hier die deutschen Kategorien – und zusätzlicher Praxisrichtlinien. Wir haben einige Länder, in denen das ganz hervorragend ausformuliert worden ist, zum Beispiel in den skandinavischen Staaten. Als dann die Kommission nach fünf Jahren Bilanz zog, stellte sie fest, dass diejenigen, die schon gute Ansätze hatten, diese wesentlich verbessert hatten, und dass Deutschland zusammen mit Bulgarien und der Tschechischen Republik im hinteren Mittelfeld hinter Platz 20 von 27 Beteiligten landete. Eine neue Untersuchung hat das noch einmal bestätigt.
Ich habe das Glück, dass nach meiner Stellungnahme am 9. Mai 2013 eine aktuelle ausführliche Veröffentlichung der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheit publiziert worden ist. Dort ist u. a. die Frage untersucht worden, wird der strukturierte Umgang mit dem Stress auf der betrieblichen Ebene verbessert? Da liegt Deutschland wieder hinter Platz 20 und die deutschen Beschäftigten liegen nur mit ihren Wünschen ziemlich weit vorne. Das heißt also, all das, was wir hier diskutiert haben, ist auf der europäischen Ebene bereits analysiert und festgestellt worden. Deswegen muss man daraus Konsequenzen ziehen. Der Antrag 17/12818 stellt zu Recht eine Verordnung in den Vordergrund. So gut es auch ist, dass die Bedeutung des Psychischen im Gesetz klargestellt wird – ich begrüße das auch, – aber das reicht für die Praxis nicht.
Herr Panter hat zu Recht darauf hingewiesen, dass in Deutschland, kooperative Ausschüsse Praxisrichtlinien erstellen. Diese Ausschüsse sind aber keine spontanen Gruppen, die irgendwann zusammen kommen, sondern bei uns in Deutschland ist ein solches Verfahren rechtlich geordnet. In einer Verordnung wird geregelt, wer in einem solchen Ausschuss sitzt und wie dieser Ausschuss sich die Themen wählt. Das Thema der psychischen Belastungen befindet sich im Moment für die Ausschüsse im Niemandsland. Es ist nicht in erster Linie ein arbeitsmedizinisches Thema. Der Ausschuss für Arbeitsmedizin kann nicht das Problem ständiger Erreichbarkeit, akzeptabler E-Mail-Organisation und Ähnliches bearbeiten. Das geht nur, wenn wir eine Verordnung haben, die für einen neuen Ausschuss einen Rahmen schafft.
Als Letztes zur Rolle der Vorgesetzten: In dem Beschluss des Bundesrates, der mit beachtlicher Mehrheit letzte Woche eine solche Verordnung beschlossen hat, sind in § 5 Absatz 3 dort genau solche verpflichtenden Fortbildungsprogramme für Vorgesetzte enthalten, so dass es auch insoweit kein Rätsel ist, was man machen muss. Die Arbeitswissenschaft hat uns auch im europäischen Kontext viele Erkenntnisse vermittelt – man muss diese jetzt nur umsetzen. […]